piwik no script img

30 Jahre Einheit in OstfrieslandEin Hotspot namens Jheringsfehn

Im Mai infizierten sich in der Gaststätte „Alte Scheune“ über 30 Leute mit Sars-CoV-2. Seitdem ist das ostfriesische Dorf Jheringsfehn berühmt.

Es begann mit einem Kratzen im Hals Foto: Illustration Michael Szyszka

Wer bei „unendlichen Weiten“ an den Weltraum und das Raumschiff Enterprise denkt, war noch nie in Ostfriesland. Zwar gibt es im Nordwesten Deutschlands keine unerforschten Planeten, dafür krachte im vergangenen Jahr aber ein kleiner Asteroid in die Nordsee.

Und so manch einer würde die Einheimischen wohl als Aliens bezeichnen. Weite gibt’s in Ostfriesland zur Genüge, durchbrochen nur von ein paar Kleinstädten, zahlreichen Windkraftanlagen und vielen Dörfern. Eines dieser Dörfer ist Jheringsfehn – so unbekannt, dass es oft falsch geschrieben wird.

Das beschauliche Örtchen liegt im Norden des Landkreises Leer und hat um die 2.500 Einwohner. Liest man in der Zeitung etwas über Jheringsfehn, geht’s meistens um den örtlichen Sportverein, der sich mit zwei anderen zusammengetan hat und in der Ostfrieslandliga kickt. Jüngst wurde auch über eine Schwanenfamilie berichtet, die sich an einer viel befahrenen Straße niedergelassen hat – und deren Oberhaupt sich schon mal plötzlich vor Autos wirft, um den Nachwuchs zu verteidigen.

Vor ein paar Jahren jedoch gab es in der Siedlung für kurze Zeit zumindest ein wenig Glamour: Lui­sa Hartema, damals 17, aus Jheringsfehn gewann 2012 „Germany’s Next Topmodel“. Die Schülerin durfte sich sogar ins Goldene Buch der Gemeinde eintragen. Deutschlandweit berichteten die Medien.

Fragebogen Daniel Noglik

Die Person:Daniel Noglik, 27 Jahre

Job:Reporter in der Zentralredaktion

Zeitung:Ostfriesen-Zeitung

Erscheinungsort:Ostfriesland, in den Landkreisen Leer, Aurich und Wittmund sowie der Stadt Emden

Auflage:Rund 31.000 Exemplare

Der größte Coup Ihrer Zeitung:Die Umstellung vom Termin- zum Themen-Journalismus: Unsere Recherchen bestimmen den Inhalt der Zeitung, nicht die von Unternehmen oder Politikern angesetzten Pressekonferenzen.

Region:Ostfriesland steht für einen direkten Umgang miteinander, für den besten Tee der Welt, die raue Nordsee, die weniger rauen Schafe und für ein „Moin“ zu jeder Tageszeit.

Wohin fahren die Menschen, wenn sie etwas erleben wollen?Die Klassiker sind die Inseln und die Küstenbadeorte wie Norden und Neuharlingersiel – dort gibt’s das Meer, den Strand, das Watt und schöne Promenaden. Wer mit dem Rad Ostfriesland erkunden möchte, kann in den Fehngebieten herrlich an den kleinen Kanälen entlangstrampeln.

Autokennzeichen:

LER, AUR, WTM, EMD

„Denk ich an Deutschland im Jahr 2020, dann …“

… wird mir bewusst, dass es in Zeiten wie der aktuellen keinen Unterschied macht, ob man in Hankensbüttel, Aurich, Kassel oder Flensburg lebt – wir alle kämpfen gerade mit den gleichen Ängsten. Und wir alle müssen an einem Strang ziehen, damit diese Krise mit so wenigen Opfern wie möglich vorübergeht.

Fast acht Jahre später, im Frühjahr 2020, geriet das aus genauso vielen Kanälen wie Straßen bestehende Dorf wieder in die Schlagzeilen. Nur war diesmal kein Autogramme schreibendes Model der Grund dafür, sondern ein tödliches Virus. Am 15. Mai hatten sich in der Gaststätte „Alte Scheune“ mehr als 30 von 50 Gästen mit Corona infiziert, zwei der Infizierten starben später.

Dabei hatte doch eigentlich alles so gut ausgesehen in der Region. Klar, ganz verschont blieb man auch hier nicht von der Corona-Pandemie. Doch nach den deutschlandweit rasanten Anstiegen im März und April stagnierten die Zahlen in Ostfriesland im Mai. Mitte des Monats waren gerade mal elf Personen gleichzeitig infiziert. Außerdem gab es gute Nachrichten aus Hannover: Die niedersächsische Landesregierung erlaubte ein paar touristische Angebote – und sogar Restaurants durften wieder öffnen.

Nun muss man wissen, dass Jheringsfehn nicht für überschwängliche Partys bekannt ist. Tatsächlich ist die „Alte Scheune“ das einzige Restaurant im Ort. Die Gaststätte befindet sich in einem hübschen, langgezogenen Klinkerbau mit weißen Fenstern, hellroten Dachziegeln und einem kleinen Biergarten nebenan. Bis das Restaurant Karfreitag 2019 geschlossen wurde, war es für gutbürgerliche Küche bekannt.

Ein neuer Wirt wollte die „Alte Scheune“ Mitte Mai wiederbeleben: Arendt Kampen hatte in den Neunzigern seine Kochlehre in dem Restaurant gemacht und wollte, so sagte er kurz vor der Eröffnung, wieder einige Gerichte anbieten, die schon damals auf der Karte gestanden hatten: Fleisch, Fisch, Hausmannskost. „Omas Rinderroulade“ mit brauner Sauce, zum Beispiel. Oder die „Alte Scheune Fischpfanne“ mit Barsch, Wels, Scholle und Lachs.

Die Jheringsfehner freuten sich, dass es im Ort endlich wieder ein Res­taurant geben sollte, ein paar Unternehmer freuten sich auf Aufträge für Instandsetzung und Umbauarbeiten. Am allermeisten freute sich offenbar Kampen selbst, denn er lud Familienmitglieder, Freunde und besagte Unternehmer zum Wiedereröffnungsabend ein. Das neu zusammengewürfelte ­Personal sollte sich aufeinander einspielen, und die Gäste sollten eine gute Zeit haben. Unter den 50 Eröffnungsgästen war auch eine bekannte Arzt­familie aus der etwa zwanzig Autominuten entfernten Kreisstadt Leer. Die Familie ist Pächter des Restaurants.

Der neue Wirt, der von seinen ­Freunden Didi – Arendt Kampens zweiter Vorname ist Diedrich – genannt wird, hatte an alles gedacht: Die Gäste konnten à la carte ihr Lieblingsessen auswählen, eine Sängerin sorgte für die musikalische Untermalung des Eröffnungsabends, der ganz sicher ein gemütlicher war.

Die „Alte Scheune“ ist rustikal eingerichtet: Dunkle Holzmöbel, rot gepolstert, graue Auslegeware, Vier-Personen-Nischen zum ­Sitzen und ein Klinker-Kamin vermitteln den Charme eines gutbürger­lichen ostfriesischen Landgasthofs. Die Gerichte kommen noch zischend auf kleinen Pfannen aus der Küche. Eine gute Ausgangslage also für ein ordentliches Stück Fleisch, ein paar Bier und vielleicht einen Korn als Absacker – willkommen in Ostfriesland.

Es hätte ein schöner Abend werden können, die „Alte Scheune“ wäre endlich zurück gewesen auf der kulinarischen Landkarte der Gegend. Stattdessen wurde das Lokal bundesweit bekannt, in einem Atemzug genannt mit einer Baptistengemeinde in Frankfurt am Main. Beide Orte wurden zu den ersten Coronahotspots, nachdem die strengen Maßnahmen zum Schutz vor dem Virus gelockert worden waren. Wer die Medien verfolgte, malte sich aus, wie 50 Ostfriesen bei jeder Menge Korn feierten, zu eng tanzten und munter das Virus untereinander verbreiteten.

Hausmannskost sollte wieder auf der Speisekarte stehen, so wie früher

Für die, die am Abend dabei waren, kündigte sich das Unheil zunächst mit einem leichten Kratzen im Hals an, dann fühlten sie sich schlapp, gingen zum Arzt, wurden getestet und bekamen bald die Bestätigung: Corona, positiv. Die Nachricht machte im Landkreis Leer schnell die Runde, Fernsehteams kamen ins beschauliche Jheringsfehn. Die Menschen am Ort brachte das alles nicht wirklich aus der Ruhe. Am Eröffnungsabend war das Lokal schließlich nur für geladene Gäste geöffnet gewesen. Mit denen hatte man ja nichts zu tun.

taz am wochenende

30 Jahre neues Deutschland: Was ist das heute für ein Land? Lokalredakteur*innen aus dem Norden, Süden, Osten und Westen erzählen ihre wichtigsten Geschichten – in der taz am Wochenende vom 02. Oktober. Aus Brandenburg berichtet Judith Melzer-Voigt über den Wandel einer ostdeutschen Kleinstadt vom grauen Einerlei zu Bunt. Aus Baden-Württemberg berichtet Peter Schwarz über den Amoklauf von Winnenden und Corona-Leugner. Aus Niedersachsen berichtet Kathi Flau über ein gutes Rezept gegen Identitätsprobleme. Aus Sachsen berichtet Josa Mania-Schlegel über bürgerliche Sympathien für die Hausbesetzer von Connewitz – und, und, und... Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Für Landrat Matthias Groote schien die Sache schnell klar gewesen zu sein. In einem Video ist er wenige Tage nach dem Ausbruch zu sehen. Mit ernster Miene steht er vor dem Kreishaus und sagt: „Man hat sich nicht an die Corona-Kontaktbeschränkungen gehalten.“ In einem anderen Interview sprach er von Zeugen, die dem Landkreis entsprechende Indizien übermittelt hätten. Der Wirt beteuerte indes, jeder habe sich an alle Abstands- und Hygieneregeln gehalten. Wer recht hat, wissen wir auch heute, gute vier Monate nach dem Ausbruch, nicht. Die Staatsanwaltschaft aus dem Nachbarlandkreis Aurich ermittelt gegen unbekannt. Die Leeraner Polizei wurde angewiesen, jeden zu befragen, der am Eröffnungsabend in der „Alten Scheune“ war. Die Veranstaltung soll möglichst genau rekonstruiert werden.

Der Ermittlungsaufwand ist mit dem enormen Ausmaß des Ausbruchs zu erklären: Nach der Eröffnung kamen mehr als 200 Personen in Isolation, darunter auch Teile der Chefetage und des Betriebsrats der nahe gelegenen Meyer Werft im emsländischen Papenburg. Eine Mitarbeiterin war in der „Alten Scheune“ gewesen und hatte Kollegen auf der Werft angesteckt. Schließlich starben ein 73- und ein 74-jähriger Mann an den Folgen der Infektion.

Vor allem in den sozialen Medien diskutierten Ostfriesen und Nicht-Ostfriesen das Thema „Alte Scheune“: Einige sagten, die Restaurants hätten es in der Krise ohnehin schon schwer genug, man solle den Wirt in Ruhe lassen. Andere meinten, dass jeder für seine Ansteckung selbst verantwortlich sei. Schließlich sei niemand gezwungen worden, den Eröffnungsabend zu besuchen. Wieder andere erklärten, dass es grundsätzlich verantwortungslos sei, in der Pandemie ein Restaurant zu öffnen.

Kurz nach dem Ausbruch hatte Christian Drosten, der Leiter der Virologie an der Berliner Charité, gesagt, dass Massenausbrüche „eher übers Aerosol“ stattfänden. Demnach könne eine Infektion über die Raumluft erfolgen. Sollte das im Fall Jheringsfehn zutreffen, könnten dafür weder dem Wirt noch den Gästen Vorwürfe gemacht werden – denn Vorgaben, wie gut die Räume belüftet werden müssen, gab es nicht.

Die „Alte Scheune“ jedenfalls machte gut einen Monat nach dem Drama wieder auf – erst den angegliederten Imbiss, dann das Restaurant selbst. Ruhe kehrte allerdings nicht ein, denn die „Alte Scheune“ wurde die coronabedingte Aufmerksamkeit nicht los – und es kam etwas an die Öffentlichkeit, das möglicherweise im Dunkeln geblieben wäre, wäre das Restaurant nicht sowieso schon in den Schlagzeilen gewesen: Arendt „Didi“ Kampen hätte den Laden niemals öffnen dürfen.

Wer in Niedersachsen einen Gastronomiebetrieb aufmachen möchte, muss vorher von der Gemeinde durchleuchtet werden. Dazu gehört auch die Prüfung des polizeilichen Führungszeugnisses. Vorausgesetzt, alle Unterlagen sind in Ordnung, darf man frühestens vier Wochen später Gäste und Kunden empfangen. Dem neuen Wirt der „Alten Scheune“ erließ die zuständige Gemeinde Moormerland diese Frist – allerdings unter Vorbehalt.

Als das Führungszeugnis dann doch noch abgefragt wurde, war es nicht so, wie es hätte sein müssen. Dem Zeugnis zufolge sprach einiges dagegen, dass Arendt Kampen Betreiber eines Restaurants wird.

Den Konsequenzen der Gemeinde kam Kampen zuvor und übergab sein Restaurant einer frisch gegründeten Gesellschaft, der Alte Scheune Gastronomie GmbH. Alleinige Gesellschafterin und Geschäftsführerin ist eine enge Vertraute von Arendt Kampen. Er selbst ist offiziell, so sagt es der Anwalt der GmbH, nur als angestellter Koch beschäftigt. Ob das wirklich seine einzige Funktion dort ist, wissen wir nicht.

Eines ist aber klar: Sollten die Behörden beweisen können, dass er inoffiziell noch immer die Geschäfte führt, wäre die „Alte Scheune“ schon bald wieder dicht. Und was würde das für die Jheringsfehner bedeuten? Die müssten sich ihr Essen wieder woanders besorgen – möglicherweise bei einem Imbiss ein paar Straßen weiter. Der Name jedenfalls passt zu dieser Geschichte: „Esskapaden“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare