25 Jahre Pogrom von Lichtenhagen: „Wir müssen reden“
Mai-Phuong Kollath will Betroffenen des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen eine Stimme geben. Der Brandanschlag hat ihr Leben verändert.
Zunächst glaubte Mai-Phuong Kollath, ihre ehemaligen Mitbewohner seien abgeschoben worden, denn von ihnen fehlte jede Spur. „Als der dunkle Qualm über dem Gebäude aufging und Hubschrauber in der Luft schwirrten, hatte ich mich an den Krieg in Vietnam erinnert gefühlt, wo wir uns im Bunker verstecken mussten“, erzählt sie. „Ich hatte mir bis dahin nicht vorstellen können, dass Deutsche zu so etwas fähig sind.“ Und sie zweifelte daran, dass sie in diesem Land eine Zukunft haben könnte.
Mai-Phuong Kollath war 1981 als eine der 60.000 vietnamesischen VertragsarbeiterInnen in die DDR gekommen. Mit 18 Jahren verschlug es sie nach Rostock hoch im Norden, wo sie als Küchenhilfe in einer Großküche für Hafenarbeiter schuftete und im betriebsinternen Wohnheim, im „Sonnenblumenhaus“ lebte. Wie alle vietnamesischen VertragsarbeiterInnen, musste sie einen Teil ihres Lohns zwangsweise an ihr Heimatland abführen. Vor allem Kernseife und Zucker schickte sie ihrer Familie. „Davon müsste es in Vietnam heute noch Vorräte geben“, scherzt die 54-Jährige.
Gegen den Willen ihrer Eltern heiratete sie 1987 einen Deutschen, mit dem sie ein Jahr später eine Tochter bekam. Die Schwangerschaft verheimlichte sie, weil sie sonst abgeschoben worden wäre, bis zum siebten Monat. „Erst als ich wusste, dass sie mich nicht mehr ins Flugzeug stecken können, habe ich mich offenbart.“
Sehr viele Vertragsarbeiterinnen trieben damals ab, wenn sie schwanger wurden. Sie durfte mit ihrem Baby bleiben, musste aber eine Strafe von 8.060 DDR-Mark an den vietnamesischen Staat zahlen – wegen „Vertragsbruchs“. Von der Legende, die DDR sei eine kinderfreundliche Gesellschaft gewesen, hält Mai-Phuong Kollath nichts. Für sie galt das nicht.
Sündenbock für Versorgungsengpässe
Alltagsrassismus gab es auch in der DDR. „Die Fidschis kaufen uns alles weg“, hieß es, wenn sie sich in der Schlange vor dem Konsum einreihte. „Die DDR-Führung ließ es zu, dass wir zum Sündenbock für die Versorgungsengpässe gemacht wurden“, sagt Kollath rückblickend. Nach dem Mauerfall kündigten viele die verordnete Völkerfreundschaft auf und manche witterten die Gelegenheit, ihren angestauten Aggressionen Luft zu machen. Das Wort von der „Zigarettenmafia“ machte die Runde machte.
Kollath arbeitet nach dem Mauerfall in einer Kindertagesstätte und eröffnete mit ihrem Mann auf einem Campingplatz ein kleines Lokal. Dort zeigten ihr glatzköpfige Gäste im August 1992 den Hitlergruß. Als einige der wenigen Rostocker Vietnamesen wohnte Kollath damals schon nicht mehr im „Sonnenblumenhaus“, als es im August 1992 brannte. So blieb ihr die dramatische Flucht über das Dach erspart, mit der die rund 120 Bewohner, ein Fernsehteam und der damalige Ausländerbeauftragte der Stadt ihr Leben retteten.
Der Brandanschlag hat ihr Leben dennoch verändert. Kollath engagierte sich fortan im deutsch-vietnamesischen Verein „Dien-Hong“, dessen stellvertretende Geschäftsleiterin sie wurde. Sie studierte an der Universität Rostock Erziehungswissenschaften, bevor sie sich selbstständig machte. Heute berät sie Deutsche, die für die Entwicklungszusammenarbeit oder aus geschäftlichen Gründen nach Vietnam gehen, und bietet Trainings für Behörden an. In ihren Seminaren sitzen Kita-Erzieherinnen oder Bundespolizisten.
Mai-Phuong Kollath
Seit sieben Jahren wohnt Mai-Phuong Kollath in Berlin. „Ich bin viel freier und unabhängiger, seit ich nicht mehr in Rostock lebe und für den Verein spreche“, sagt sie. Nach Rostock fährt sie nach wie vor gern, um Freunde zu besuchen oder um im Meer zu schwimmen. „Das kann man nicht mit den Seen in und um Berlin vergleichen“, schwärmt sie.
Mit dem offiziellen Gedenken an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen tut sie sich dagegen schwer. Zwar habe sich viel getan, gibt sie zu – seit den ersten, selbst organisierten Veranstaltungen im kleinen Kreis bis zur offiziellen Gedenkfeier mit dem damaligen Bundespräsident Joachim Gauck vor fünf Jahren ist das Ereignis fest ins kollektive Gedächtnis der Republik gerückt. Doch die Stimmen derjenigen, die der rassistische Mob damals ins Visier genommen hatte, sie sind noch immer kaum vernehmbar.
„Die Opfer haben kein Gesicht“
„Rostock-Lichtenhagen ist zum Symbol geworden für Politikversagen, für Rassismus, Wendestress und die Änderung des Asylrechts“, sagt Mai-Phuong Kollath. „Man sieht auf den Fotos immer das brennende Haus. Oder die Täter. Aber nie die Opfer. Die Opfer haben kein Gesicht.“
Auch viele der Vietnamesen, die damals im brennenden Haus waren, möchten die Geschehnisse lieber verdrängen, hat sie festgestellt, oder sie schämen sich sogar dafür. Manche werfen ihr vor, zu nachtragend zu sein. „Sie vergessen, dass sie beim Abtransport in eine Sportunterkunft im Bus auf dem Boden sitzen oder liegen mussten, um nicht erkannt zu werden, und sich dort tagelang nur von Bockwurst ernährt haben.“
Stelen aus Marmor: An den 25. Jahrestag der Ausschreitungen erinnert die Hansestadt mit einer Gedenkwoche. In den kommenden Tagen sollen fünf Stelen aus Marmor in verschiedenen Stadtteilen eingeweiht werden, unter anderem vor einer Polizeiinspektion und am „Sonnenblumenhaus“. Sie tragen die Titel „Politik“, „Medien“, „Gesellschaft“, „Staatsgewalt“ und „Selbstjustiz“ und erinnern an deren Verantwortung.
Musik, Kunst und Diskussion: Statt einer großen Veranstaltung ist ein dezentrales Gedenken mit Musik, Kunst und Diskussionen geplant. Man will damit vermeiden, dass sich Lichtenhagener stigmatisiert fühlen.
Rose spricht: Bei einer Veranstaltung in der Rostocker Marienkirche wird am Dienstag auch Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats der Sinti und Roma, sprechen. Dahinter steht die Absicht, auch Vertreter jener Menschen zu Wort kommen zu lassen, die damals Opfer waren.
Eine befreundete Mutter aus Rostock, damals hochschwanger, spielt die Ereignisse heute herunter. Dabei hätte sie beinahe ihr Kind verloren, und im ganzen Nachbargebäude hätten damals nur zwei Familien den Flüchtenden die Tür geöffnet, um ihnen Schutz zu bieten, sagt Kollath. „Ein anderer Landsmann von mir, der vor einem Jahr verstorben ist, sagte mir: Ich habe als Soldat in der Armee gekämpft. Ich wusste, das sind Halbstarke. Aber ich hatte Angst, jemanden töten zu müssen“, berichtet Kollath. „Man verdrängt so etwas gerne.“
Das entspreche auch dem vietnamesischen Selbstverständnis: „Wir erheben unsere Stimme nicht, wir sind höflich und halten uns zurück und lächeln sogar Beleidigungen weg.“ Bei vielen Deutschen sind Vietnamesen deshalb beliebt und gelten manchen heute als Vorzeigemigranten.
„Ich muss immer lachen wenn jemand sagt, wir seien so gut integriert“, sagt Kollath. „Das haben wir uns alles erkämpft. Erst 1997 hätten die ehemaligen VertragsarbeiterInnen eine unbefristete Arbeitserlaubnis erhalten. „Das hat es ihnen ermöglicht, ihre Familien nachzuholen, Kinder zu bekommen und Wurzeln zu schlagen.“ Nun steckten viele Vietnamesen alles in ihre Kinder, politisch aber blieben sie stumm. „Das ist der Preis dieser Unsichtbarkeit: Wir sind kaum in öffentlichen Debatten vertreten“, sagt Kollath. Sie will das ändern. „Wir müssen reden“, sagt sie.
Folgenschwerer Irrtum
1992 glaubten die meisten Vietnamesen in Rostock, dass sich die Wut der Anwohner und die Agitation der Rechtsradikalen nicht gegen sie selbst, sondern „nur“ gegen die Flüchtlinge aus Rumänien und Bulgarien richten würde, die vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber campierten, die damals ebenfalls im Sonnenblumenhaus“ untergebracht worden war. Auch die Polizei glaubte das, weshalb sie ihre Beamten abzog, nachdem das Asylbewerberheim evakuiert und die Aufnahmestelle geräumt worden war. Doch das war ein folgenschwerer Irrtum.
Rostock-Lichtenhagen 1992
Kollaths Ziel ist, die Betroffenen von damals, von denen nicht wenige inzwischen wieder in Vietnam und nur ein Teil noch in Rostock leben, nach den Ereignissen von damals zu befragen. Sie will den ehemaligen Bewohnern des „Sonneblumenhauses“ und deren Kindern eine Stimme geben und ihre Erfahrungen dokumentieren.
Im Mai war Mai-Puong Kollath beim „NSU-Tribunal“ in Köln. „Die persönliche Erfahrung mit Rassismus verbindet“, sagt sie. In Köln gab es eine Ausstellung und eine Videoinstallation in mehreren Sprachen, in der Hinterbliebene, Betroffene und Experten zu Wort kamen. Mehrere Schulen setzen diese Videodokumentation als Arbeitsmittel ein. So etwas schwebt Kollath auch mit Blick auf die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen vor 25 Jahren vor. „Das wäre ein lohnendes Projekt“, sagt sie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen