25 Jahre „Perlentaucher“: Wer uns „rechts“ nennt, kann selbst nicht links sein
„Perlentaucher“-Gründer Thierry Chervel über die 25-jährige Geschichte der Onlineplattform für Kultur und Literatur und wie man online besteht.
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taz: Thierry Chervel, vor 25 Jahren ging der erste „Perlentaucher“ online. Was hat euch zur Gründung dieses Online-Nachrichtendienstes bewegt?
Thierry Chervel: Das Internet war damals eine Medienrevolution, nur vergleichbar mit der Erfindung des Buchdrucks. Das neue Medium machte es möglich, uns selbstständig zu machen. Auf Papier wäre das nicht gegangen.
taz: Hat sich die kultur- und debattenorientierte Öffentlichkeit im letzten Vierteljahrhundert verändert?
Chervel: Jeder hat es ja mitbekommen. Es war nicht eine Revolution, sondern – wie russische Puppen – enthält sie mehrere Revolutionen: Erst das World Wide Web, dann Google, dann die sozialen Medien, dann die künstliche Intelligenz. Die traditionellen Träger der Öffentlichkeit – Zeitungen und Öffentlich-Rechtliche – sind zwar noch da, aber relativiert. Ich war damals optimistisch. Nun muss man sich angesichts von Figuren wie Elon Musk fragen, ob nicht die Pessimisten recht hatten. Und trotz oder wegen des Overkills an Informationen sind wir in eine Situation geschlittert, in der man nicht mehr weiß, was wahr und was falsch ist, wo links und rechts ist, und wo Krieg wieder plausibel wird.
taz: Ihr habt viele Debatten angestoßen – zu Islamismus, Historikerstreits, Antisemitismus. Wird es euch gelohnt, etwa in Form von wachsenden Zugriffszahlen?
Chervel: In gewissem Maß ist der Perlentaucher, was Debatten angeht, ein Insiderphänomen geblieben. Wir haben vieles angestoßen, in anderes eingegriffen. Sicher, unsere Nutzerzahlen sind gewachsen, aber die traditionellen Medien haben immer sehr darauf geachtet, dass wir nicht mit den Großen am Tisch sitzen. Als wir noch unseren englischsprachigen Ableger signandsight.com hatten, der von der Bundeskulturstiftung gefördert wurde, waren klassische Medien in Amerika, Britannien oder Italien viel offener als deutsche, die etwa unsere Debatte über „Islam in Europa“ nie erwähnten.
taz: Der „Perlentaucher“ gilt in gewissen Kulturkreisen als „rechts“. Ist das triftig?
Chervel: Wer uns „rechts“ nennt, kann selbst nicht links sein. Die sich heute als „links“ Lesenden beziehen ihren identitären Stolz aus moralischer Definitionsmacht. Sie sehen sich als die Wahrer bestimmter Normen oder Standards, die sie selber setzen und die es ihnen dann ermöglichen zu definieren, wer dazu gehört und wer ausgeschlossen wird. Ihre moralische Definitionsmacht ist zugleich ein Geschäftsmodell: Wer sich ihren Normen fügt und sie verficht, hat dann eine Chance auf eine Beamtenstelle im Beauftragtenwesen. Kurz: Nein, der Perlentaucher ist nicht rechts. Rechtsextremismus darf sich unseres Abscheus ebenso sicher sein wie linker Antisemitismus und religiöser Totalitarismus. Übrigens hat André Glucksmann bei uns schon im Jahr 2005 vor dem Paten des Rechtsextremismus gewarnt, Wladimir Putin.
taz: Der „Perlentaucher“ ist eine historisierbare Institution. Gibt es Pläne, ihn etwa im Literaturarchiv Marbach zu bewahren?
Chervel: Jedenfalls spiegelt der Perlentaucher die literarische Öffentlichkeit der letzten 25 Jahre wie kein anderes Medium in Deutschland. Darum haben wir eine Umfrage lanciert: „Welches sind für Sie die prägendsten Werke der deutschsprachigen Literatur seit 2000?“ Der Anfang des Jahrhunderts ist vorbei! Die wichtigsten KritikerInnen in Deutschland haben darauf geantwortet. In Literaturarchiv Marbach werden wir über das Ergebnis diskutieren.
Der Perlentaucher wurde 2000 von Thierry Chervel (ehemaliger taz-Redakteur) und Mitstreitern gegründet und ist der führende Online-Mediendienst für Kultur- und Debattenrundschauen. Er wertet deutschsprachige und internationale Medien aus, bietet Magazinübersichten sowie Literaturrezensionen.
taz: Wie kann eine finanzierbare Zukunft für euch aussehen?
Chervel: Wir bekommen aktuell keinerlei Subventionen und leben zu achtzig Prozent von Einnahmen, die wir selbst erwirtschaften, und zu zwanzig Prozent von freiwilligen Abos unserer LeserInnen. Der Perlentaucher schwimmt zwar nicht im Geld, aber zurzeit sind wir, auch dank der LeserInnenunterstützung, finanziell stabil.
taz: Ist der „Perlentaucher“ eine vorweggenommene Zukunft der (kulturellen) Medienwelt?
Chervel: Wir sind alle Eisbären im Klimawandel. Wir müssen uns anpassen, ohne uns aufzugeben. Das hat der Perlentaucher 25 Jahre lang ganz gut hingekriegt – und er hält die Nase weiter in den Wind.
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