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20 Jahre „Jungle World“So eine Zeitung

Die „Jungle World“ wird 20 Jahre alt. Unserem Autor gibt sie bis heute das Gefühl, nicht allein zu sein. Eine persönliche Würdigung.

Jungle World war und bleibt die Hoffnung einsamer Linker Foto: jungle world

Viele Jahre lang habe ich mir jeden Donnerstag die Jungle World gekauft, nicht nur, weil sie eine gute Zeitung war, aus der man Dinge erfuhr, die sonst kaum behandelt wurden, sondern vor allem, weil ich mich dann weniger allein fühlte. Es gab Linke, in denen nicht der Drang rumorte, den Zionismus und den amerikanischen Kulturimperialismus zu verdammen! Die vom Asylantenheim-Abfackeln nicht betroffen und beschämt waren, sondern Nazis und Rassisten einfach hassten! Die nie auf die hirnverbrannte Idee kamen, sich zu fragen, ob an Homöopathie, sanfter Medizin, Impfskepsis vielleicht doch etwas dran sein könnte! Die einen nicht mit Appellen traktierten, sondern Argumente vortrugen! Denen Identität nicht wichtig war!

So eine Zeitung war das, jede Woche Texte, bei deren Lektüre ich mich nicht mehr so allein fühlte wie sonst meistens, obwohl ich es objektiv betrachtet war. Ich hatte ja keine Zeit, auf andere Weise links zu sein als den Fernseher anzumuffen, ich musste Geld verdienen, mich um die Kinder kümmern, stabil bleiben, ich war völlig desinteressiert daran, zu irgendeiner Bewegung zu gehören oder auch nur mit mehr als zwei, drei Leuten in meinem Leben über Politik zu reden (was hätte das schon gebracht?).

Aber das bedeutete ja nicht, dass ich kein Linker war (was immer es hieß, ein Linker zu sein), es bedeutete bloß, dass ich mich immer wieder so allein und atomisiert fühlte, wie ich es war, und deswegen immer wieder einigermaßen depressiv. Und dagegen half die Jungle World, so wie mir sehr viel früher, als es noch Platten gegeben hatte, Platten geholfen hatten, oder später, als sie noch nicht Ich-Marketing und Authentizitätsverwertung waren, Weblogs. Stimmen, Texte, Sounds, die nicht schubsten, nicht auf einen einredeten, nichts wollten von einem, sondern einem überließen, was man mit ihnen anfing.

An dem Platz, an dem in Zeitungen sonst Leitartikel stehen, stand in der Jungle World die „Homestory“, in der nie jemand die Welt verurteilte, wozu auch, sie wird ja nicht erträglicher dadurch, dass irgendein rechtschaffener Vorturner sie für abscheulich erklärt.

Die Rubrik „Deutsches Haus“, in der Woche für Woche akribisch rassistische und neonazistische Attacken protokolliert wurden. Die Auslandsberichte, bei denen ich mich oft fragte, warum die so viele gute Informationen und Kontakte hatten (nach Mazedonien? nach Kasachstan?). Diese irre Kolumne „Berlin beatet Bestes“, in der ein Sammler jede Woche über die Platten erzählte, die er auf Flohmärkten aufgetan hatte. Ich las sie nie, aber ich fand es schön, dass es sie gab.

Stimmen, Texte, Sounds, die nicht schubsten, nicht auf einen einredeten, nichts wollten von einem, sondern einem überließen, was man mit ihnen anfing

Die Seite-zwei-Zeichnungen, in meiner liebsten saß ein Radiomoderator vor seinem Mikrofon und sagte: „Ich verlese jetzt die Namen der Personen, die mich am Arsch lecken können. Die nachfolgenden Sendungen verschieben sich um etwa dreieinhalb Tage . . .“ Die verlässliche Bevorzugung der Kritik gegenüber der „kritischen Solidarität“ und der „konstruktiven Kritik“. Das offensichtliche Desinteresse, gesellschaftlich relevante Kultur zu verhandeln, weil die gesellschaftlich irrelevante und individuell relevante Kultur interessanter waren.

Die langen Riemen im Feuilleton, der Briefwechsel Uwe Nettelbecks mit Klaus Wagenbach über eine Neuauflage der „Dolomiten“ zum Beispiel, die daran scheiterte, dass Wagenbach nicht genug löhnen wollte. Die Schnelligkeit, mit der die Jungle World auf irgendwelche lebensweltliche Mikrotrends reagieren konnte. Und so weiter.

Irgendwann hörte ich damit auf. In den Spätis in meiner Umgebung war die Jungle World immer öfter nicht mehr erhältlich, und natürlich hatte auch ich damit begonnen, lieber im Internet zu lesen, man musste dafür nicht raus und es kostete nichts, und unglücklicherweise ist es ­etwas völlig anderes, im Internet zu lesen, als sich eine Zeitung zu holen und damit hinzusetzen. Man bekommt nicht mehr wirklich mit, was die Leute, deren Arbeit man schätzt, sonst noch tun, weil es auf der Seite, die man gerade vor sich hat, links unten steht.

Der Spirit bleibt

Aber immer wieder schaue ich noch rein, lese mich fest, denke: Wie irre, dass es das noch gibt, wie kann man diesen Spirit 20 Jahre lange durchhalten, und bin dankbar dafür.

Peter Praschl

Peter Praschl ist Autor der Zeitung Die Welt und GQ-Kolumnist.

Doch nicht ganz allein auf der Welt. Ich weiß schon, dass es darauf nicht wirklich ankommt. Für mich allerdings schon.

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3 Kommentare

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  • Vielleicht, werter Peter Praschl, sind Sie ja „objektiv betrachtet“ deswegen „meistens [allein]“, weil sie es unbewusst ganz gerne bleiben wollen.

     

    Ich meine: Wichtiger, als jedes zwanglose Beisammensein, scheint es ihnen ja zu sein, für alle Zeiten recht (gehabt) zu haben. Sie legen offenbar großen Wert darauf zu lesen, was Sie selber auch geschrieben hätten. Den „Zionismus und den amerikanischen Kulturimperialismus“ soll Ihre Zeitung bitte nicht „verdammen“, „Nazis und Rassisten“ allerdings möchten Sie schon „einfach hass[]en“ dürfen. „Homöopathie, sanfter Medizin, Impfskepsis“ und sonstigen Humbuk aber möchten Sie als solchen gerne bezeichnet sehen. Kurz: Die eigene Identität ist ihnen wichtiger als jede fremde es ja sein könnte.

     

    Ich kann Sie trösten: Auch andere Menschen kennen das Gefühl, das Sie mitunter haben. „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu“, soll beispielsweise schon Ödön von Horváth geschrieben haben. Ob der wohl auch „Geld verdienen, ich um die Kinder kümmern, stabil bleiben“ musste? Ich weiß es nicht. Ist auch egal.

     

    Wichtig ist: Dass man nicht mehr „[mit] bekommt“, was Leute „sonst noch tun“, kann einem wurscht sein, wenn es gar niemanden gibt, dessen Arbeit man schätzt. Weil ausnahmslos jeder, den man je getroffen hat, sich mindestens einmal selbst disqualifiziert hat dadurch, dass er eine Meinung hatte, die man selbst nicht teilen wollte.

     

    Nun ja. Von den Sympathiebekundungen anspruchsvoller Fern-Liebhaber ist keine (Wohlfühl-)Zeitung zu machen. Aber was soll's? Wer, so wie sie, an anderen Menschen nur die eigenen Ansichten schätzt, der braucht keine Zeitung. Und wenn ihn doch mal das Gefühl beschleicht, es käme „wirklich an[]“ darauf, „nicht ganz allein“ zu sein auf dieser Welt, dann kann er ja immer noch seinem Tagebuch herausholen. Aber Vorsicht: Dass er da nicht auch auf Ansichten stößt, die ihren Vertreter disqualifizieren, kann ihm auch niemand garantieren.

  • Die Frage "was ist links" stellt sich mir beim lesen der jungle world u.ä. Blätter oft. Denn vieles was dort als wichtig und herrausragend dargestellt wird, ist es in meiner linken Vorstellung nicht.

     

    Für mich lesen sich die Artikel so wie ich es früher von der FAZ gewohnt war. Das Kapital ist alles und der Stärkere hat Recht. Aber mittlerweile ist die FAZ heute "Linker" als die jungle world.

     

    und für mich ist Stefan Laurin ein FDP'ler https://jungle.world/artikel/2016/48/kapitalistischer-werden

  • 6G
    6175 (Profil gelöscht)

    Ich erinnere mich an die Beiträge von Ivo Bozic, der 2007 nicht nur in seinem blog die Klimaerwärmung verharmloste, wenn nicht gleich als uncool leugnete, und der in jungle world gerne selbsternannte "denier" zu Wort kommen ließ, etwa Benny Peiser. Das ist dann doch eine lustige Verbindung zur ökologisch ausgerichteten taz...

     

    Und es bleibt eine unbewiesene Unterstellung, daß die meisten Linken "den amerikanischen Kulturimperialismus"(?) "verdammen". Die jungle world schrieb dazu immer sehr pauschal und verallgemeinernd.