1 Jahr nach Bruch des Kochowka-Staudamms: Ein neues Ökosystem entsteht
Als ein russischer Angriff die ukrainische Talsperre zerstörte, befürchteten viele eine ökologische Katastrophe. Was geschah dann?
Alle drei sind nahe dran. Mulenko leitet die Abteilung Umweltschutz im Naturreservat Chortyzja in Saporischschja, Kuzemko ist führende Forscherin am Institut für Botanik der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine in Kyjiw und Vasyliuk Vorstandsvorsitzender der Ukrainian Nature Conservation Group. Sie beobachten, wie sich Natur und landwirtschaftliche Nutzflächen seit dem terroristischen Angriff auf die Infrastruktur entwickelt haben.
Grundsätzlich zerstören großflächige Eingriffe in die Landschaft immer Ökosysteme. Auch der Bau des Staudamms vor rund 70 Jahren habe irreparable Schäden an Tier- und Pflanzenwelt hervorgebracht, sagen die Expert*innen. Unter Stalin mit Hilfe deutscher Kriegsgefangener errichtet, sei er damals ebenfalls ein Verbrechen an den Menschen in den Ortschaften gewesen, die im Stausee verschwanden.
Als der Damm nun gesprengt wurde und das Wasser ein riesiges Gebiet überschwemmte, seien wieder alle Tiere dort ums Leben gekommen, berichtet Vasyliuk. Auch Fische, die zunächst überlebt hatten, wurden ins Meer getrieben und verendeten dort, weil sie nicht im Salzwasser leben können. Umgekehrt wurde das Ökosystem des Schwarzen Meers durch das einströmende Süßwasser mit einer Menge toxischem Schlamm aus dem Gleichgewicht gebracht. Die gerade brütenden Vogelarten an der Küste seien empfindlich gestört worden. Auch ohne genaue Daten zu haben, könne man von einer bis dato für die Tierwelt in der Ukraine in ihren Ausmaßen nicht bekannten Katastrophe sprechen.
Das Leben findet einen Weg
Trotz alledem beobachteten die Forscher*innen „eine erstaunliche Entwicklung“: „Wir wussten im Juni 2023 nicht, wie es mit dem betroffenen Gebiet weitergehen wird“, sagte Mulenko der taz. „Wir fürchteten eine Wüstenbildung, diesen Schlamm, die vielen Pestizide.“
Michaljo Mulenko, Naturreservat Chordyzja
Doch offenbar habe die Zerstörung zumindest für die Flora in einem Zeitfenster stattgefunden, in dem sich die Natur selbst helfen konnte – kurz nach der Blütezeit und dem Pollenflug von Weiden- und Pappelbäumen. „Auf dem Stausee hatten wir viel Pappelflaum“, erklärt Mulenko. „Und als dann das Wasser den Dnipro hinunterfloss, flossen auch die Samenfasern mit.“ Diese hätten an bestimmten Stellen des früheren Stausees sehr günstige Wachstumsbedingungen vorgefunden. Inzwischen habe sich dort ein grüner Bereich mit Weiden und Pappeln gebildet.
Allen Befürchtungen zum Trotz überlebten sie auch den Winter, wachsen immer noch – und nun sei das Terrain „auch interessant für die Tierwelt“, sagt Mulenko. Hirsche und Rehe sind gekommen, die sich von den jungen Zweigen ernähren. Hier habe sich also ein neues Ökosystem mit einer funktionierenden Tierwelt entwickelt, so Mulenko.
Seine Kyjiwer Kollegin Kuzemko pflichtet ihm bei. Drei Wochen nach der Explosion habe sie das Gebiet besucht, berichtet sie der taz. Und da sei schon klar gewesen, dass man keine neue Wüste zu fürchten brauche, weil die weichen Ablagerungen mit Weidensämlingen übersät waren. Im Oktober seien die Weiden durchschnittlich zweieinhalb bis drei Meter hoch gewesen.
Ihrer Einschätzung nach ist die neue Grünfläche zwei Faktoren zu verdanken: Die Samen seien nach der Sprengung auf einen nährstoffreichen Boden gefallen, wo es schon vor dem Bau des Stausees Auenwälder gegeben hatte. Die Natur sei eben nicht vergesslich, sei klüger als der Mensch, meint sie. Zweitens sei der Zeitpunkt günstig gewesen. Wäre der Damm Ende des Sommers angegriffen worden, hätten sich vielleicht gebietsfremde Arten stärker ausgebreitet.
Andere Energiequellen stehen bereit
Vasilyuk beobachtet, wie sich das Mikroklima entwickelt. Mit dem Ende des Staudamms habe auch die Luftfeuchtigkeit in anliegenden Städten wie beispielsweise Enerhodar abgenommen, damit seien die Luft- und Wasserqualität insgesamt sogar besser geworden. Die Energie, die das Wasserkraftwerk des zerstörten Staudamms geliefert habe, ließe sich auch mit Solarenergie ersetzen, sind die drei Umweltschützer überzeugt.
Allerdings, das ist den Wissenschaftler*innen klar: Die Folgen für den Menschen sind viel schwerer abzuschätzen als die für die Natur, die eben ihren Weg finde. Welche von der Überschwemmung betroffenen Gebiete bewohnt und landwirtschaftlich wieder nutzbar gemacht werden können, sei ohne eine intensive chemische Untersuchung der Böden nicht zu sagen.
Wie soll es weitergehen? Kuzemko und Vasilyuk wollen keinen neuen Staudamm, Mulenko könnte sich nur mit einem weitaus kleineren Damm abfinden. Kuzemko verweist auf das von der EU verabschiedete Gesetz zur Erneuerung der Natur, in dem auch das Ziel verankert ist, 25.000 Kilometer Flüsse wieder in ihre natürlichen Kanäle und Überschwemmungsgebiete zurückzuführen. Nun habe die Ukraine eine Möglichkeit, sich in diese Bemühungen einzuklinken, indem sie den natürlichen Flusslauf des Dnipro wiederherstelle.
Und die wirtschaftlichen Interessen? Der Verlust des Wasserreservoirs erscheint den Umweltschützer*innen weniger dramatisch, als sie zunächst angenommen haben. Das hat auch wieder mit Veränderungen zu tun, die der Krieg gebracht hat: Ehemals landwirtschaftlich genutzte Nutzflächen sind entweder umkämpft oder vermint, sie zu bewässern, ist also überflüssig. Auch die Berechnungen zum Bedarf an Trink- und Industriewasser beruhten noch auf Zahlen aus der Zeit vor der russischen Invasion, sagt Kuzemko. Aktuell aber finden hier Kampfhandlungen statt, die meisten Bewohner*innen sind geflohen, die Industriebetriebe von den Russen vernichtet worden.
Mulenko, Kuzemko und Vasyliuk wissen, dass es schwer ist, die Entscheidung der Regierung zum Bau eines neuen Stausees zu beeinflussen. Deswegen gelte es, so Mulenko, die Investoren von einer umweltfreundlichen Lösung zu überzeugen. Doch solange dieses Gebiet von Russland kontrolliert wird, ist an die Umsetzung irgendwelcher Pläne nicht zu denken.
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