+++ Nachrichten aus Nahost +++: 93 Tote bei Essensausgaben und ein neuer Evakuierungsbefehl
Beim Versuch, Lebensmittel zu ergattern, werden erneut Dutzende getötet; israels Militär spricht von „Warnschüssen“. Derweil müssen Tausende aus Deir al-Balah fliehen.

Zivilschutz in Gaza: 93 Menschen getötet
Der Zivilschutz im Gazastreifen hat der israelischen Armee vorgeworfen, am Sonntag das Feuer auf Hilfesuchende eröffnet und mindestens 93 Menschen getötet zu haben. Allein in der Stadt Gaza seien nach der Ankunft eines Hilfskonvois 80 Menschen getötet worden, sagte Zivilschutzsprecher Mahmud Bassal. Die israelische Armee wies die Angaben zurück und kündigte zugleich eine Ausweitung ihres Einsatzes im Zentrum des Palästinensergebietes an.
Das UN-Welternährungsprogramm (WPF) teilte mit, dass sein Lebensmittel-Konvoi mit 25 Lastwagen am Sonntagmorgen nahe der Stadt Gaza „auf eine große Menge hungriger Zivilisten“ getroffen sei, „die unter Beschuss gerieten“, kurz nachdem er die Grenze zwischen Israel und dem Gazastreifen überquert hatte.
Die israelische Armee wies die Angaben des Zivilschutzes zu den Getöteten als falsch zurück und erklärte auf AFP-Anfrage, dass sich Tausende von Palästinensern nahe der Stadt Gaza versammelt hätten. Die Soldaten hätten in diesem Gebiet „Warnschüsse“ abgegeben, „um eine unmittelbare Bedrohung für sie zu beseitigen“.
Bereits am Samstag hatte Zivilschutzsprecher Bassal mitgeteilt, dass in der Nähe zweier Hilfszentren im Süden des Gazastreifens 39 Menschen durch israelischen Beschuss getötet worden seien.
Die Schüsse seien am frühen Samstagmorgen nahe den Verteilzentren der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) bei Chan Junis und Rafah abgefeuert worden, sagte Bassal, dem Israel vorwirft, ein „aktiver Terrorist“ zu sein und Falschinformationen zu verbreiten. Am Sonntag wurden in der Nähe der GHF-Einrichtung in Rafah nach Angaben Bassals 9 Menschen getötet. In Rafah habe es 4 weitere Todesopfer gegeben.
Nach UN-Angaben vom Dienstag wurden seit Ende Mai bereits mehr als 800 Menschen im Gazastreifen bei dem Versuch getötet, Lebensmittel zu beschaffen, die meisten davon nahe den GHF-Verteilzentren. (afp)
UN-Koordinator Whittall bekommt kein Visum
Der UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten in den Palästinensergebieten, Jonathan Whittall, erhält kein neues Visum in Israel. Er habe die Anweisung erteilt, Whittalls Aufenthaltserlaubnis nicht zu verlängern, erklärte der israelische Außenminister Gideon Saar am Sonntag im Onlinedienst X. Er begründete die Entscheidung mit einem „voreingenommenen und feindseligen Verhalten gegenüber Israel, das die Realität verzerrt“.
Whittall lebt in Jerusalem und beklagt bei seinen regelmäßigen Besuchen im Gazastreifen immer wieder die humanitäre Lage in dem Palästinensergebiet. Im April hatte der Südafrikaner gesagt, die Menschen im Gazastreifen würden wegen Israels Krieg gegen die radikalislamische Hamas „langsam sterben“.
Seit Beginn des durch den Hamas-Großangriff auf Israel ausgelösten Gaza-Krieges im Oktober 2023 hat Israel die Vergabe von Visa an Mitarbeiter des UN-Büros für humanitäre Angelegenheiten (Ocha), des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (UNHCHR) sowie des UN-Palästinenserhilfswerks (UNRWA) eingeschränkt. (afp)
Armeechef Zamir sieht „Potenzial“ für Abkommen
Israels Generalstabschef Ejal Zamir hält eine Waffenruhe im Gaza-Krieg und ein Abkommen zur Freilassung von Geiseln aus der Gewalt der Hamas für zunehmend möglich. „Eure Erfolge im Feld (…) lassen die Niederlage der Hamas näherrücken und erzeugen das Potenzial für einen Geisel-Deal“, sagte er nach Militärangaben bei einem Truppenbesuch im Gazastreifen.
Bei indirekten Verhandlungen in der katarischen Hauptstadt Doha ringen Israel und die islamistische Hamas seit Monaten um Kompromisse, die eine 60-tägige Waffenruhe und eine Freilassung von Geiseln ermöglichen sollen. Diplomaten aus Katar, Ägypten und den USA fungieren als Vermittler. Israelische Medien berichteten zuletzt von Fortschritten. Ein Durchbruch scheint aber noch nicht in Sicht.
Zamir sagte, die Armeeführung sei auf alle Szenarien vorbereitet. „Wir werden neue operative Formate anwenden, die unsere Stärken hervorheben, Schwachstellen reduzieren und operative Gewinne vertiefen“, sagte er – ohne diese strategischen Optionen näher auszuführen. Die Szenarien würden der politischen Führung zur Entscheidung vorgelegt, fügte er hinzu.
Nach israelischen Angaben werden noch 50 aus Israel entführte Menschen im Gazastreifen festgehalten, davon sollen mindestens 20 noch am Leben sein. Ihre Freilassung – im Gegenzug für die Entlassung palästinensischer Häftlinge aus israelischen Gefängnissen – soll den Plänen zufolge gestaffelt erfolgen. Während der zeitlich befristeten Feuerpause sollen die Konfliktparteien dann über die Beendigung des Gaza-Kriegs und die Freilassung der letzten Geiseln verhandeln. (dpa)
Iran kündigt neue Atomgespräche an
Die iranische Regierung hat einer neuen Runde von Atomgesprächen mit Deutschland, Großbritannien und Frankreich nach Angaben des iranischen Staatsfernsehen zugestimmt. „Als Reaktion auf die Forderung der europäischen Länder hat der Iran eine weitere Gesprächsrunde akzeptiert“, zitierte das iranische Staatsfernsehen am Montag den Sprecher des Außenministeriums in Teheran, Esmail Bakaei. Die Verhandlungen sollen am Freitag in der türkischen Metropole Istanbul stattfinden.
Am Sonntag hatte es aus Diplomatenkreisen geheißen, Berlin, Paris und London arbeiteten „im sogenannten E3-Format weiter mit Hochdruck an einer nachhaltigen und verifizierbaren diplomatischen Lösung für das iranische Atomprogramm“. Das Vorgehen sei mit den USA abgestimmt.
Aus den deutschen Diplomatenkreisen hieß es, der Iran dürfe niemals in den Besitz einer Atomwaffe gelangen. „Falls im Verlaufe des Sommers keine Lösung erreicht werden sollte, bleibt der Snapback eine Option für die E3.“ Der sogenannte Snapback-Mechanismus ermöglicht die Wiedereinführung der internationalen Sanktionen, die nach dem 2015 beschlossenen Atomabkommen mit dem Iran schrittweise abgebaut worden waren. Dieser Mechanismus läuft im Oktober aus, weshalb die europäischen Länder eine Einigung bis Ende August anstreben.
Frankreich, Deutschland und Großbritannien sowie die USA, Russland und China hatten im Jahr 2015 ein Atomabkommen mit dem Iran geschlossen, um das Land am Bau einer Atombombe zu hindern. Die USA stiegen allerdings 2018 während der ersten Präsidentschaft von Donald Trump einseitig aus dem Abkommen aus und verhängten danach erneut massive Sanktionen gegen den Iran.
Vor den Angriffen der israelischen und der US-Armee auf den Iran und dessen Atomanlagen im Juni hatten Washington und Teheran seit April mehrere Gespräche unter Vermittlung Omans geführt. Seit dem Ende der Kämpfe haben beide Seiten die Bereitschaft bekundet, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. (afp)
Israel schickt Hilfsgüter an Drusen in Syrien
Israel schickt einem Medienbericht zufolge dringend benötigte medizinische Hilfe für die Drusen-Gemeinschaft in der syrischen Stadt Sweida. Der Schritt sei sowohl mit der Regierung in Washington als auch der in Damaskus abgesprochen, meldet der Sender Kan. Eine Stellungnahme der israelischen Regierung oder des Militärs liegt zunächst nicht vor. Das israelische Gesundheitsministerium erklärte am Samstag, es bereite die Lieferung von medizinischer Ausrüstung und Medikamenten nach Sweida vor. (rtr)
Evakuierungsbefehl für Deir al-Balah in Zentralgaza
Die israelische Armee hat eine Ausweitung ihrer Offensive im Zentrum des Gazastreifens angekündigt. Die Armee weite ihre „Aktivitäten“ um die Stadt Deir al-Balah im Zentrum des Palästinensergebiet auf ein Gebiet aus, „wo sie bisher nicht im Einsatz war“, erklärte Militärsprecher Avichay Adraee am Sonntag im Onlinedienst X. Er rief in dem Gebiet lebende Palästinenser auf, sich an der Mittelmeerküste im weiter südlich gelegenen al-Mawasi in Sicherheit zu bringen. Tausende sind betroffen.
Seit dem Beginn des Krieges im Gazastreifen im Oktober 2023 sind die meisten der zwei Millionen Bewohnerinnen und Bewohner des Palästinensergebietes mindestens einmal vertrieben worden. Israel ruft die Bevölkerung immer wieder dazu auf, Teile des Gebiets wegen bevorstehender Angriffe zu verlassen.
Die Angehörigen der israelischen Geiseln, die weiterhin im Gazastreifen festgehalten werden, stellten sich derweil gegen eine Ausweitung der israelischen Offensive. Sie forderten die Regierung in einer Erklärung dazu auf, „den israelischen Bürgern und Familien dringend zu erklären, wie der Kampfplan aussieht und wie genau dieser die Entführten schützt, die immer noch im Gazastreifen sind“. Angehörige der Geiseln hatten sich am Samstag erneut zum Protest in Tel Aviv versammelt.
Die israelische Armee erklärte zudem, sie habe in der Nähe von Dschabalia im Norden des Gazastreifens „dutzende Terroristen“ getötet sowie „terroristische Infrastruktur“ wie zum Teil 20 Meter unter der Erde liegende Tunnel zerstört. Indes wurden nach Angaben des Hamas-Zivilschutzes bei weiteren israelischen Angriffen in der Nacht zum Sonntag sieben Menschen in der Stadt Gaza und im Süden des Gazastreifens getötet. (afp)
🐾 Gewalt in Syrien: Regierung hat Suweida nicht im Griff
In Südsyrien scheint nach einer Woche der Kämpfe mit über 900 Toten eine fragile Ruhe eingekehrt. Doch das Kernproblem bleibt ungelöst: Wer hat das Sagen – Staat oder Milizen, fragt taz-Nahost- Redakteurin Lisa Schneider.
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