Von Frankreich lernen: Büros mit Herz gesucht
In Frankreich öffnen Büros bereits ihre Türen für Wohnungslose. Könnte das auch ein Weg aus der Wohnungskrise in Deutschland sein?
Mit einem Modell aus Frankreich will die NRW-SPD der angespannte Wohnungssituation in NRW begegnen. „Bureaux du cœur“, die „Büros mit bzw. des Herz(ens)“, könnten nach Auffassung der SPD-Landtagsfraktion auch in Nordrhein-Westfalen ihre Türen nachts und am Wochenende für erwachsene Wohnungslose öffnen. Einen Antrag für ein solches Pilotprojekt haben kürzlich die Sozialdemokraten in den NRW-Landtag eingebracht.
Beim „Büro des Herzens“ vermittelt ein Verein aus dem westfranzösischen Nantes zusammen mit lokalen Partnern Wohnungslose und Obdachlose an Unternehmen aus dem mittlerweile stark angewachsenen Netzwerk. Innerhalb weniger Jahre sei die Zahl der Firmen, die mitmachten beim Projekt, von fünf auf 350 gestiegen.
Für drei bis sechs Monate bieten ausgewählte Unternehmen kostenfrei und ohne andere Gegenleistung vom Verein in ihren Büroräumen volljährigen, alleinstehenden Wohnungslosen eine temporäre Unterkunft. Dabei dürfen die Interessenten an keiner Sucht-Problematik oder anderen schweren gesundheitlichen Problemen leiden und dürfen keine Haustiere mitnehmen. Viele Menschen, die auf der Straße leben, werden somit wohl nie in den Genuss kommen, in den Büros schlafen zu dürfen.
Zudem ist das Ziel, die Menschen wieder zügig in eine feste Bleibe und in Arbeit zu bringen. Daher müssen sie an einer Eingliederungsmaßnahme teilnehmen oder eine Ausbildung beginnen. Der Verein hilft dabei; er bietet nach eigenen Angaben auch soziale Beratung, Hilfe bei der Wohnungssuche oder bei der Erstellung von Entschuldungsplänen an. Alles ist vertraglich festgehalten. Austausch gibt es auch regelmäßig zwischen den Akteure, um über den Fortschritt zu sprechen.
Gute Erfolgsquote
Sicherheit, Stabilität, Austausch und ein Mindestmaß an Privatsphäre würden durch die Unterbringung in den Büros gewährleistet werden, argumentiert die SPD. Ab und an käme es auch zu Kontakten zu den Bürobeschäftigten, wenn diese länger blieben. Das sei auch förderlich und schaffe mitunter neue Netzwerke für die Wohnungslosen. In einigen Firmen dürften die Wohnungslosen sogar Bewerbungen an den Firmen-Computern schreiben, duschen und die Küche mitbenutzen. In den seltensten Fällen komme es zu Problemen. Die wohnungslosen Mensch seien dankbar um die Chance und würden daher nicht negativ auffallen wollen.
Die Erfolgsquote sei gut, liest man auf der Webseite des Vereins. Knapp 90 Prozent der Teilnehmer hätten demnach einen Job und eine Unterkunft nach den wenigen Monaten in den Büroräumen.
In NRW ist die Wirtschaft aber noch nicht soweit, scheint es, das Modell zu adaptieren. „Aktuell sehe ich für einen solchen Vorstoß in den meisten Unternehmen wenig Möglichkeiten und viele offene rechtliche und organisatorische Fragen“, heißt es auf Anfrage vom Unternehmerverband NRW. Lokale Unternehmensverbände und die NRW-IHK wollten sich zu dem Thema erst gar nicht äußern, ergab eine kleine Umfrage.
„All diese gut gemeinten Vorschläge sind eine Ablenkung vom eigentlichen Problem“, sagt Hubert Ostendorf von der Düsseldorfer Obdachlosenhilfe fiftyfifty zu dem Model aus Frankreich. Er fordert, „normale Wohnungen für normale Menschen. Keine Provisorien – nicht in Büros, nicht über Tiny Houses, auch wenn sie gut gemeint sind.“
Geht es jedoch nach der SPD, sollen die „Büro des Herzens“ zusammen mit anderen Maßnahmen wie mehr Sozialwohnungen, mehr Frauenhausplätze und einen besseren Mieterschutz die grassierende Wohnungskrise in NRW zumindest mildern.
Immer mehr Wohnungslose in NRW
Rund 120.000 Menschen an Rhein und Ruhr waren im vergangenen Jahr wohnungslos gemeldet – ein Anstieg um 12,5 Prozent zu 2023. Zugleich ist der SPD zufolge der Bestand an mietpreisgebundenen Wohnungen seit Jahren kontinuierlich gesunken. Jeweils nur gut 6700 neue geförderte Wohnungen seien in den beiden zurückliegenden Jahren gebaut worden.
Betroffen von der Wohnungskrise sind besonders Frauen. Mittlerweile mache deren Anteil unter den Wohnungslosen in NRW 40 Prozent aus. Diese Frauen seien dann häufig zwangsweise auf prekäre Wohnsituationen angewiesen oder sähen sich bei der Suche nach einer Unterkunft sexuellen Übergriffen ausgesetzt, so die SPD.
Viele Frauenhäuser und Schutzunterkünfte seien zudem überbelegt. 2023 hätten drei von vier Hilfesuchenden dort keinen Schutz gefunden. Selbst nach Gewaltschutz sei der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum oft verbaut. Mit der Folge, dass die Frauen entweder dauerhaft wohnungslos blieben oder sogar in alte Gewaltbeziehungen zurückkehrten, um wieder ein Dach über dem Kopf zu haben.
Hubert Ostendorf von der Düsseldorfer Obdachlosenhilfe fiftyfifty
Im Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Obdach- und Wohnungslosigkeit bis 2030 werden daher junge Menschen und Frauen als besondere Bedarfsgruppe genannt. Dem Bericht zufolge hat mehr als jede dritte wohnungslose Frau seit Beginn ihrer Wohnungslosigkeit sexuelle Übergriffe erlebt.
Bis 2030 soll in Deutschland kein Mensch mehr ohne Wohnung sein. Das hat noch die damalige Ampel-Bundesregierung im Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit 2024 festgehalten. Viele Experten bezweifeln, ob das Ziel angesichts der neuen Regierung erreicht wird.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert