Selbsttötungen in Iran: Keine Motivation, keine Hoffnung
Immer mehr junge Menschen nehmen sich in der Islamischen Republik aus Protest das Leben. Ein Fall hat nun Konsequenzen bis in die Politik hinein.
Die wackelige Linse eines Mobiltelefons fängt den Moment ein, in dem sich ein junger Mann selbst anzündet. Mit beunruhigender Deutlichkeit zeigt das Video, wie städtische Sicherheitskräfte nach dem Löschen der Flammen auf dem Körper von Ahmad Baledi versuchen, ihn in den Laderaum eines Pick-ups zu zwingen.
Ahmad, schwer verbrannt, kämpft sich aus ihrem Griff. Er will seine Mutter auf der anderen Seite des Fahrzeugs erreichen – denn die Beamten haben vor, auch sie mitzunehmen. Verzweifelt versucht er, sie daran zu hindern.
Der Fall spielt sich in der Provinz Khusistan ab, in der Stadt Ahvaz, im Zeytoon-Park, am Morgen des 2. November 2025. Damals stürmen städtische Beamte einen kleinen Imbissstand. Er gehört Ahmad Baledis Eltern. Die Beamten sind gekommen, um den Kiosk abzureißen – und sie sind bereit, dabei Gewalt anzuwenden.
Ahmads Mutter versucht, sich zu wehren, setzt sich in den Stand hinein, aber die Beamten zerrten sie heraus. Ahmad möchte sie aufhalten, indem er droht, sich selbst in Brand zu setzen. Als er merkte, dass die Drohung ihnen nichts bedeutet, eskaliert die Situation.
Die Autorin war 2024 Stipendiatin des Refugium-Programms, das die taz Panter Stiftung mit Reporter ohne Grenzen ausrichtet.
Beamte müssen zurücktreten – das ist selten
Ahmads Vater, Mojahid Baledi, berichtet: Die Beamten hätten seinen Sohn verspottet und gesagt: „Mach nur. Verbrenn dich. Mal sehen, wie du brennst.“ In dem Moment, als Ahmad sich anzündet, versuchen Umstehende, die Flammen zu löschen. Doch die Beamten der Stadtverwaltung hindern sie daran.
Neun Tage lang liegt Ahmad halb bewusstlos und unter sicherlich qualvollen Schmerzen im Krankenhaus, bis er am 10. November 2025 verstirbt. Nach seinem Tod hält sein Vater vor einer Menge arabischer und bakhtiarischer Verwandter eine Rede, und warnt: Er werde sich weigern, den Leichnam seines Sohnes in Empfang zu nehmen oder ihn zu beerdigen, bis der Bürgermeister und sein Stellvertreter die Stadt verlassen.
Die Geschichte von Ahmad Baledi ist eine besondere. Denn nach der leidenschaftlichen Rede von Mojahid Baledi tritt der Bürgermeister von Ahvaz, Reza Amini, tatsächlich zurück. Kurz darauf wurde auch Ali Shams, der amtierende Leiter der städtischen Dienste, entlassen.
Der Fall dringt sogar in die oberste Ebene: Präsident Masoud Peseschkian ordnet eine Untersuchung an. Daraufhin werden der stellvertretende Bürgermeister des Bezirks 3 und der Leiter der städtischen Vollzugsbehörde in Ahvaz ihrer Ämter enthoben.
Mindestens sechs Ärzte
Sogar der Provinzverwalter von Khusistan, Abdolazim Shamkhani, wird aus seinem Amt entlassen. Er ist der Halbbruder von Ali Shamkhani, dem umstrittenen Berater des Obersten Führers Irans und ehemaligen Sekretär des Obersten Nationalen Sicherheitsrates. Ali Shamkhani überlebte im Juni 2025 einen israelischen Luftangriff auf seine Residenz.
Steht das Geschehen für ein Umdenken in der Islamischen Republik Iran? Vielleicht sogar für die Einsicht, dass die Bevölkerung nicht unendlich gegängelt werden kann? Denn Ahmad Baledis Selbstverbrennung ist kein Einzelfall. Eine ganze Welle der Selbsttötungen rollt derzeit durch Iran.
Nur einen Tag nach Baledi zündet sich in der Stadt Sanandaj Shaho Safari aus Protest gegen monatelange Lohnrückstände an. Obwohl er schwer verletzt ist, ein Drittel seines Körpers verbrennt, überlebte er. Zwei Tage später stirbt ein Journalist durch Selbstmord. Drei Fälle in nur drei Tagen.
Und es sind noch mehr: In den letzten Monaten haben sich mindestens sechs Ärzte und chirurgische Assistenzärzte in Iran das Leben genommen.
Die jüngste war Yasaman Shirani, eine Assistenzärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe an einer der führenden medizinischen Universitäten Irans, deren Tod eine ganze Welle der Trauer in den iranischen sozialen Medien auslöste. Im Juni 2024 berichtete das Medizinjournal The Lancet, dass Selbsttötungen unter iranischen Assistenzärzten zu einer systemischen Krise herangewachsen seien.
In den letzten Jahren hat sich das Profil derjenigen, die in Iran Selbstmordgedanken hegen, verändert: Immer häufiger sind jüngere und besser ausgebildete Menschen betroffen. Obwohl die Islamische Republik niemals offizielle Statistiken zu diesem Thema veröffentlicht, beobachten Analysten: Die Selbstmordrate in Iran ist in den letzten zehn Jahren stetig gestiegen.
Zwischen 2011 und 2023 hat sich die Zahl der Todesfälle durch Suizid laut lokalen Medien verdoppelt. Nach den neuesten Zahlen, die von iranischen Medien für 2023 bis 2024 gemeldet wurden, gab es etwa 150.000 Selbsttötungsversuche, von denen 7.603 tödlich endeten. Die Daten deuten darauf hin, dass jedes Jahr die Zahl der Selbstmordtoten im Land um mindestens 10 Prozent zunimmt.
32 Prozent dieser Todesfälle ereignen sich unter Arbeitnehmern, 19 Prozent unter Studenten. 54 Prozent der Opfer sind unter 30 Jahre alt, und 80 Prozent aller Versuche werden von Menschen unter 50 Jahren unternommen. Frauen versuchen dreimal häufiger Suizid als Männer, doch sterben Männer dreimal häufiger daran.
Eine Recherche der taz in den persischsprachigen sozialen Medien zeigt: Täglich schreiben Nutzer offen über ihre Suizidgedanken.
Die Ausbreitung der durch die Inflation verursachten Armut, die öffentliche Misswirtschaft, der starke Rückgang der Lebensqualität und die Erosion jeglichen Gefühls der sozialen Zugehörigkeit gehören wohl zu den wichtigsten Gründen für solche Entscheidungen. Junge Menschen schreiben in den sozialen Medien, dass sie keine Motivation und keine Hoffnung mehr verspüren – weder für die Zukunft Irans noch für ihr eigenes Leben.
Hilfe durch Telefonseelsorge
Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/1 11 01 11 oder 08 00/1 11 02 22) oder www.telefonseelsorge.de besuchen. Dort gibt es auch die Möglichkeit, mit Seelsorger*innen zu chatten.
In einer Gesellschaft, in der ziviler Protest, gewerkschaftliche Organisation und die freie Äußerung von Meinungen und Forderungen stark eingeschränkt sind, findet die angestaute Wut keinen anderen Ausweg mehr. Unter solchen Bedingungen wird die Selbstverbrennung zu einem „individuellen Akt des Protests“, einem Schrei gegen ein System, das die Möglichkeit des Dialogs ausgeschaltet hat.
Inmitten dieser Welle von Selbstverbrennungen und Selbsttötungen wurden jüngst Teile einer geheimen nationalen Umfrage zu den Werten und Einstellungen der Iranerinnen und Iraner an lokale Medien weitergegeben: Sie zeigt, dass 92 Prozent der Iraner mit der aktuellen Situation und der Leistung der Islamischen Republik unzufrieden sind.
Aus dem Englischen von Lisa Schneider
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