: „Ich wollte immer engagierte Philosophie machen“
Susan Neiman ist eine streitbare Denkerin. Derzeit schreibt sie an einem neuen Buch über das Böse. Ein Gespräch über Donald Trump, die Lage in Gaza – und eine Stahltür zum Flur
Von Lea De Gregorio (Gespräch) und Maria Sturm (Foto)
Susan Neiman sitzt auf einem dunkelroten Ledersofa in ihrer Altbauwohnung in Berlin-Neukölln. Im Zimmer nebenan stehen viele Bücher. Auf einer Holzplakette in einem Regal im Wohnzimmer ist „Yes we can“ zu lesen. Neiman ist eine unermüdliche Denkerin, und sie lässt sich schwer zuordnen. Das macht sie für viele interessant, bei vielen eckt sie aber auch an – etwa aufgrund ihrer Auseinandersetzung mit „dem Bösen“ und ihrem kritischen Blick auf die „Woken“. Viele Diskussionen, sagt Neiman, sei sie leid. Dennoch hat sie sich Zeit für das Gespräch genommen, schließlich will sie sich weiter in die öffentliche Debatte einbringen. Sie trinkt einen Schluck Wasser und sagt: „Also fangen wir an.“
taz: Frau Neiman, Sie haben sich viel mit dem Bösen beschäftigt. Würden Sie angesichts der Weltlage sagen, es hat Konjunktur?
Susan Neiman: Auf jeden Fall. Ich schreibe gerade ein kleines Buch darüber. Ich möchte nicht immer mit dem Bösen zu tun haben, aber derzeit ist es unmöglich, nicht darüber nachzudenken. Ich frage auch, warum „Moral“ als Schimpfwort verwendet wird, im Deutschen, aber auch in anderen Sprachen.
taz: Im Deutschen etwa, wenn die Rede von „Gutmenschen“ ist?
Neiman: Zum Beispiel.
taz: Sie sind Moralphilosophin …
Neiman: Ja, ich habe Philosophie studiert, unter anderem bei John Rawls in Harvard, und eine wirklich gute philosophische Ausbildung bekommen. Anfangs haben mich Sartre und Beauvoir inspiriert, ich bin danach zu den Aufklärern gekommen, weil sie keine Fachphilosophen waren, sondern für die Öffentlichkeit schrieben. Mein Wunsch war immer, engagierte Philosophie zu machen. Nach elf Jahren als Professorin in zwei Ländern habe ich deshalb einen Lehrstuhl für Praktische Philosophie abgelehnt und mich für die Direktion des Einsteinforums in Potsdam entschieden. Dort geht es um die öffentliche Sphäre, ich kann mehr in der politischen Debatte bewirken.
taz: Und wo zeigt sich in Ihren Augen derzeit das Böse?
Neiman: Natürlich kann man eine Reihe von Taten beschreiben, Grausamkeiten, Korruption. Aber ich setze mich lieber mit dem Mangel an Moral auseinander, der seit Anfang dieses Jahrhunderts herrscht. Trump ist ein Paradebeispiel. Es gibt eine Reihe von Ideologien, die wir nicht als Ideologien wahrnehmen, die aber unsere Denkrichtung prägen. Mich beschäftigt das rohe Eigeninteresse als Beweggrund, der Verzicht auf Scheinheiligkeit.
taz: Was genau meinen Sie?
Neiman: Mich interessiert das Kompliment, was das Böse an das Gute macht, ein vordergründiges Zugeständnis: Man sagt, man tue dies oder jenes aus einem moralischen Interesse, eigentlich aber geht es um Eigeninteresse. Die Bush-Administration hat zum Beispiel damals behauptet, sie wolle Demokratie in den Nahen Osten bringen, indem sie Irak angegriffen hat. Aber kritische Amerikaner wussten: Es ging um Öl und Hegemonie.
taz: Und bei Trump? Er wurde vor einem Jahr wiedergewählt.
Neiman: Der Unterschied zwischen Bush und Trump ist, dass Bush Komplimente an das Gute gemacht hat, indem er seine wahren Beweggründe nicht nannte. Bei Trump geht es um keine moralischen Gründe mehr. Es geht um Macht und Geld, und das sagt er auch ganz offen. Er glaubt nicht, dass andere Beweggründe existieren.
taz: Das ist das Böse?
Neiman: Der Grund des Bösen ist die völlige Ablehnung der Moral.
taz: Gerade weil Auschwitz als das Böse überhaupt gilt, ist es heikel, Ereignisse unter dem Begriff zusammenzufassen. Man läuft Gefahr, Dinge gleichzusetzen, zu relativieren oder zu verkürzen.
Neiman: Ich weiß um diese Gefahr. Aber gleichzeitig plädiere ich dafür, dass man versucht, vernünftig mit den Begriffen Moral und dem Bösen umzugehen. Ich verbringe nicht viel Zeit, mit künstlicher Intelligenz herumzuspielen. Aber als ich anfing, an meinem neuen Buch zu schreiben, habe ich ChatGPT gefragt: Ist Trump böse?
taz: Und was antwortete ChatGPT?
Neiman: Ich bekam eine Lektion erteilt, dass man dieses Wort eigentlich nicht benutzen sollte. Der Witz war: Das höre ich seit Jahren. Der Begriff ist einer der stärksten sprachlichen Waffen, die wir haben. Andere Leute werden ihn sowieso benutzen, wir sollten deshalb in der Lage sein, analytisch und reflektiert mit Sprache umzugehen.
taz: Sie versuchen, zwischen verschiedenen Formen des Bösen zu differenzieren.
Neiman: Wir reden heute über verschiedene Sorten des Bösen, die von Menschen gemacht werden. In meinem neuen Buch frage ich, warum der Krieg in Gaza international als böse verstanden wurde. Ein Grund ist, dass wir in real time gesehen haben, wie Kinder sterben. Der andere: Die Menschheit hat sich geeinigt, dass der Holocaust böse war. Solch eine moralische Einhelligkeit gibt es kaum. Diese Referenz zu instrumentalisieren, um einen weiteren Genozid zu verursachen, ist böse.
taz: Wenn Sie vom Holocaust als Maßstab sprechen und von einem weiteren Genozid, wirkt das wie eine Gleichsetzung. Meinen Sie das tatsächlich so?
Neiman: Warum wurden wir nach dem Krieg gemahnt, den Holocaust nicht zu vergessen? Der Sinn von „Nie wieder!“ war nicht, dass Deutsche nie wieder Juden in Gaskammern stecken sollen, sondern das Ähnliches nie wieder irgendjemandem geschehen soll. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen dem, was in Auschwitz passiert ist und dem, was in Gaza passiert ist. Damit sollen sich die Historiker und Soziologen beschäftigen. Aus diesen Unterschieden zu schließen, dass es deshalb einen fundamentalen moralischen Unterschied gibt, ist falsch.
taz: Wirklich? Sie sehen keinen moralischen Unterschied zwischen dem Holocaust, also der systematischen industriellen Vernichtung von Millionen Juden, und dem Gazakrieg? Gerade in der Philosophie gibt es eine große Debatte über die Singularität des Holocausts. Dabei geht es etwa darum, Relativierungen zu verhindern – zu Recht.
Neiman: Warum ist es wichtig, darauf zu bestehen? Was hängt davon ab?
taz: Es ist allein schon wichtig, um die Erinnerung an das Verbrechen nicht zu verwässern, um sie lebendig zu halten.
Neiman: Noch mal: Warum sollten alle „Nie wieder!“ sagen, wenn ähnliche Verbrechen völlig unmöglich wären? Die Singularitätsdebatte entstand während des Historikerstreits und wurde seitdem völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Habermas und anderen war es wichtig, die tatsächlichen Relativierungen von Nolte zu kontern, der den Holocaust als Reaktion auf Stalins Verbrechen herunterstufen wollte. Das war wiederum eine Reaktion auf Weizsäckers Rede ein Jahr vorher, die endlich offiziell feststellte, dass die Deutschen nicht Opfer sondern Täter des Kriegs waren. Habermas wollte Revisionisten wie Nolte die Stirn bieten. Die Singularität war also eine politische Aussage, nicht eine metaphysische, die für immer und alles gelten sollte.
taz: Was bedeutet das konkret? Wollen Sie sagen, dass der Holocaust moralisch nicht einzigartig war?
Neiman: Ich verstehe sehr wohl, dass Deutsche Angst haben, die Relativierungen der Nolte-Generation zu wiederholen. Gut so. Aber müssen sie ihre Identität darin finden, die größten Verbrecher aller Zeiten zu sein?
taz: Der Gazakrieg wurde durch den Terroranschlag vom 7. Oktober erst ausgelöst. In einem Interview haben Sie erzählt, dass Ihre Tochter beinahe auf das Supernova Festival gegangen wäre, auf dem die Hamas fast 400 Menschen ermordet hat.
Neiman: Ja, meine Tochter wollte in dieser Zeit nach Israel fahren, sie hat sich kurzfristig dagegen entschieden. Nach dem 7. Oktober sagte sie: „Das ist einer der bekanntesten Raves der Welt, natürlich wäre ich hingegangen. Ich wollte immer dorthin.“
taz: Ohne den 7. Oktober hätte es den Gazakrieg so nicht gegeben. Das spricht dagegen, den Begriff Genozid zu verwenden.
Neiman: Mit dem Genozid-Begriff war ich anfangs zurückhaltend, inzwischen wird dieser Begriff aber von den meisten Genozid-Forschern verwendet. Es ist nicht mehr zu bestreiten. Aber insgesamt muss man einfach noch viel mehr dazu sagen.
taz: Nämlich?
Neiman: Nur um einen Punkt zu nennen: Die israelische Armee hat am 7. Oktober versagt, weil sie ihr Militär eingesetzt hat, um illegale Siedler im Westjordanland zu beschützen. Die militärischen Prioritäten waren falsch gesetzt. Benjamin Netanjahu ist Anfang der 90er in die Politik gegangen, um die Zweistaatenlösung zu verhindern. Er hat die Hamas mit groß gemacht.
taz: Weil Sie das Vorgehen Israels scharf kritisieren, wurde Ihnen vorgeworfen, mit der Hamas zu sympathisieren.
Neiman: Ist Ihren Lesern klar, dass ich Jüdin bin? Noch dazu israelische Staatsbürgerin? Hamas ist eine islamistische, fundamentalistische, reaktionäre …
taz: … Terrororganisation.
Neiman: Ja, eine Terrororganisation. Die Hamas ist böse, ganz klar. Aber wer die Entwicklungen in Israel/Palästina verfolgt, wusste von Anfang an, dass die Reaktion von Israel auf den 7. Oktober furchtbar sein wird. Die Hamas wollte eine große Reaktion provozieren, damit genau das passiert, was in Gaza passiert ist – und damit die Welt Israel aufs Schärfste kritisiert.
taz: Als ich durch Neukölln zu Ihrer Wohnung gelaufen bin, habe ich gesehen, dass an einer Wand „Fuck Israhell“ stand. Israel wurde während des Gazakriegs gleichgesetzt mit der Hölle, dem Bösen schlechthin, die Guten sind die Palästinenser. In linken Diskursen ist dieses Muster häufiger zu beobachten.
Neiman: Solch ein binäres Denken ist immer absurd. Aber es war wirklich die Hölle in Gaza, und es ist noch nicht vorbei. Es gibt viele Leute in diesem Kiez, die in Gaza Verwandte haben.
taz: Sie meinen, Sie konnten deren Wut über das Leid verstehen?
Neiman: Absolut. Deutsche fragen mich öfters: „Wie kannst du in Neukölln leben? Du bist nicht unbekannt, hast du nicht Angst, unter so vielen Palästinensern und anderen Muslimen zu wohnen?“ Ich lebe hier gern und ohne Probleme. Manchmal kommen Fremde auf der Straße zu mir, um sich zu bedanken dafür, dass eine öffentlich jüdische Person für palästinensische Menschenrechte aufsteht.
taz: In der Jüdischen Allgemeinen wurden Sie dafür kritisiert, Antisemitismus und – als amerikanische Jüdin – die jüdische Lebensrealität in Deutschland zu verkennen. Was sagen Sie zu solchen Vorwürfen?
Neiman: Sehen Sie diese Tür? Die würde ich gerne mal zeigen, denn das höre ich oft. Kommen Sie mit.
Sie geht zu einer Tür, die in den Hausflur führt, öffnet sie, schlägt sie zu. Schwer fällt die Tür ins Schloss.
Das ist eine Stahltür. Ich habe sie einbauen lassen, weil ich einen alkoholisierten antisemitischen Nachbarn hatte. Der ist manchmal mitten in der Nacht mit dem Baseballschläger gekommen und hat geschrien: „Das nächste Mal komme ich mit der Kettensäge.“
taz: Oh je.
Neiman: Danach lagen hier Holzstücke. Es hat dreieinhalb Jahre gedauert, bis ich den mit Rechtshilfe aus dem Haus gekriegt habe. Es war ein Rechtsradikaler, aber ich kenne auch höflichen Antisemitismus in diesem Land. Noch dazu: Viele Deutsche denken, Juden in den USA kämen alle aus New York. Ich bin in Atlanta, Georgia, aufgewachsen. Die Synagoge, in die meine Familie gegangen ist, wurde vom Ku-Klux-Klan zerbombt. Ich bin mit antisemitischer Gewalt groß geworden.
taz: Das tut mir leid zu hören.
Neiman: Also weiß ich sehr viel über Antisemitismus, und da ich in Berlin seit 1982 lebe, kenne ich den deutschen Antisemitismus besonders gut. Ich bin wütend darüber, dass man in Deutschland nicht mehr über den Antisemitismus bei der CSU und bei der AfD spricht, obwohl Umfragen zeigen, dass er dort am häufigsten zu finden ist.
Die Denkerin
Susan Neiman ist Philosophin und leitet das Einstein Forum in Potsdam. Sie ist in Georgia aufgewachsen und hat neben der amerikanischen auch die deutsche und die israelische Staatsbürgerschaft. Neiman lebt in Berlin-Neukölln.
Ihr Werk
Ihr Buch „Das Böse denken“ erschien 2004 im Suhrkamp-Verlag. Ihr aktuelles Buch „Links ist nicht woke“ erschien 2023 auf Deutsch bei Hanser und vor Kurzem in erweiterter Fassung bei Harper Collins als Taschenbuch. Beide Bücher sowie weitere ihrer Werke wurden in fünfzehn Sprachen übersetzt.
taz: Sie betonen immer wieder, dass Sie sich als Universalistin verstehen. Sie sind überzeugt, dass bestimmte Rechte, Gesetze und Prinzipien für alle Menschen gültig sind.
Neiman: Absolut. Und keines meiner neun Bücher handelt von Israel/Palästina. Aber inzwischen bin ich in Deutschland gekennzeichnet als die Frau, die immer Israel kritisiert. Lassen Sie uns gerne über etwas anderes sprechen.
taz: Ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Links ist nicht woke“. Vor dem Hintergrund des Universalismus kritisieren Sie darin Identitätspolitik.
Neiman: Ich benutze nicht den Begriff Identitätspolitik, denn er betrachtet nur zwei Aspekte unserer Identität.
taz: Sie meinen: Ethnie und Geschlecht.
Neiman: Genau. Und Identität hat mehr Aspekte. Die Woken haben viel Schaden angerichtet. Gibt es nicht andere Sorgen als genderneutrale Toiletten?
taz: Die Frage ist, ob man das eine sein lassen muss, um etwas anderes zu tun.
Neiman: Das Buch ist ein Bestseller in Lateinamerika. In Brasilien und Chile haben mir Politiker und Journalisten erzählt, dass die Diskussionen über genderneutrale Toiletten der Sozialdemokratie tatsächlich geschadet haben. Natürlich gehört es zur Aufgabe von Demokratien, Minderheiten zu schützen. Dafür muss man politische Mehrheiten schaffen. Normalerweise macht man die Tür zu, wenn man pisst. Und Sie können ruhig „pissen“ schreiben.
taz: Ein partikularistischer Blick kann helfen, Minderheiten zu sehen und die Lebensrealität von Betroffenen anzuerkennen, auch aus einem emanzipatorischen Gedanken heraus.
Neiman: Natürlich kann man kulturelle Unterschiede nicht nur anerkennen, sondern feiern. Aber politisch geht es darum, dass jeder Mensch Menschenrechte haben soll.
taz: Wen genau meinen Sie, wenn Sie von den Woken sprechen?
Neiman: Das habe ich in meinem letzten Buch genau erklärt, hier ganz kurz die drei Prinzipien: Ich meine jene, die glauben, man versteht nur Menschen des eigenen Stammes und ist nur ihnen wirklich verpflichtet. Jene, die glauben, dass Ansprüche auf universelle Gerechtigkeit eurozentristische Machtansprüche sind, und Menschen, die meinen, alle Fortschritte sind nur neue Formen von Unterdrückung. Ich meine all jene, die ausschließlich mit Ethnie und Geschlecht argumentieren. Für die Woken wie auch für die Reaktionären sind Verbindungen nur möglich, wenn man aus dem gleichen Stamm kommt.
taz: Bei dem Begriff „Stamm“ schluckt man. Viele würden sicherlich sagen, der sei nicht politisch korrekt, zum Beispiel, weil sie ihn auf die Kolonialzeit zurückführen.
Neiman: Der Begriff kommt aus der Bibel, verdammte Scheiße. Dass ich das Wort „Stamm“ nicht verwenden soll, ist ein sehr ignoranter Vorwurf. Die Woken verstehen den Universalismus nur als Karikatur. Sie unterscheiden auch zu wenig zwischen Gerechtigkeit und Macht. Und sie übersehen, dass moralischer Fortschritt möglich ist. Dabei beziehen sie sich auf Ideen, die eigentlich rechts liegen. Gleichzeitig appellieren sie an Gefühle, die tatsächlich zum traditionellen Linkssein gehören, vor allem an den Wunsch, auf der Seite der Unterdrückten zu stehen, auch ich teile dieses Gefühl. Woke ist deshalb ein inkohärenter Begriff, weil es um einen Widerspruch zwischen Ideen und Gefühlen geht.
taz: Auch Trump verwendet die Bezeichnung.
Neiman: Trump spricht von woken Marxisten, aber die Woken sind keine Marxisten, das ist einfach seine Ignoranz. Wobei ich mich nicht als Marxistin verstehe, sondern als Sozialistin.
taz: Sie betonen oft, dass Sie sich als Linke verstehen. Sie haben früh angefangen, sich zu engagieren und mit vierzehn dafür die Schule unterbrochen. Was hat Sie politisiert?
Neiman: Das waren bewegte Zeiten, die Zeit des Vietnamkriegs. Auch Leute, die älter und klüger waren als ich, dachten, die Revolution stünde bevor. Es war schwierig, nicht politisch zu sein. Meine Mutter hat sich in der Bürgerrechtsbewegung engagiert. Sie war nicht glücklich, dass ich die Schule abgebrochen und in einer Kommune gelebt habe. Aber die Idee, dass man als Bürgerin etwas tut, wenn etwas Böses passiert, habe ich von zu Hause mitbekommen. Dass Engagement einfach Teil des Lebens ist, das habe ich auch meinen Kindern weitergegeben.
taz: Und wie kämpft man für das Gute?
Neiman: Auf unterschiedlichen Ebenen natürlich.
taz: Sie als Philosophin erst mal analytisch?
Neiman: Ja, durchs Schreiben. Durchs Reden. Ich gehe auch noch auf Demos, nicht ständig, manchmal schon. Und in der Sache Israel/Palästina habe ich eine Organisation mitgegründet, Diaspora Alliance.
taz: Diaspora Alliance befasst sich unter anderem mit der Situation in Gaza. Vorhin sagten Sie, dass Sie nicht gerne über dieses Thema sprechen. Gleichzeitig scheint es Ihnen sehr wichtig zu sein, wenn Sie eine Organisation mitgegründet haben.
Neiman: Als ich vor fünf Jahren angefangen habe, mich da intensiv zu engagieren, war meine Frage: Was sind meine politischen Sorgen? Bei der Klimakatastrophe kann ich wenig machen, da kenne ich mich nicht genug aus. Und was den zunehmenden Faschismus in den USA betrifft, kann ich hier in Deutschland auch nichts bewegen.
taz: Der Faschismusbegriff ist Ihnen in dem Zusammenhang sehr wichtig.
Neiman: Es haben sich inzwischen fast alle Medien entschieden, das Wort „autoritär“ zu benutzen. Aber sogar Trumps höchster Militärberater sagte vor einem Jahr: „He’s fascist to the core.“ – „Er ist ein Faschist durch und durch.“ Und das dritte Thema, das mich umtreibt, ist eben Israel/Palästina, da kenne ich mich aus. Ich habe fünf Jahre in Israel gelebt, bin gut vernetzt. Von den drei Themen, die mich wirklich aufregen, könnte ich bei diesem am meisten bewegen, dachte ich. Aber es ist traurig. Ich denke nicht, dass ich und meine Kollegen viel erreicht haben. Wenn sich die Diskussion verändert hat, dann nur deshalb, weil das, was in Gaza passiert, so katastrophal ist.
taz: Können Sie Donald Trump seit dem Waffenstillstand im Nahen Osten auch etwas Gutes abgewinnen?
Neiman: Trump kann ich nichts abgewinnen, ihn interessieren weder Israelis noch Palästinenser, sondern nur die Frage, wie er Geschäfte im Nahen Osten machen kann. Das zeigt auch sein sogenannter Friedensplan, der ohne jede palästinensische Mitwirkung formuliert wurde. Vieles bleibt ungeklärt, geschossen wird immer noch, und Gaza bleibt noch ein Albtraum. Ich bin froh, dass es viel weniger Gewalt gibt, aber feiern sollte man erst, wenn wir mehr wissen.
Lea De Gregorio, 33, lebt als Autorin und freie Journalistin in Berlin. Wie Neiman hat sie Philosophie studiert.
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