Ukrainische Geflüchtete in Thüringen: „Wie im Gefängnis“
In Jena werden Geflüchtete in den Räumen eines Pflegeheims untergebracht. Ein Vorzeigeprojekt – doch einige Bewohner klagen über willkürliche Kontrollen.

Es gibt da eine besondere Gemeinschaftsunterkunft im Jenaer Ortsteil Lobeda. Dort leben zurzeit 76 Geflüchtete aus der Ukraine, untergebracht auf einer Etage eines Pflegeheims. Die meisten von ihnen haben Krankheiten oder brauchen aus anderen Gründen selbst Pflege. Ein sicherer Rückzugsort, eine Wohnung auf Zeit, das soll die Unterkunft sein. Für viele der Bewohner:innen von Vorteil: Die Uniklinik Jena liegt nur ein paar Minuten entfernt.
Die Gemeinschaftsunterkunft gilt als Vorzeigeprojekt. Aber trügt der Schein?
Ausgerechnet in dieser Unterkunft prangern Bewohner:innen gemeinsam mit der Stadtteilgewerkschaft Lobeda Solidarisch schlechte Zustände an. So steht es in einem offenen Brief, den sie im August veröffentlicht haben: ständigen Kontrollen, Willkür und Schikane. Zimmer würden durchsucht, Putzdienste als Strafe verteilt und auf medizinische Diäten keine Rücksicht genommen. Die Leitung der Unterkunft sei unqualifiziert. Sie solle ausgetauscht werden, lautet die erste von zehn Forderungen im Brief.
Die Stadtverwaltung reagierte mit einer Stellungnahme unter dem Titel „Fakten zur Gemeinschaftsunterkunft“. Der Brief sei einseitig, stütze sich auf die Aussagen „einiger jüngerer“ Bewohner:innen und enthalte falsche Informationen. Die Beschwerden im offenen Brief nehme die Stadtverwaltung aber ernst, heißt es und bot ein Gespräch an. Die Bewohner:innen gingen darauf ein. Doch gelöst ist der Konflikt nicht.
Sein Haus in der Ukraine ist eine Ruine
Etwa eine Woche vor dem Treffen mit den Verantwortlichen sitzt einer der Bewohner:innen, die sich über die Zustände in der Unterkunft beschweren, in einem Café in Jena und erzählt von seiner Heimat im Osten der Ukraine. Sein Name soll nicht öffentlich werden, darum heißt er in diesem Artikel Yegor Panasyuk. Er möchte erzählen, hat aber Sorge vor Strafen.
Panasyuk reicht sein Handy über den Tisch. Fotos von seinem Haus in der Ukraine, ein Holzzaun umgibt den Garten, eine blaue Tonne fängt Regenwasser auf. Das war vor mehr als drei Jahren. Dann wischt Panasyuk weiter. Auf dem Display erscheint ein Satellitenbild: Ruinen. In einem Garten ragt eine Regentonne aus dem Schutt hervor. Panasyuk zeigt darauf und sagt auf Russisch: „Das ist alles, mehr ist von meinem Haus nicht übrig.“
Nach dem großen Angriff Russlands am 24. Februar 2022 sind viele Menschen nach Deutschland geflüchtet. Derzeit lebt mehr als eine Million Ukrainer:innen in der Bundesrepublik. Durch die Umsetzung der „Massenzustromrichtlinie“ haben die meisten Zugang zu den Sozial- und Gesundheitsleistungen und können sich frei auf dem Arbeitsmarkt bewerben.
Panasyuk kann derzeit nicht arbeiten, er ist krank. Woran er leidet, soll keine Rolle spielen, damit er nicht identifizierbar ist. Aber für die Behandlung an der Uniklinik kam er extra nach Jena. Er ist der Stadt und dem Krankenhaus für die Hilfe dankbar, betont er mehrfach. Vor mehr als einem Jahr zog Panasyuk in die Gemeinschaftsunterkunft in Lobeda. Über einen Seiteneingang kommen die Bewohner:innen in einen Flur. Zimmer reihen sich aneinander, gegenüber liegt ein Speiseraum. Es ist sauber, ruhig – und sieht nach Pflegeheim aus.
„Dies ist ihr Zuhause auf Zeit“, lautet der erste Satz der Hausordnung. 319 Euro Gebühr zahlen die Geflüchteten jeden Monat für die paar Quadratmeter Zimmer. Wie ein Zuhause fühle es sich nicht an, sagt Panasyuk. Das beginne beim Essen. Selbst richtig kochen, das ist in dem Pflegeheim nicht erlaubt. Um Schädlinge zu vermeiden, dürfen die Bewohner:innen in ihren Zimmern keine Lebensmittel lagern. Jeden Tag gibt es deshalb aus der Küche des Pflegeheims morgens und abends Brot und Wurst sowie mittags etwas Warmes.
„Wie im Gefängnis“
Dafür müssen die Bewohner:innen 150 Euro zahlen – auch wenn sie das Essen nicht nehmen, etwa, weil es nicht zur medizinisch verordneten Diät passt. Obwohl alle dafür Geld geben, kämen viele nicht zum Essen, berichtet Panasyuk. Täglich werde Essen weggeschmissen.
Wie andere Bewohner:innen berichtet Panasyuk der taz von einem aggressiven Umgangston und Zimmerkontrollen. Der Sicherheitsdienst klopfe zwar, öffne dann aber mit eigenem Schlüssel die Tür. Dann würden Lebensmittel oder Geräte konfisziert; selbst neue mit Verpackung und Kassenbon. Wer eine Nacht woanders verbringt, zum Beispiel für eine Untersuchung in der Klinik, musste bislang die Schlüssel abgeben. Eine Bewohnerin sagte der taz, sie fühle sich „wie im Gefängnis“.
Die Stadtverwaltung Jena widerspricht dem. Auf Anfrage der taz heißt es etwa, der Schlüssel müsse nur bei längeren Reisen abgegeben werden. „So wird sichergestellt, dass keine Schlüssel verloren gehen.“ Grundlage dafür sei die Hausordnung. Der taz liegt die Hausordnung vor, über das Abgeben von Schlüsseln steht nichts drin. Stattdessen heißt es auf einem laminierten Zettel: „Sobald Sie auswärts übernachten, haben Sie uns Bescheid zu geben und die Schlüssel bei uns im Büro zu hinterlassen. Egal, ob Sie die Stadt Jena verlassen oder nicht.“
Auf Nachfrage bestätigt die Stadt: Das mit den Schlüsseln steht nicht in der Hausordnung. Allerdings gebe es bei allen Aufnahmegesprächen mit neuen Bewohner:innen „übergeordnete Belehrung“ zu Regelungen.
Juristin kritisiert Durchsuchungen
Und was ist mit den unangekündigten Zimmerdurchsuchungen, über die sich Bewohner:innen beschweren? Es sei in „begründeten Einzelfällen“ nötig, Zimmer auch ohne vorherige Ankündigung zu betreten, „beispielsweise, wenn Gefahrensituationen vermutet werden, kranke Bewohnende nicht auffindbar sind“.
Sind die Kritikpunkte der Geflüchteten also eigentlich kein Problem?
Sarah Lincoln arbeitet als Juristin bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte und konzentriert sich dort vor allem auf Fälle im Migrations- und Sozialrecht. Was tatsächlich in der Unterkunft in Jena-Lobeda passiert, kann Lincoln nicht einschätzen. Doch was die Bewohner:innen in ihrem Brief schildern, „das ist mit den Grundrechten nicht vereinbar“, sagt sie.
Um die Räume der Geflüchteten zu betreten, brauche der Sicherheitsdienst grundsätzlich deren Erlaubnis, erklärt Lincoln. „Die Zimmer sind ebenso von Artikel 13 des Grundgesetzes geschützt wie jede Wohnung.“ Die Mitarbeiter:innen des Sicherheitsdienstes müssten klopfen, auf Antwort warten und die Bewohner:innen dürften auch Nein sagen. „Man muss bedenken, dass das der einzige Rückzugsraum für die Menschen ist.“ Eine Ausnahme bestehe nur bei dringender Gefahr, etwa der eines Brandes oder wegen gravierender hygienischer Mängel.
Sollte der Sicherheitsdienst die Zimmer darüber hinaus durchsuchen, überschreite er damit seine Befugnisse. „Um Zimmer zu durchsuchen, braucht es einen Durchsuchungsbeschluss“, erklärt Lincoln. Dass Bewohner:innen einer Gemeinschaftsunterkunft ihre Schlüssel abgeben müssen, wenn sie diese über Nacht verlassen, hat Lincoln bislang noch nicht gehört.
Aber rechtlich dagegen vorzugehen, das sei schwer. Menschen in prekären Situationen schreckten oft davor zurück. Geflüchtete befürchteten etwa Repressionen, so Lincoln.
Offener Brief „mit Befremden“ gelesen
Obwohl sich mehrere Bewohner:innen bei der Stadtverwaltung beschwert hätten, habe sich nichts in der Unterkunft geändert, erzählt Bewohner Panasyuk der taz. Vielleicht auch deshalb haben sie zusammen mit der Stadtteilgewerkschaft Lobeda Solidarisch den Brief veröffentlicht.
Die Stadtteilgewerkschaft ist eine lokale Gruppe, in der sich Anwohner:innen gegenseitig unterstützen oder beraten. Sie hätten im Juni mitbekommen, dass Bewohner:innen unzufrieden mit den Zuständen in der Unterkunft sind, erzählt eine Sprecherin. Lobeda Solidarisch habe daraufhin angeboten, die Betroffenen zu unterstützen. Bei mehreren Treffen hätten sie den offenen Brief gemeinsam geschrieben und schließlich an Verantwortliche und lokale Medien geschickt.
Als Astrid Heßmer der Brief erreichte, habe sie ihn mit „Befremden“ gelesen, sagt sie der taz. Heßmer ist Geschäftsführerin der Krebsgesellschaft Thüringen, die unter anderem mit der Stadt Jena bezüglich der Unterkunft zusammenarbeitet. Was im Brief stehe, passe nicht zu dem, was sie mitbekommen habe. Der Sicherheitsdienst sei engagiert, versichert Heßmer. „Die Stadt Jena hat viel gemacht, das weit über das hinausgeht, was wir aus anderen Städten kennen“, sagt sie.
Die taz hat auch mit zwei Bewohner:innen gesprochen, die die Kritik an der Unterkunft nicht teilen. Es sei besser als in anderen Unterkünften. In sechs Briefen, die der taz vorliegen, sichern einzelne aktuelle und ehemalige Bewohner:innen ebenfalls zu, alles sei in Ordnung.
Anzeigen wegen Verleumdung
Wie erklärt sich Panasyuk, dass andere Bewohner:innen seine Kritik an den Zuständen der Unterkunft nicht teilen? Die hätten Angst, glaubt er. Angst vor Strafen, Angst davor, dass die Unterkunft geschlossen werde.
Seit dem offenen Brief gab es allerdings schon erste Veränderungen in der Unterkunft. Laut Bewohner:innen kündigte der Sicherheitsdienst an, ihre Schlüssel nur einzuziehen, wenn sie drei Nächte oder länger wegfahren. Außerdem wurde ein Spielzimmer für Kinder eingerichtet.
Doch der Brief hatte auch noch andere Folgen. Nach Informationen der taz liegen gegen zwei Personen wegen des offenen Briefs Anzeigen wegen Verleumdung vor.
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