Soziale Herkunft im Sport: Einsame Klasse
Deutsche Athlet:innen stammen überproportional häufig aus privilegierten Verhältnissen. Für Arbeiterkinder gibt es kaum ein Bewusstsein.

Winkler hat aus dieser persönlichen Frage eine Masterarbeit gemacht. 104 Kaderathlet:innen von Olympiakader bis Landeskader machten dort freiwillig Angaben zu ihrem sozioökonomischen Hintergrund, ihren sportlichen Erfolgen und zur Frage, ob ihre Herkunft die Sportkarriere beeinflusst habe.
Das Ergebnis: Ein hoher sozioökonomischer Status (zum Beispiel Abitur, Studium und eine hohe Jobposition) war mit 61 Personen überrepräsentiert, einen niedrigen Status hatten nur 13 Personen. Und rund drei Viertel der Proband:innen fanden, dass ihre soziale Herkunft die sportliche Laufbahn positiv beeinflusst habe.
Kampfsport ist hier überproportional vertreten, und die Athlet:innen haben eben eigeninitiativ mitgemacht. Doch die Ergebnisse decken sich mit anderen Studien. So fand eine Befragung von 2023 unter 481 jugendlichen Kaderathlet:innen, dass 80 Prozent das Gymnasium besuchen. Und Studien im Breitensport zeigen: Kinder aus sozioökonomisch benachteiligtem Haus gehen seltener in den Sportverein, sind weniger über Angebote informiert, haben weniger sportaffine Eltern.
Desinteresse des Sports
„Ich war nicht überrascht von den Ergebnissen“, sagt Winkler. „Ich habe ja selbst erlebt, aus welchem Umfeld die Leute im Leistungssport kamen.“ Was ihn vielmehr erschreckt habe, sei das Desinteresse des Sports. „In der Diskussion über Leistungssport in Deutschland hat dieses Thema überhaupt keinen Platz. Es wird nicht einmal wahrgenommen.“
Warum? „Vielleicht, weil man sich eingestehen müsste, dass man jahrzehntelang etwas falsch gemacht hat. Der deutsche Leistungssport hält sich aufgrund dieses Problems seinen Talentpool systematisch klein.“ Die politische Debatte sei absurd, findet Winkler: „Dieselben politischen Akteure, die mehr Medaillen fordern, sagen, wir können uns unseren Sozialstaat nicht mehr leisten.“
Auffällig selten ist soziale Herkunft im Sport ein Thema – ganz anders als bei Benachteiligungen wie Sexismus, Homophobie und Rassismus. Es gibt zudem kaum deutsche Sportler:innen, die etwa ihre Arbeiterherkunft gezielt zum Thema machen. Dieser blinde Fleck hat auch mit der Klassengesellschaft zu tun. Rassismus oder Homophobie können eingedämmt oder besiegt werden. Armut dagegen ist im Kapitalismus eingepreist. Damit es höhere Profite geben kann, braucht es den Niedriglohnsektor.
Der Sport wiederum ist vom Sponsoring dieser Konzerne hochgradig abhängig. Ungleichheit ist damit sowohl als selbstverständlich akzeptiert wie auch mutmaßlich aus taktischen Gründen ein Tabu. Schwerlich kann man sich einen Sport vorstellen, der statt „Stop Racism“ ein Banner mit dem Titel „Stoppt Ungleichheit“ oder „Beendet die Klassengesellschaft“ hochhält. Stattdessen erzählt er das Märchen, der Sportverein sei für alle gleich.
Es gibt Arbeiterkinder, die es trotz allem in den Spitzensport schaffen. Und die bereit sind, öffentlich darüber zu sprechen. Eine davon ist die Taekwondo-Kämpferin Madeline Folgmann. Sie ist elffache Deutsche Meisterin, war EM-Dritte und U21-Europameisterin.
Nicht so viel Geld wie andere
Derzeit studiert sie parallel Sportwissenschaften. Folgmann ist es wichtig, zu betonen: Ihre Familie sei nicht arm gewesen. Nur habe man eben nicht so viel Geld gehabt wie andere.
Ihr Vater ist Maurer, die Mutter Friseurin. Madeline Folgmann hat aber auch einen strukturellen Vorteil: Ihre Eltern sind sehr sportaffin. Die Mutter ist Spinning-Trainerin, der Vater habe viel Badminton gespielt. Sie wissen, wie Vereinssport funktioniert. Damit trifft eine wichtige soziokulturelle Hürde auf sie nicht zu. Mit fünf Jahren beginnt sie mit dem Taekwondo. Hatte ihre Herkunft einen Einfluss auf die Sportkarriere?
Durchaus auch positiv, erzählt Folgmann. „Ich bin immer auf dem Boden geblieben. Ich konnte die vielen Reisen und Erfolge immer sehr wertschätzen.“ Möglich wird ihre Karriere auch durch einen engagierten Heimatverein: Der habe ihr Reisen nach Nordamerika oder Australien finanziert, habe Sponsoren für sie gefunden. Rund zweimal im Monat muss die Topathletin zu Wettkämpfen ins Ausland, zudem Startgebühren zahlen. „Ohne meinen Verein und die Sponsoren hätten wir uns das auf Dauer nicht leisten können.“
Wer in Deutschland sozioökonomisch benachteiligt ist, ist gerade in unterfinanzierten Sportarten so wie Folgmann auf den Verein angewiesen: Manche können oder wollen solidarisch sein, anderswo müssen Athlet:innen Flüge und Unterkünfte selbst bezahlen. Folgmann berichtet, sie kenne durchaus Athletinnen mit einem vergleichbaren Background. Aber die Herkunft habe einen Einfluss.
Wer kein Abi hat, muss zum Bund
Auch auf die Laufbahn neben dem Sport. „Meine Mutter wollte, dass ich zur Bundeswehr gehe, weil ich da finanziell abgesichert bin. Aber mein Trainer hat gesagt: Wir kriegen das auch anders hin.“ Wieder beißt sie sich durch: Mehrere Stipendien ermöglichen Madeline Folgmann ihr Studium.
Sie gehört damit zum hochqualifizierten Milieu des deutschen Spitzensports. Wesentlich schwerer hat es, wer etwa kein Abitur vorweisen kann. Allen Ansprechpartner:innen für diesen Text ist kein Ausbildungsstipendium für Spitzensportler:innen bekannt, jenseits der Förderstellen bei Bundeswehr und Polizei.
„Ich hatte überlegt, eine Ausbildung als Physiotherapeutin zu machen“, so Folgmann. Doch die monatlich 600 Euro Gebühren habe sie nicht aufbringen können. Ausbildungen seien auch mit Spitzensport kaum vereinbar. Dort gilt, plakativ gesagt: Wer kein Abi hat, muss zum Bund. Eine massive Benachteiligung, gerade für andere Schulabschlüsse.
Ähnliches berichtet der Verein Athleten Deutschland, der sich für die Belange von Athlet:innen einsetzt. Tarek Elias, Referent für Policy und Public Affairs, sagt: „In Deutschland verlangen die Ausbilder, vor Ort im Betrieb zu sein, das ist mit der Lebensrealität nicht vereinbar.“ Allerdings würden die meisten Spitzensportler:innen ohnehin studieren.
Viel Selektion passiert offenbar schon vorher. Elias sagt: „Viele Kaderathlet:innen können sich Leistungssport erst leisten, weil ihr Umfeld sie unterstützt. Bei ganz vielen leisten die Eltern einen signifikanten Beitrag.“
Athleten Deutschland erlebe eine große Spannbreite: Eine Minderheit mache sich jeden Monat um ihre Rechnungen Sorgen, es gebe auch eine Minderheit, die sehr gut verdiene. Und große Diskrepanzen zwischen den Sportarten. „Im nicht-olympischen Sport und paralympischen Sport gibt es signifikant weniger Sportförderstellen, da ist die Lage viel prekärer.“ Auch sei etwa gerade für Para-Athlet:innen ein bezahlbarer Versicherungstarif fast unmöglich.
Mehr frühzeitige Förderung nötig
Athleten Deutschland vertritt eine Reihe von Forderungen: Eine gesetzlich geregelte Mindestabsicherung für 24 Monate für die Bundeskader statt aktuell 12 Monaten, 1.800 Euro Mindestförderung, eine zweckgebundene Zahlung für die Altersvorsorge und eine Kostenübernahme für den Versicherungsschutz. Aber reicht es, erst bei fertigen Athlet:innen anzusetzen? Und geht es nicht auch um Breite statt Spitze?
Madeline Folgmann wünscht sich, dass man viel früher mit der Unterstützung beginne. Es brauche deutlich mehr Schulangebote wie Schnuppertage oder Sport-AGs, wo man alle Kinder erreiche. Und eine frühzeitigere Geldförderung für Auslandsreisen. Lukas Winkler sähe gern einen Förderverein für Sportler:innen aus prekärem Haus, eine Taskforce zum Thema und systematische Konzepte zur dualen Karriere, mit anderen Optionen als bloß der Bundeswehr.
Mit Mitstreiter:innen vor Ort setzt er sich außerdem für lockerere Wettkampfkonzepte ein, wo Kinder nicht direkt ausscheiden. Leicht sei das nicht: „Die Strukturen bestehen seit Jahrzehnten. Viele sagen: Das haben wir schon immer so gemacht.“
Der Sport müsse sich zudem politisch für den Sozialstaat stark machen: „Der Sport hängt stark von der Politik ab. Er müsste sich viel mehr positionieren, aber er will keine Angriffsfläche bieten.“ Zum Thema Ungleichheit gibt sich auch Athleten Deutschland wenig positionsfreudig. „Es ist Aufgabe des organisierten Sports, dazu eine verlässliche Datengrundlage zu schaffen“, so Tarek Elias.
Bei ihnen habe es AGs zu Rassismus und Gleichstellung gegeben, diese Schwerpunkte hätten die Mitglieder gewünscht. Wenn viele Spitzensportler:innen aus privilegierten Verhältnissen stammen, ein Teufelskreis. „Ich habe zu Sport und Klasse kaum Diskussionen wahrgenommen“, so Elias. „Sport lässt Menschen über Differenzen hinwegsehen.“ Vielleicht ist genau das das Problem.
Lukas Winkler hofft derweil darauf, dass der Sport das Thema überhaupt erkennt. Und sich dazu bekenne. „Es müsste eigentlich einen Riesenaufschrei geben.“
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