Umgang mit NS-Forschung: „Rasse-Akten“ sind nichts für Rassisten
Bis in die 60er-Jahre griffen Forscher bei Sinti und Roma auf NS-Dokumente zurück. Ein neues Abkommen will vor weiterem Missbrauch schützen.

An diesem Montag werden Rose und der Präsident des Bundesarchivs Michael Hollmann in Heidelberg einen Kooperationsvertrag unterzeichnen – exakt 44 Jahre nach der Besetzung. Es geht um dieselben Akten, deren Herausgabe an das Bundesarchiv Rose 1981 in Tübingen erzwang: die Dokumente der „Rassehygienischen Forschungsstelle“ aus der NS-Zeit.
Die 1935 eingerichtete Institution nahm die „Zigeunerfrage“ in den Mittelpunkt ihrer pseudowissenschaftlichen Forschungen. Ihr Leiter Robert Ritter glaubte mithilfe der Untersuchung von Sinti und Roma deren angebliche Neigung zu Kriminalität und Nichtsesshaftigkeit erklären zu können. So entstand mithilfe von erzwungenen Verhören, ausgefüllten Fragebögen, Haarproben und Fotografien eine umfangreiche Kartei, die der Frage nachging, ob es sich bei den Betroffenen etwa um „Störenfriede“, „Schmarotzer“, „Unstete“ oder „Gewaltverbrecher“ handelte.
Den Untersuchungen folgte schon bald eine rassistisch begründete Kriminalisierung. Angeblich „arbeitsscheue“ Sinti und Roma gerieten ab 1938 in KZ-Haft, zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ wurden Angehörige der Minderheit kategorisiert – entscheidend war dabei der „deutsche Blutanteil“. Bis 1939 hatte die „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ 30.000 Menschen erfasst. 1942 begann der Massenmord an Sinti und Roma in Europa.
Schutz vor Missbrauch
Vor 44 Jahren ging es den Besetzern um Rose darum, dass diese Papiere endlich aus der Hand vorgeblicher Wissenschaftler, die das Material auch nach dem Krieg nutzten, ins Bundesarchiv gelangen sollte. Die Aktion damals hatte Erfolg. Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt, wie die illegal gelagerten Akten in einen Kleintransporter verladen wurden, der sie ins Bundesarchiv brachte.
Die an diesem Montag zu treffende Vereinbarung soll dafür sorgen, dass die Papiere nicht erneut von Rassisten genutzt werden. Die wissenschaftliche Forschung bleibe frei, soll sogar gefördert werden, betont Thomas Tews vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gegenüber der taz. Verhindern möchte man, dass die unter der Signatur R 165 archivierten Unterlagen in die falschen Hände geraten, etwa von Rechtsradikalen. „Die Weiterverwendung von Reproduktionen ist grundsätzlich untersagt“, heißt es in der Vereinbarung. So soll verhindert werden, dass etwa Bilder oder plastische Abbildungen von Verfolgten veröffentlicht werden.
In vielen Fällen, so Tews, handele es sich um die letzten Erinnerungen an Menschen, die von den Nazis später ermordet worden sind. Ein „Meilenstein in der Aufarbeitung der Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma in Deutschland“ sei die Übereinkunft, schreibt der Zentralrat. „Diese NS-Akten sind die Planungsunterlagen für den systematischen Völkermord an den Sinti und Roma im NS-besetzten Europa. Sie dokumentieren, dass Holocaust auch die Ermordung von 500.000 Sinti und Roma bedeutet“, erklärte dazu Rose gegenüber der taz.
NS-Forschung in BRD genutzt
Gegen den „tief verwurzelten Antiziganismus“, der „in letzter Zeit wieder offener und lauter zutage“ trete, wolle man gemeinsam nach Methoden und Präsentationsformen suchen, „um Wissenschaft und Öffentlichkeit besser über das Archivgut zu informieren“, heißt es in der Vereinbarung.
Das erscheint angesichts der Nachkriegsgeschichte des Aktenbestands mehr als geboten. Die Beschäftigung von Anthropologen mit dem erstellten Material endete nämlich keineswegs mit dem Ende des NS-Regimes. So nutzte die frühere Mitarbeiterin der „Rassehygienischen Forschungsstelle“ Sophie Ehrhardt (1902-1990) an der Uni Tübingen jahrzehntelang die NS-Akten weiter für ihre „antiziganistischen Forschungen“, wie der Zentralrat beklagt.
Noch 1969 veröffentlichte Ehrhardt einen Aufsatz über „Zigeunerschädel“. Sie hatte vor ihrer Beschäftigung an der „Rassehygienischen Forschungsstelle“ „rassenkundliche Untersuchungen“ an Juden in Konzentrationslagern und im Ghetto Lodz durchgeführt. Bis heute verschwunden sind die „Rassegutachten“ aus Ritters Behörde. Vermutlich haben Mitarbeiter des Instituts die Dokumente gefleddert.
Mit der Vereinbarung solle „einem erneuten Missbrauch der NS-Dokumente wie in der Tübinger Zeit entgegengewirkt und die Wahrung der Würde der erfassten und ermordeten Personen sichergestellt werden“, schreibt das Bundesarchiv. Es gehe dabei auch um schutzwürdige Interessen Betroffener oder ihrer Angehörigen.
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