Die Wahrheit: Immer dieselbe Platte
Warum braucht es neuerdings in den Fernsehnachrichten emotionale Fallbeispiele, deren Verkörperungen einen im eigenen Wohnzimmer besuchen kommen?
R outinen erleichtern das Leben: Seit meiner Kindheit weiß ich, dass mit der „Tagesschau“ der Abend beginnt. Da ploppt die Bierflasche auf zur Käsestulle mit Deko-Radieschen, und die Schuhe werden endlich ausgezogen; zugleich fühlt man sich aber doch nicht nur als Feierabendschluffi, sondern als guter Bürger, weil man sich immerhin über das Weltgeschehen informiert. Erfreulicherweise tut man das in behaglichem Abstand zu den gezeigten Kriegen und Bürgerkriegen, zu Naturkatastrophen und politischen Vollversagern. Auf dem Sofa bleibt alles in Ordnung.
Seit einiger Zeit überlege ich allerdings, meine Knechtschaft zu brechen. Ja, Susanne Daubner wird mir als tägliche Dame der Weltübersicht fehlen, die anderen werden es eher nicht so. Der, dem ich jedes Mal zugerufen habe: „Grins nicht so aufdringlich!“, ist sowieso schon weg, obwohl er mich angeblich nicht hören konnte. Das jedenfalls behauptet der Liebste; ich glaube aber, das konnte er doch.
Dass die Fernsehnachrichten nicht die unmittelbare Wahrheit verbreiten, weiß ich, seit in den späten achtziger Jahren mal in der anschließenden Wettervorhersage ein „schallplattenförmiges Tief über Westeuropa“ vorkam. Fake News! Und das, bevor Donald Trump überhaupt in den Nachrichten auftauchte. Tiefs sind elefantenohrförmig, elipsoid oder sehen aus wie breit getretener Apfel, das weiß doch jedes Kind.
Nein, ich hänge keinen Verschwörungstheorien an, ich bin nur endgenervt von der Durchanekdotisierung der Nachrichten. Egal, um was es geht, Bürgergeld, Bildungsmisere, Mittelstand oder eine Kommission zur Kürzung von irgendwas – immer wird ein Fallbeispiel hervorgekramt, als ob wir alle nicht mehr in der Lage seien, etwas zu verstehen, das abstrakter daherkommt als der Tratsch von nebenan.
So bevölkern in unablässiger Folge alleinerziehende Mütter, von der Mehrwertsteuer geplagte Gastronomen, Dieselfahrer, verschrobene Schraubenproduzenten, beleidigte Bauern und verdummte Schüler mein Wohnzimmer, damit die Nachrichten einen Namen und ein Gesicht bekommen. Und dann gehen sie nicht mehr weg von meinem Sofa, etwa Yvonne S., 35, ohne Geld am Monatsende. Ich weiß doch auch so, dass die Kürzung des Bürgergelds zu Hunderttausenden Ohnegelds führt! Was wollt ihr von mir, etwa meine Emotionen, ihr manipulativen Flachpfeifen? Die könnt ihr bekommen, direkt und ungefiltert, ja authentisch, ich bin doch nicht bescheuert, und grinst gefälligst nicht so aufdringlich!
Falls ich trotz all der vor die Kamera gezerrten Fallbeispiele nicht weiß, was ich über dieses oder jenes denken soll, liefern die News noch eine Straßenumfrage obendrauf, denn der Volontär soll ja auch mal ran. Da dürfen Menschen ohne besondere Ahnung von der Materie – egal, von welcher – endlich auch mal sagen, was ihnen so durchs Hirn rauscht. Ich will mich nicht festlegen, aber wahrscheinlich ist es schallplattenförmig.
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