Verhandlungen zum Plastikabkommen: Stillstand im Kunststoffmorast
Die Vereinten Nationen verhandeln über ein Abkommen gegen Plastikmüll. Kurz vor Schluss sind wichtige Fragen noch offen.

Die französische Umweltministerin Agnès Pannier-Runacher kritisierte die blockierenden Länder ganz offen: Besonders „die Golfstaaten, Russland und die USA“ würden die Verhandlungen behindern, sagte sie der Zeitung Les Echos.
Bis Donnerstag müssen die Diplomat*innen in Genf zu einem Ergebnis kommen. „Wir wissen noch nicht, wohin die Reise geht“, sagte Melanie Bergmann der taz. Sie ist Forscherin am Alfred-Wegener-Institut und begleitet die Verhandlungen.
„Wenn wir jetzt zu keinem Ergebnis kommen, wird es wahrscheinlich lange keinen neuen Anlauf geben“, fürchtet sie. „Die geopolitische Lage vereinfacht sich nicht.“
Zahlreiche Belege für Gesundheitsschäden
Richard Thompson, Biologie-Professor an der Universität Plymouth, hält ein Abkommen für „dringend notwendig“. „Selbst wenn deutlich mehr recycelt wird, kommen wir den steigenden Produktionsmengen nicht hinterher“, sagt er.
Megan Deeney von der London School of Hygiene and Tropical Medicine warnt vor den gesundheitlichen Schäden durch Plastik: Studien hätten gezeigt, dass Menschen in den USA, Großbritannien und Taiwan, die in der Nähe von Plastikfabriken wohnen, 30 Prozent häufiger Leukämie bekommen. In Südkorea litten Raffineriearbeiter*innen dreimal häufiger an Mund- und Rachenkrebs. Außerdem seien 2018 allein in Zusammenhang mit der Chemikalie DEHP 350.000 Menschen vorzeitig an Herz-Kreislauf-Erkrankungen gestorben.
„Viele haben noch nicht verstanden, dass es nicht gesund ist, in Plastik verpackte Lebensmittel zu sich zu nehmen“, sagt Bergmann. Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme und eine sinkende Fruchtbarkeit stünden in Zusammenhang mit den Chemikalien in Kunststoffen von Lebensmittelverpackungen.
„Bei jedem Lebensmittel, das auf Nanoplastik untersucht wurde, haben wir auch welches gefunden“, sagt Martin Wagner, Professor an der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie.
Reifenabrieb ist ein großes Problem
Einen bedeutenden Anteil an dem allgegenwärtigen Plastik hat auch der Abrieb von Reifen: „Die Partikel von Autoreifen machen mir mehr Sorgen als alles andere, was ich in meinen 25 Jahren im Feld gesehen habe“, sagt Richard Thompson. Ein Reifen verliere im Laufe seiner Nutzung vier Kilogramm an Plastikpartikeln.
„Diese Partikel haben eindeutig zu einem Massensterben von Lachsen in Nordamerika geführt“, fügt der Norweger Wagner an. Aber ob diese Plastiksorten Teil des Abkommens werden, ist noch nicht geklärt: Auch über Definitionen von Plastik streiten sich die Verhandler*innen.
Die Landwirtschaft ist ebenfalls betroffen. „Mikroplastik kann Ernten verringern, weil es den Nährstoff- und Stickstoff-Kreislauf beeinflusst und sich auf die Artenvielfalt im Boden von Würmern zum Beispiel auswirkt“, sagt Marie-France Dignac, die am französischen Forschungsinstitut für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt arbeitet. Das Mikroplastik könne durch die Wurzeln und wahrscheinlich auch durch die Blätter in die Pflanzen eindringen.
Darüber hinaus gehen drei bis fünf Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes auf die Produktion von Plastik zurück, mehr als die CO2-Emissionen des gesamten afrikanischen Kontinents.
Ehrgeizige Staaten könnten eigenes Abkommen schließen
Sowohl die Plastikproduktion zu begrenzen, als auch bekanntermaßen schädliche Chemikalien aus dem Verkehr zu ziehen, seien deshalb zentrale Elemente eines erfolgreichen Abkommens, sagt Bergmann.
Falls es nicht zu einer Einigung kommen sollte, gebe es aber auch eine andere Option: „Parallel zu einem wenig ambitionierten UN-Abkommen könnten sich ehrgeizigere Staaten zusammentun und ein eigenes Abkommen ohne UN aushandeln, wie es beim Ottawa-Vertrag für ein Verbot von Landminen der Fall war“, schlägt Melanie Bergmann vor.
Die Koalition der ehrgeizigen Staaten auf der Konferenz zählt mehr als 130 Mitglieder, darunter die EU, Australien, Kanada, Südkorea und zahlreiche afrikanische und lateinamerikanische Länder, aber in den UN müssen sich für ein Abkommen alle einig sein, die Mehrheit reicht nicht.
„Wenn diese Staaten eine kritische Masse bilden und strengere Vorgaben vereinbaren, könnten nach und nach immer mehr Staaten dazukommen und auf die weltweite Plastikindustrie einwirken“, so Bergmann.
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