piwik no script img

Ins Gespräch gehen

Mit Kind und der Arbeit fühlen sich Alleinerziehende oft so allein gelassen wie allein. Ein Start-up will das mit Wandertouren ändern. Unterwegs mit einer Müttergruppe

Sozialer Austausch in der Natur: Alleinerziehende unterwegs beim Sprechlaufwandern

Aus Berlin Karlotta Ehrenberg (Text und Foto)

Fast wäre Norma* nicht gekommen. Das Abwägen, ob neben Kind, Haushalt und Beruf noch Zeit für sie selbst bleibt, gehört für die Alleinerziehende zum Alltag. „Ich dachte: Och, nee, jetzt kommst du schon wieder zu spät. Geh ich überhaupt noch hin?“

Aber dann ist sie doch noch zu dem Treffpunkt gekommen, Samstagmorgen um neun auf einem S-Bahnhof am Stadtrand von Berlin. Heute ist die letzte der sechs Wandertouren einer Gruppe Alleinerziehender, organisiert von „Sprechlaufwandern“. Das Start-up organisiert Wandertouren, bei denen es neben der körperlichen Ertüchtigung und dem Kontakt zur Natur auch und vor allem um sozialen Austausch geht, unterstützt von einem „Buddy“ mit Tipps für Problemlagen rund um Körper und Psyche. Die Gruppe der Alleinerziehenden ist dank einer EU-Förderung für die Teilnehmenden kostenlos.

In rund 31 Prozent der Berliner Familien gibt es nur ein Elternteil. Damit gibt es mehr Alleinerziehende als Familien unverheirateter Paare. Man mag annehmen, dass sich die Hauptstadt längst auf die Bedürfnisse dieser Gruppe eingestellt hat. Aber dem ist nicht so. „Viele Angebote richten sich nur an Eltern mit Kindern bis zu einem Jahr“, sagt Norma. „Oder sie sind zu weit weg, das schaffe ich zeitlich nicht.“

Deshalb sei sie auch auf das Projekt in ihrem Bezirk Pankow sofort angesprungen, so wie auch Alexandra, Mutter einer fünfjährigen Tochter, die sagt: „Ich muss wieder mehr in Bewegung kommen.“

Nach ein paar Aufwärmübungen, angeleitet von Claudia Kerns, Gründerin von Sprechlaufwandern, geht es los. Trotz der frühen Stunde ist die Stimmung gut, es wird gelacht und drauflosgeplappert. Die sieben Teilnehmerinnen haben viele Themen mitgebracht, die sie mit „Buddy“ Claudia Kerns und den anderen Frauen besprechen wollen. Im Alltag könne sie „keine zwei Sätze reden“, sagt Norma. Ihr Sohn ist zwei. „Wenn ich sage: Mama hat gerade keine Zeit, dann wird geschrien, geweint, getrampelt“, schildert sie. Nicht mal mit ihrer Mutter könne sie sprechen, dabei sehe sie diese täglich. „Die weiß gar nicht, wie es mir geht.“

Bei der Mutter ist der Sohn auch jetzt, sie wohnt im selben Haus. Orga bedeute das aber trotzdem, so Norma, die Mutter sei selbst noch berufstätig. Alexandra hat sich für jede der Wandertouren eine andere Betreuung organisieren müssen, meist hätten Freunde aufgepasst, einmal sei der Vater eingesprungen, heute ist die Tochter bei einem Kind zu Besuch. All das sei für sie „extrem aufwendig“ gewesen.

Die Frage kommt auf, ob mit dem Angebot von Sprechlaufwandern nicht vor allem die erreicht wurden, die es ohnehin schon etwas leichter haben – bis auf Alexandra haben alle Frauen Familie in Berlin oder größere Kinder, die keine Rund-um-die-Uhr-Betreuung mehr brauchen. „Uns geht es um Empower­ment“, sagt Claudia Kerns. Alleinerziehende sollten selbst aktiv werden und so Selbstwirksamkeit erfahren. „Wenn die Frauen oder Männer es nicht schaffen, ihre Kinder wegorganisiert zu bekommen, dann, sag ich aus psychologischer Sicht, sind sie noch nicht so weit.“

Biancas Tochter ist gerade volljährig geworden. „Ich habe aber trotzdem das Bedürfnis, mitzulaufen, um anderen was von meiner Erfahrung mitzugeben“, sagt sie. Zugleich arbeite sie ihre Geschichte auf. 15 Jahre war sie alleinerziehend, zum Zeitpunkt ihrer Trennung war die Tochter drei. „Man hat immer die Uhr im Nacken“, beschreibt sie ihr damaliges Leben zwischen Job und Kind. Weil eine Tante in Berlin Hilfe anbot, zog sie in die Hauptstadt. „Ich musste eine Wohnung suchen und einen Job“, erzählt sie. Beides klappte, ja, selbst einen Kitaplatz ergatterte sie: „Eine Kita-Leiterin hat meine Situation verstanden.“ Neben Glück und Vitamin B sei es vor allem das kleine Netzwerk gewesen, das ihr geholfen hatte, sagt Bianca. Freunde passten auf das Kind auf, ehemalige Kollegen halfen beim Einrichten und die Eltern mit nötigem Geld.

Das Bedürfnis nach einem Netzwerk ist auch der Grund, warum Jana mit der Gruppe durch die Wiesen läuft. „An den Wochenenden, an denen der Kindsvater dran war, hab ich meist nur auf der Couch gehangen, um den Stress zu verdauen.“ Das allerdings mache lethargisch – und einsam. Alternativen schienen nicht in Sicht, befreundete ZweiEltern-Familien seien meist mit sich selbst beschäftigt, sagt Jana: „Die posten Bilder, wie sie im Wald sind und andere schöne Sachen machen.“ Andere Freunde, die wie sie gern in Bewegung und Natur seien, habe sie nicht. Jana: „Deshalb bin ich froh, dass mich der Instagram-Algorithmus auf dieses Projekt gebracht hat.“

Im Unterschied zu den anderen Frauen, deren Beziehungen nach der Kindsgeburt in die Brüche gingen, hat Kathrin ihren Status als Alleinerziehende selbst gewählt, sie ist Mutter eines vierjährigen Pflegekinds. Die Veränderung in ihrem Leben kam so plötzlich wie der Anruf, der das Kind vor anderthalb Jahren angekündigt hat: „Der Tagesablauf war von jetzt auf gleich ein ganz anderer.“ Die größte Herausforderung sei für sie, Job und Kind miteinander zu vereinbaren, sagt Kathrin. „Ich habe meine Zeit auf 60 Prozent reduziert, aber weniger Arbeit geworden ist es nicht. Ich setze mir manchmal richtig Termine mit meinem Kind, damit ich nicht in die Falle tappe, noch länger zu arbeiten.“ Ein richtig schlechtes Gewissen habe sie, wenn ihr Kind in der Kita auf sie warte.

Dass schlechtes Gewissen zum Alleinerziehenden-Dasein fest dazugehört, erzählen auch andere. „Das ist mein Grundgefühl: keinem gerecht zu werden, der Arbeit nicht, dem Kind nicht, mir selbst nicht“, sagt Norma. Dabei sind es nicht nur sie selbst, die solch hohe Erwartungen an sie stellen. Die Frauen berichten, dass sie sich nach außen hin beweisen müssten, um dem Generalverdacht zu entkommen, sie könnten sich allein nicht gut um ihr Kind kümmern.

Auch auf Arbeit heißt es sich zu bewähren, gejammert wird so wenig wie auf Sonderrechte gepocht. „Das wusste keiner, dass ich schon die Welt gerettet hatte, wenn ich morgens um neun auf der Arbeit erschienen bin“, berichtet Christiane, Mutter einer bereits erwachsenen und einer 14-jährigen Tochter. „Welche Wege ich bis dahin schon zurück gelegt hatte!“

Eine Alleinerziehende will namentlich nicht genannt werden, weil niemand wissen darf, dass ihr der Chef flexiblere Arbeitszeiten genehmigt hat, „das erzeugt bei den Kollegen Neid“. Auch Bianca erzählt, dass im Kollegium genau registriert wurde, dass sie später kam, dabei hatte sie ihre Arbeitszeit nur auf 35 Stunden verkürzt: „Du bist immer die, die weniger arbeitet.“

Dass die Alleinerziehenden auf die Gunst ihrer Ar­beit­ge­be­r:in­nen und Kol­le­g:in­nen angewiesen sind, ist hierzulande die Regel. Anders als etwa in Schweden ist das Eingehen auf familiäre Bedürfnisse in deutschen Unternehmen immer noch nicht selbstverständlich. Während in Schweden Überstunden kaum mehr üblich sind, gelten sie in Deutschland immer noch als Zeichen für gute Mitarbeit. Teilzeitarbeit ist zwar oft möglich, hat jedoch einen Preis. „Ich musste mehr in weniger Zeit schaffen“, sagt Christiane. „Außerdem fehlt das Geld in der Rentenkasse.“ Kein Wunder also, dass es sich bei alters­armen Menschen häufiger um Frauen handelt, sie machen auch das Gros der Alleinerziehenden aus (in Berlin rund 80 Prozent).

Und auch sonst tragen Alleinerziehende das höchste Risiko, in Armut zu fallen, zeigt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2024, „41 Prozent gelten als einkommensarm“. Zwar habe es finanziell immer gereicht, sagt Christiane, „große Sprünge konnte ich mir aber nie erlauben“ – im Gegensatz zu vielen anderen Familien in Pankow. Anders als diese Doppelverdienerhaushalte könne sie sich eine Reise nach Amerika, eine Eigentumswohnung oder Sparen für das Alter nicht leisten. Norma erzählt, dass sie mit großen Existenzängsten gerungen habe, als ihr Partner sie verließ. „In der Elternzeit bekommt man ja nur maximal 1.800 Euro – allein die Miete kostete 2.000.“ Dass sich Alleinerziehende derart Sorgen machen müssen, findet Norma ungerecht, Care-Arbeit solle entlohnt werden, etwa in Form eines Grundeinkommens.

„Das ist mein Grundgefühl: keinem gerecht zu werden, der Arbeit nicht, dem Kind nicht, mir selbst nicht“

Norma, eine der Mitwandernden

Es ist die einzig konkrete Forderung, die auf der heutigen Wanderung formuliert wird. Mehrere Alleinerziehende berichten jedoch, dass sie sich und ihre Situation inzwischen anders wahrnehmen – sie sind stolz auf sich. „Claudia sagt immer: Wir Alleinerziehenden haben eine Superpower“, sagt Alexandra. „Wir sind keine schlechtere Familie, nur weil wir zu zweit sind.“ Auch Christiane will sich nicht länger verstecken: „Dass ich getrennt lebe, habe ich immer als Scheitern begriffen. Jetzt kann ich sagen: Ja, ich bin alleinerziehend und habe zwei tolle Kinder und habe das geschafft.“

Sich gegenseitig zu empowern und miteinander zu vernetzen, diese Ziele scheinen durch das gemeinsame Wandern erreicht worden sein. Das EU-geförderte Alleinerziehenden-Projekt wird die Unternehmerin Claudia Kerns trotzdem nicht fortführen – es rechne sich nicht, zu viel Büroaufwand.

Vielleicht ist das aber auch nicht so schlimm. Denn es stellt sich ohnehin die Frage, ob öffentliche Gelder für Alleinerziehende statt in Selbstoptimierungsprogramme nicht doch eher in bessere Betreuungsangebote fließen sollten und in die Honorierung von Care-Arbeit. Das würde nicht nur zu weniger Stress und mehr Wohlbefinden führen, sondern auch ein spürbares Zeichnen gesellschaftlicher Anerkennung sein.

*Die Alleinerziehenden wollen öffentlich nur mit Vornamen oder gar nicht genannt werden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen