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Blick auf das türkisch-iranische Grenzgebiet in der Provinz Van Foto: Alba Cambeiro/imago

Grenze zwischen der Türkei und IranNiemand hat die Absicht, diese Mauer zu kritisieren

Seit mehreren Jahren sichert die Türkei ihre Grenze zu Iran. Über die Toten oder die Schleuserkriminalität seitdem reden sie vor Ort nur zögerlich.

Von Miriam Meyer aus Van

I smayil hat eine Gebetskette in der Hand, die er langsam durch seine Finger gleiten lässt. Hinter ihm weht eine übergroße türkische Flagge im Wind, daneben steht ein weißer Container – das Büro des Dorfvorstehers, heute verlassen. Ismayil schweigt. Dann zeigt er hinüber zu den kahlen Hügeln. „Dort ist Iran“, sagt er leise und deutet mit dem Zeigefinger auf den Berg.

Ein abgelegenes Dorf am Rand der Türkei – nur wenige Kilometer von der iranischen Grenze entfernt, abgeschieden, klein, lange vergessen. Früher lebten hier bis zu 800 Menschen, darunter auch Iraner:innen, die die Abgeschiedenheit suchten. Heute sind es noch etwa 200. Viele Häuser stehen leer, Fenster sind mit Decken verhängt, Türen offen, Dächer eingefallen.

Die Landwirtschaft, einst Lebensgrundlage, ist fast zum Stillstand gekommen. Wer geblieben ist, lebt zwischen Militärsoldaten, Isolation und Erinnerung. Eine Autostunde westlich liegt Van – die Provinzhauptstadt. Dort leben 1,1 Millionen Menschen, die meisten von ihnen Kurden. Van war einst, besonders bis in die 1970er Jahre, eine florierende Grenz- und Handelsstadt – ein Knotenpunkt für den Austausch mit Iran, Armenien und Zentralanatolien. Ein offenes Tor in den Osten.

Ismayils Gesicht ist von Sonne und Wind gezeichnet, tiefe Furchen durchziehen es. Dort an der Grenze ist der Sommer trocken und nicht zu heiß, der Winter lang und erbarmungslos. Wenn der Schnee kommt, türmt er sich meterhoch – fünf, sechs Meter. Schweigend blickt Ismayil über die kahlen Hügel. Seinen Nachnamen nennt er nicht. Über die Mauer zu sprechen, sagt er, sei gefährlich. Seit 2024 gilt sein Grenzdorf offiziell als militärisches Sperrgebiet.

Die Bewohner wissen, was von ihnen erwartet wird: Wer gefragt wird, soll sagen, dass alles in Ordnung sei, dass die Mauer Sicherheit bringe. Denn wer sich nicht fügt, riskiert Strafen, Verhöre, Schikane. Auch Ismayil zögert lange, bevor er zu erzählen beginnt.

„Seit letztem Jahr kommt kaum noch jemand durch“, sagt er. Dann senkt er die Stimme und schaut sich um, ob jemand zuhört: „Nur im Winter. Wenn der Schnee das Militär fernhält.“ Er zeigt auf einen Abschnitt der Mauer, von dem nur wenige Meter aus dem Dorf sichtbar sind. „Mit Leitern schaffen es manche noch – aber viele bleiben im Schnee liegen.“ Für viele endet der Weg, wie er sagt, „nicht in Van – sondern hier“. Meistens unter der Erde.

Fünf Meter hoher Beton, überwacht mit Kameras, Drohnen und Patrouillen – finanziert auch mit EU-Geldern

Seit 2017 baut die Türkei eine Mauer entlang der 534 Kilometer langen Grenze zu Iran – ein Prestigeprojekt des Innenministeriums, offiziell zur Abwehr von „grenzüberschreitendem Terrorismus“ und „illegaler Migration“. Fünf Meter hohe Betonblöcke, gekrönt von Stacheldraht, überwacht mit Kameras, Drohnen und Patrouillen – finanziert auch mit EU-Geldern. In abgelegenen Dörfern spüren die Menschen die Mauer erst seit Kurzem. Wo früher Landwirtschaft, Flucht und Schmuggel nebeneinander existierten, brach mit dem Bau eine ganze Lebensweise zusammen. Häuser wurden aufgegeben, Überwachung ersetzte den Alltag. Auch Ismayil schmuggelte einst Flüchtlinge, die weiter nach Van wollten – bis er erwischt wurde und eine hohe Geldstrafe zahlen musste.

Die Mauer an der iranisch-türkischen Grenze ist mehr als Beton – sie ist europäische Abschottungspolitik in Praxis. Seit dem Flüchtlingsdeal von 2016 fließen Milliarden aus der EU in die Türkei, offiziell für „humanitäre Hilfe“ und „Grenzmanagement“, inoffiziell zur Abschottung. Die Grenze verläuft längst nicht mehr an Europas Küsten, sondern beginnt in Van, Hakkari und Ağrı. Die EU hat ihre Außengrenzen faktisch ausgelagert: In Drittstaaten wie der Türkei werden mit europäischen Geldern Mauern errichtet, Menschen gestoppt, Asylanträge verhindert.

Mit Folgen für die Region: „Das Grenzregime hat eine ganze Schattenindustrie geschaffen“, sagt Mahmut Kaçan, ein erfahrener Menschenrechtsanwalt aus Van. Seit über 26 Jahren arbeitet er als Anwalt, viele Jahre davon für das UNHCR, das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen. Sein Schwerpunkt: Flüchtlings- und Menschenrechte. Er begleitet Verfahren vor dem türkischen Verfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Schmuggel, Fluchthilfe, Überwachung – rund um die Mauer sei ein Netzwerk entstanden, das teils von korrupten Akteuren gestützt werde, so Kaçan: „Wir wissen aus Gerichtsakten, dass auch türkische und iranische Grenzbeamte in Schmuggelnetzwerke involviert sind – durch Bestechung, Wegsehen oder direkte Beteiligung.“

Früher hätten die Bewohner Schafe gehütet oder Felder bestellt. „Jetzt schleusen sie Menschen für 1.500 bis 2.000 Dollar über die Grenze“, erzählt Kaçan. Das Risiko sei vergleichsweise gering: „Selbst wenn jemand erwischt wird, droht ihm meist keine Haftstrafe – das Gesetz greift nicht effektiv. Die meisten kommen mit Bewährung oder Geldbußen davon.“

Ein weiteres Dorf an der Grenze. Dort leben Salih und seine Frau Emine. Der Ort hat knapp 300 Einwohner, die Jungen sind längst weggezogen. Nur Alte und Kinder sind geblieben. Landwirtschaft, einst Lebensgrundlage, ist kaum noch möglich: Tierhaltung ist zu teuer, Dünger unbezahlbar. „Es ist einfach alles zu teuer“, sagt Salih und schüttelt den Kopf. Vor dem Haus steht er in staubigen Arbeitsklamotten, die Hände rau von der Feldarbeit. Hühner laufen gackernd zwischen den Steinen, das Gras ist trocken, spröde. Über dem Dorf liegt eine seltsame Stille. Salih zeigt auf die kahlen Hügel am Horizont. „Dort hinter dem Berg“, sagt er leise, „da ist Iran.“ Fünf Kilometer weiter beginnt die Mauer. Eine Linie aus Beton, fast unsichtbar – aber spürbar.

Aus dem Haus ruft Emine zum Tee. Salih nickt, sagt, er müsse später noch aufs Feld, aber kurz wolle er sich ausruhen. Drinnen ist es kühl. Emine serviert Tee, die Töchter sitzen auf dem Teppich. Salih nimmt im Sessel Platz, die Frau und die Kinder zu seinen Füßen. Die älteste Tochter lebt in Van, sie ist Lehrerin geworden.

Er wirkt abwesend. Dann greift er zum Handy, wischt langsam durch seine Bildergalerie. „Schau“, sagt er, „vor zwei Jahren gab es hier 20, 30 Tote.“ Flüchtlinge – viele erfroren oder verhungert. Einige Bilder hat er gelöscht, andere behalten. Nicht für sich, sagt er, sondern für die Soldaten. Als Beweis, „damit sie sehen, dass es passiert ist“. Auch diese will er bald löschen. Vielleicht. Erst im letzten Winter starb wieder einer. Leise, im Schnee.

Salih lobt die Mauer. Und doch löscht er die Bilder nicht. Vielleicht, weil er doch eine Erinnerung haben will? Doch er sagt jetzt fast trotzig: Endlich kämen keine Flüchtlinge mehr. Auch das Militär sei in Ordnung, man verstehe sich. Emine nickt. „Die Afghanen waren eine Plage“, sagt sie. Vor einem Jahr hätten sie noch an die Tür geklopft – um Brot, um Hilfe. „Wir haben nicht aufgemacht“, sagt Salih.

Die Dorfbewohner Salih und Emine Foto: Miriam Meyer

Emine widerspricht leise. Anfangs hätten sie geholfen – ein Stück Brot, eine Fahrt in die Stadt, ein kurzes Gespräch. Sie konnte die Rufe nicht ignorieren. Doch irgendwann wurde es zu viel. Und zu gefährlich. Wer hilft, riskiert Ärger. „Zum Glück ist jetzt die Mauer da“, sagt sie schließlich. Und lächelt – fast entschuldigend.

Ruşen Takva kennt viele dieser Stimmen. Der Journalist aus Van dokumentiert seit Jahren das Geschehen an der Grenze und wie Menschen an der östlichen Peripherie der Türkei stranden – in einem Land, das sie nicht wirklich aufnimmt, und an den Grenzen einer Europäischen Union, die sie nicht einlässt. Geflüchtete erhalten einen „vorübergehenden Schutz“ oder müssen jahrelang auf ein UN-Resettlement warten. Viele dürfen sich nur in bestimmten Provinzen aufhalten, arbeiten informell, ohne Absicherung

„Manche warten hier seit sieben, acht Jahren auf eine Entscheidung“, sagt Takva. Besonders schwierig sei die Situation für iranisch-kurdische Geflüchtete. „Sie sagen, Perser werden eher genommen als Kurden. Die UN hat das nie bestätigt – aber auch nie widersprochen.“ Und so wird Van für Tausende zum Wartesaal. Manche schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch, andere versuchen, unsichtbar zu bleiben. Viele warten einfach – tage-, wochen-, manchmal jahrelang – auf eine Perspektive, die nicht kommt.

Takva weiß über die legalen wie illegalen Fluchtwege Bescheid – viele ist er selbst abgefahren. Er habe fotografiert, protokolliert, dokumentiert, erzählt er. Natürlich nie ohne Folgen: Einmal, sagt er, beschlagnahmte das Militär sein Equipment und nahm ihn in Untersuchungshaft. Später ließen sie ihn gehen. „Routine“, sagt er kopfschüttelnd.

„Im Jahr 2021 haben wir in einer Nacht allein 3.000 Menschen gesehen“, erinnert sich Takva. Die meisten kamen aus Afghanistan, flohen vor der erneuten Machtübernahme der Taliban. Heute hat sich das Bild verändert. Die Zahlen sind rückläufig, doch die Bewegung hält an. Takva schätzt, dass noch immer täglich 300 bis 500 Menschen die Grenze überqueren – meist Afghanen, Pakistaner oder Bangladescher.

Auch Mahmut Kaçan bestätigt diesen Trend. Der Bau der Mauer habe anfangs eine psychologische Wirkung gehabt: Viele Menschen seien abgeschreckt gewesen, weil sie die Grenze plötzlich als unüberwindbar wahrnahmen. Diese Vorstellung führte kurzfristig zu einem Rückgang der Übertritte. Doch die Wirkung hielt nicht an. Kaçan betont, dass die Netzwerke intakt blieben – Schleuserrouten passten sich an. Menschen gruben Tunnel, nutzten Leitern oder wichen auf andere Übergänge aus. Solange das wirtschaftliche und politische Fluchtnetzwerk existiere, werde die Mauer keine dauerhafte Wirkung haben.

Der Anwalt Mahmut Kacan Foto: Miriam Meyer

Wie sehr sich Migration verändert hat – in ihrer Form, nicht in ihrem Ausmaß – zeigt sich auch im Juni, nach dem iranisch-israelischen Krieg. Ruşen Takva erinnert sich gut an diese Wochen: ­Westliche Medien spekulierten über eine Massenflucht, NGOs bereiteten sich vor, selbst in Ankara herrschte Nervosität. „Aber es kamen keine ­Massen“, sagt er und zuckt die Schultern. Er nimmt einen Schluck Kaffee, zündet sich eine Zigarette an. „Van war zwar voll – mit Tourist:innen, auch aus Iran.“ Sie waren bereits da, als der Krieg begann – aber sie blieben. „Es war keine echte Flucht“, sagt Takva. „Mehr ein Zögern – und dann Rückkehr.“

Zwischen der Türkei und Iran besteht eine ­visafreie Regelung für touristische Aufenthalte: Ira­ne­r:in­nen dürfen für bis zu 90 Tage ohne Visum einreisen. Wer einen gültigen Pass besitzt, kann also problemlos über die Grenze – zumindest offiziell. Und wer darüber hinaus in der Türkei bleibt, der bleibt unsichtbar. Für Afghan:innen, Pakistaner oder Bangladescher ist das unmöglich: Ihre Einreise wird meist schon an der Grenze abgewiesen, es bleibt nur der gefährliche Weg über die Berge.

Viele Ira­ne­r:in­nen reisen nicht als Geflüchtete, sondern mit einem Touristenvisum – für ein paar Tage, manchmal nur für einen Atemzug Freiheit. In einem Café in der Innenstadt sitzt ein iranisches Paar. Sie wollen ihre Namen nicht nennen, wirken aber selbstbewusst und gut gekleidet. Die junge 28-jährige Frau trägt ein schwarzes Kleid mit dünnen Trägern. Wer aus Iran kommt, fällt in Van oft auf – besonders Frauen, die ihr Kopftuch gleich nach der Grenze ablegen, in einer Stadt, in der konservative Kleidung noch immer das Bild prägt.

Das Paar erzählt, dass sie regelmäßig herkommen – „für ein paar Tage Freiheit“, sagt sie. Dann gehen sie zurück. Nicht, weil sie es wollen, sondern weil sie das Gefühl haben, in Iran bleiben zu müssen. „Wenn das Regime fällt, wollen wir dabei sein“, sagt er. Als sich am 24. Juni die Lage nach dem Krieg zwischen Iran und Israel beruhigte, erzählen sie, sei das fast enttäuschend gewesen. Nicht weil sie Krieg wollten – sondern weil sie gehofft hatten, dass diesmal etwas ins Wanken gerät.

Der Journalist Ruşen Takva versteht diesen Zwiespalt. Er erklärt: „Die Opposition in Iran hatte Angst, dass Weggehen als Verrat gilt. Einige kamen, viele kehrten zurück. Sie hatten tagelang nichts von ihren Familien gehört. Keine Anrufe, kein Internet. Viele gingen wieder an die Grenze – nur um zu erfahren, ob ihre Verwandten noch leben.“ Andere wurden von der Realität eingeholt: Das Visum abgelaufen, der Urlaub vorbei, das Geld verbraucht. „Eine echte Kriegsflucht war das nicht“, sagt Takva.

Van selbst ist kein Ort, an dem Flüchtlinge bleiben wollen. Die Stadt und ihre gleichnamige Provinz zählen zu den ärmsten der Türkei – wirtschaftlich abgehängt, strukturell vernachlässigt. Die politische Lage ist angespannt, oft repressiver als anderswo im Land. Rund 80 bis 85 Prozent der Bevölkerung sind Kur­d:in­nen – ihre Identität wird geduldet, aber nicht anerkannt, schon gar nicht gleichberechtigt. Der Staat sieht die Region als Unsicherheitsfaktor, Kontrolle und Überwachung sind allgegenwärtig.

Iraner steigen am Grenzort Kapıköy in einen Minibus. Zwischen der Türkei und Iran besteht eine visafreie Regelung für Touristen Foto: Rusen Takva/ap

Takva spricht von einem Klima des Misstrauens: „Der iranische Geheimdienst hat in Van ein Netzwerk. Regimegegner wurden hier entführt, betäubt, über die Grenze zurückgebracht. Wir wissen von Fällen, wo Menschen tagelang verschwunden waren – und plötzlich in einem Gefängnis in Teheran saßen.“ Solche Operationen geschehen nicht im Verborgenen – und kaum etwas deutet darauf hin, dass Ankara sie aktiv verhindert. Im Gegenteil: Für viele wirkt das stillschweigende Dulden wie politisches Kalkül. Van ist zu nah – und zu gefährlich. Deshalb meiden besonders iranisch-kurdische Flüchtende diesen Weg und weichen auf die Route über Syrien aus.

Doch was in Van und an der Grenze zu Iran geschieht, steht exemplarisch für ein größeres Muster: Geflüchtete sind längst nicht mehr nur Menschen auf der Suche nach Schutz. Sie sind zu politischen Figuren geworden – instrumentalisiert und verschoben wie Spielfiguren auf einem geopolitischen Brett. Wie gezielt diese Strategie greift, zeigt sich dort, wo Flucht zur Akte wird – etwa auf dem Schreibtisch von Mahmut Kaçan.

Der Anwalt sitzt in seinem Büro im Anwaltsviertel von İpekyolu einem Stadtteil von Van. Ein großer Holzschreibtisch, dahinter ordentlich aufgereihte Gesetzesbände, das türkische Strafgesetzbuch, kleine Skulpturen, die wirken wie stille Zeugen. Auf dem Tisch: geöffnete Akten, farbig markierte Gesetzestexte, Notizen in schneller Handschrift – der Arbeitsalltag eines Mannes, der seit über 20 Jahren das sieht, was der Staat lieber unsichtbar hält.

Besonders sichtbar wurde diese Praxis im Frühjahr 2020, als Präsident Erdoğan erklärte, die Grenzen zur EU seien offen. Innerhalb weniger Tage sammelten sich Tausende Geflüchtete am Grenzposten Pazarkule – viele von ihnen stammten aus Abschiebezentren. „Der türkische Staat hat sie selbst in Busse gesetzt und zur Grenze gebracht“, sagt Kaçan.

Nicht die Türkei als Ganzes, sondern die regierende AKP habe in diesem Moment etwas Entscheidendes erkannt: dass sich Geflüchtete als politisches Druckmittel einsetzen lassen – gegen die internationale Gemeinschaft, gegen die „sogenannte zivilisierte Welt“.

Menschenrechtsverletzungen, auch im Zusammenhang mit dem Kurdenkonflikt, würden auf diese Weise gezielt aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit gedrängt. Europa sehe das, sagt er – und schweige. Nicht aus Unwissen, sondern aus politischer Berechnung.

Ismayil steht noch immer im Grenzdorf mit der Gebetskette zwischen den Fingern. Langsam geht er nach Hause, an dem leeren Container vorbei, an der türkischen Flagge, die noch im Wind weht. Ab und an kommen andere Bewohner, sie grüßen sich. Auf dem Hügel hinter ihm ist der iranische Militärposten zu sehen – ein einsamer Turm auf der Spitze. Aus dem Dorf dringt das Brummen eines Baggers. Die Regierung lässt eine neue Straße bauen – mitten durch den Ort. Ismayil zeigt auf die Baustelle. „Sie versuchen, uns mit kleinen Gesten zum Schweigen zu bringen“, sagt er. Dann senkt er den Blick, geht weiter, schüttelt den Kopf. „Leider schaffen die das auch“, murmelt er.

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4 Kommentare

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  • Vielen Dank für diesen traurigen, recht hoffnungslosen Bericht.



    Der Bau von die Landschaft zerschneidenden Grenzmauern weltweit, egal ob US/Mexiko, Belarus/Polen oder Türkei/Syrien oder Iran, ist nicht nur für die dort lebenden Menschen und dort auf ihren fluchtrouten befindliche Menschen dramatisch, sondern auch für die dort lebende Fauna. Über Jahrhunderte genutzte Wanderrouten für die Nahrungssuche als auch den genetischen Austausch werden mit gravierenden , existentiellen Auswirkungen durch diese grenzsicherungen unüberwindbar , aber für die vermeintliche Sicherheit inkauf genommen.



    Die weltweite Aufmerksamkeit für diese Problematik ist dringend zu erhöhen und der weltweite Aufstand gegen diese Vergewaltigung der Landschaften ist aus humanitären und ökologischen Gründen dringend geboten.

  • Wenn ich das Büro von Mahmut Kaçan sehe, fällt mir vor allem eins auf: Es sieht aus wie meines. Die gleichen farbigen Deckel, die gleichen grauen Bände im Regel, das gleiche Poloshirt. Seine Arbeit ist die gleiche wie meine. Überhaupt bemerke ich, dass in Supermärkten in Abidjan die gleichen Nivea-Produkte stehen, während mir Freunde von ihren bitteren Erlebnissen in Libyen berichten, die Menschen im Iran die gleichen Autos fahren wie hier, in denen sie von Anerkennung als Christen erzählen, damit die Ausreise möglich wird, alle das gleiche günstige Samsung-Handy haben wie ich - oder ein iPhone 11, wenn sie sich für Künstler halten - , auf denen die furchtbaren Bilder für die Anhörung gespeichert werden, und alle haben auf die eine oder andere Weise mit Flucht und Vertreibung zu tun. Ist das unsere Zukunft im Klimawandel? Sind wir jetzt alle gleich und alle entweder auf der Flucht oder Adressat der Flucht? Ich glaube, wir sollten unser selbst verursachtes Schicksal im Klimawandel annehmen und sagen: Ja, so ist das. Menschen sind schon immer Nomaden gewesen, wenn die Nahrung knapp wurde. Man muss als Mensch jeden menschlich behandeln. Denn wir könnten selbst die nächsten sein.

  • Für Afghanen ist das ohnehin schwierig, die wissen, seit gefühlten Ewigkeiten, dass aus ihrem Land nichts vernünftiges werden kann und haben in der Regel keine Rückkehrperspektive. Das macht sie in Nachbarländern eher unbeliebt.



    Das iranische Regime nutzt diese Stimmung jetzt und wirft alle Afghanen raus, von den Provinzgouverneuren werden stolz Quoten verkündet. Nach dem Vorbild Trump macht man jetzt die Afghanen für alles Not und Elend verantwortlich, unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Die iranische "Opposition" feiert das in großen Teile und beharkt sich in den sog. sozialen Netzwerken mit Afghanen.



    Wenn man das berücksichtigt, könnte ein "Regimechange" z.b. im Iran von schiitischen Islamismus zum Faschismus führen, ist wohl im Moment der Trend.

  • Früher gab es also eine Schattenwirtschaft (Schmuggel, Migration) als Lebensgrundlage der Menschen, heute gibt es eine Schattenwirtschaft und diese ist verächtlich?