1.130 Tage Krieg in der Ukraine: Fremde Kinder gibt es nicht
Ukrainische Kinder leben unter ständigem Beschuss und kennen es nicht mehr anders. Angst gehört zur Tagesordnung, Schulunterricht läuft nebenher.

J edes Mal, wenn aus dem „Nachbarland“ eine neue Ladung Munition Richtung Odessa fliegt, denke ich an die Kinder. Man hört die Luftabwehr, dann die Explosionen – die erste, die zweite, die dritte … und ich stelle mir vor, wie meine Kinder auf diesen Beschuss reagieren würden. Meine Tochter würde sicher laut rufen: „Papa, ich habe Angst!“. Während mein Sohn so etwas Lakonisches sagen würde wie: „Jetzt müssen wir alle sterben“.
Zum Glück passiert das nur in meiner Fantasie. Bei jedem Beschuss danke ich dem Schicksal, dass meine Kinder in einem anderen Land sind, in dem kein Krieg herrscht. Aber wenn ich morgens das Haus verlasse, sehe ich die Kinder, die hier geblieben sind, im Krieg. Bei uns sagt man: „Fremde Kinder gibt es nicht“.
Wenn ich sie sehe, weiß ich, dass sie vermutlich nachts im Korridor oder Keller gezittert und geschrien haben. Dass sie schon psychische Probleme und Schlafstörungen haben. Und das vielleicht bis zum Ende ihres Lebens. Es ist dann schwer, die Tränen zurückzuhalten. Besonders schlimm ist das in Städten wie Cherson, Slowjansk oder Nikopol, wo der Beschuss fast nie aufhört, während die Kinder auf der Straße spielen.
Für die Menschen in der Ukraine ist der Krieg ein Teil ihres Alltags geworden. Trotz der Todesangst vor Luftangriffen und Kämpfen geht das Leben weiter: Die Menschen gehen zur Arbeit, zur Schule und zur Uni. Sie lieben, lachen, heiraten, bekommen Kinder, machen Urlaub. Sie trauern, sorgen sich – und hoffen auf Frieden.
Man möchte die Eltern anschreien: „Nehmt eure Kinder und dann nichts wie weg!“ Obwohl man weiß, dass sie nicht gehen werden. Denn wohin sollten sie gehen? Die Väter sind in der Armee. Die Mütter waren vielleicht sogar mal weg, sind aber längst wieder zurück, weil sie sich nicht an das Leben im Ausland gewöhnen konnten. Und in der Ukraine wird ja sowieso überall geschossen, wie sie sagen würden. Deswegen sind sie in die frontnahen Städte zurückgekehrt, nach Hause, mit ihren Kindern.
Unterricht zum Überleben
Die Kinder kennen kein anderes Leben mehr. Mit etwas Glück lernen sie in Kellern oder Metro-Stationen. Sonst bleibt nur Online-Unterricht im Bunker, mit schlechtem Netz. Dafür lernen sie, wie eine fliegende Rakete klingt, wohin man bei Drohnenbeschuss rennen muss und wie man Verwundeten Aderpressen anlegt. Das hilft ihnen zu überleben, es macht sie disziplinierter und … leiser. Denn jedes laute Geräusch wird als Beschuss wahrgenommen, sodass die Kinder selbst im sicheren Ausland vor Flugzeugen und Feuerwerk Angst haben.
Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.
Und ständig spielen sie Krieg. In meiner Kindheit haben wir das auch manchmal gemacht, es gab „Unsere“ und „die Faschisten“. Für die ukrainischen Kinder heute gibt es „Unsere“ und „die Russen“. Übrigens unabhängig davon, welche Sprache sie selber sprechen.
Bei den älteren Jugendlichen dreht sich viel um den Schulabschluss. In Charkiw haben gerade Absolventen ihren traditionellen Abschlusswalzer in den Ruinen ihrer von einer russischen Rakete zerstörten Schule getanzt. Relativ viele Absolventen bemühen sich um Studienplätze im europäischen Ausland. Die meisten von ihnen werden danach kaum in die Heimat zurückkommen, denn sie möchten nicht unter ständigem Beschuss leben oder dauernd in den Keller laufen.
Warum ich das alles erzähle? Einfach, damit Sie nicht vergessen, Ihr Kind zu küssen und in den Arm zu nehmen. Ich hoffe, dass Sie diese Möglichkeit haben.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kritik an Bildungsministerin
Viel Halbwissen über ein dänisches Modell
Wie Russland auf Osteuropa blickt
Erst die Ukraine, dann das Baltikum
Fragen und Antworten zur Wohnkrise
Eine riesige Baustelle
Jens Spahn und die Masken
Ungeschwärzte Vorwürfe
Klöckner, Musk, Wagenknecht
Der Zirkus im Bundestag
Grenzkontrollen zu Polen
Sinnlos und gefährlich