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1.130 Tage Krieg in der UkraineFremde Kinder gibt es nicht

Ukrainische Kinder leben unter ständigem Beschuss und kennen es nicht mehr anders. Angst gehört zur Tagesordnung, Schulunterricht läuft nebenher.

Abschied von Tamara (8), Stanislaw (12) und Roman (17), Opfer eines russischen Luftangriffs auf die Stadt Korostyschiw am 25. Mai Foto: Thomas Peter/reuters

J edes Mal, wenn aus dem „Nachbarland“ eine neue Ladung Munition Richtung Odessa fliegt, denke ich an die Kinder. Man hört die Luftabwehr, dann die Explosionen – die erste, die zweite, die dritte … und ich stelle mir vor, wie meine Kinder auf diesen Beschuss reagieren würden. Meine Tochter würde sicher laut rufen: „Papa, ich habe Angst!“. Während mein Sohn so etwas Lakonisches sagen würde wie: „Jetzt müssen wir alle sterben“.

Zum Glück passiert das nur in meiner Fantasie. Bei jedem Beschuss danke ich dem Schicksal, dass meine Kinder in einem anderen Land sind, in dem kein Krieg herrscht. Aber wenn ich morgens das Haus verlasse, sehe ich die Kinder, die hier geblieben sind, im Krieg. Bei uns sagt man: „Fremde Kinder gibt es nicht“.

Bild: privat
Artem Perfilov

Freiberuflicher Journalist und lokaler Produzent aus der ukrainischen Hafenstadt Odessa. Seit Beginn der russischen Großoffensive in der Ukraine begleitet er ausländische Journalisten, unter anderem in die Frontgebiete.

Wenn ich sie sehe, weiß ich, dass sie vermutlich nachts im Korridor oder Keller gezittert und geschrien haben. Dass sie schon psychische Probleme und Schlafstörungen haben. Und das vielleicht bis zum Ende ihres Lebens. Es ist dann schwer, die Tränen zurückzuhalten. Besonders schlimm ist das in Städten wie Cherson, Slowjansk oder Nikopol, wo der Beschuss fast nie aufhört, während die Kinder auf der Straße spielen.

über leben

Für die Menschen in der Ukraine ist der Krieg ein Teil ihres Alltags geworden. Trotz der Todesangst vor Luftangriffen und Kämpfen geht das Leben weiter: Die Menschen gehen zur Arbeit, zur Schule und zur Uni. Sie lieben, lachen, heiraten, bekommen Kinder, machen Urlaub. Sie trauern, sorgen sich – und hoffen auf Frieden.

Man möchte die Eltern anschreien: „Nehmt eure Kinder und dann nichts wie weg!“ Obwohl man weiß, dass sie nicht gehen werden. Denn wohin sollten sie gehen? Die Väter sind in der Armee. Die Mütter waren vielleicht sogar mal weg, sind aber längst wieder zurück, weil sie sich nicht an das Leben im Ausland gewöhnen konnten. Und in der Ukraine wird ja sowieso überall geschossen, wie sie sagen würden. Deswegen sind sie in die frontnahen Städte zurückgekehrt, nach Hause, mit ihren Kindern.

Unterricht zum Überleben

Die Kinder kennen kein anderes Leben mehr. Mit etwas Glück lernen sie in Kellern oder Metro-Stationen. Sonst bleibt nur Online-Unterricht im Bunker, mit schlechtem Netz. Dafür lernen sie, wie eine fliegende Rakete klingt, wohin man bei Drohnenbeschuss rennen muss und wie man Verwundeten Aderpressen anlegt. Das hilft ihnen zu überleben, es macht sie disziplinierter und … leiser. Denn jedes laute Geräusch wird als Beschuss wahrgenommen, sodass die Kinder selbst im sicheren Ausland vor Flugzeugen und Feuerwerk Angst haben.

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Und ständig spielen sie Krieg. In meiner Kindheit haben wir das auch manchmal gemacht, es gab „Unsere“ und „die Faschisten“. Für die ukrainischen Kinder heute gibt es „Unsere“ und „die Russen“. Übrigens unabhängig davon, welche Sprache sie selber sprechen.

Bei den älteren Jugendlichen dreht sich viel um den Schulabschluss. In Charkiw haben gerade Absolventen ihren traditionellen Abschlusswalzer in den Ruinen ihrer von einer russischen Rakete zerstörten Schule getanzt. Relativ viele Absolventen bemühen sich um Studienplätze im europäischen Ausland. Die meisten von ihnen werden danach kaum in die Heimat zurückkommen, denn sie möchten nicht unter ständigem Beschuss leben oder dauernd in den Keller laufen.

Warum ich das alles erzähle? Einfach, damit Sie nicht vergessen, Ihr Kind zu küssen und in den Arm zu nehmen. Ich hoffe, dass Sie diese Möglichkeit haben.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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9 Kommentare

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  • Die europäischen Boomer kennen die Spätfolgen solcher Kindheiten von ihren Eltern, Jahrgänge ca. 1925 bis 1945. - Den Angriff auf das Kinderkrankenhaus in Kiew mit einem Marschflugkörper und die nachfolgend anhaltende Weigerung Marschflugkörper zu liefern habe ich nicht vergessen. Die Unterstützungsverweigerer können sich ja fragen, ob sie bei ihrer Meinung bleiben wollen und wie sie sich dabei fühlen.

  • Hätte der Westen und Selensky 2022 das Istanbuler Verhandlungs-Ergebnis (Krim und Nato-Verzicht) unterstützt, hätte die Ukraine seit 3 Jahren Frieden und wäre auf dem Weg in die EU.



    Wer Frieden will, sollte die Interessen aller Großmächte berücksichtigen. Die Amerikaner akzeptierten ja auch keine Sowjet-Raketen auf Kuba.



    Trump sagte, mit ihm wäre der Krieg nicht ausgebrochen.



    Ich denke, auch mit Merkel nicht.



    Sie hätten Russlands Sicherheitsansprüche ernstgenommen und mit Russland über die weitere Nato-Osterweiterung verhandelt..

    • @drafi:

      Ärgerlich, dass man immer noch diese bereits vielfach widerlegte Russenpropaganda lesen muss. Ich spare mir die Mühe, Ihre Aussagen erneut zu widerlegen, da Sie nicht aus Unwissenheit sondern aus Überzeugung agieren. Daher ist es nutzlos.

      • @Katharina Reichenhall:

        Möchte Ihnen zustimmen, ein ganz besonders deplazierter Beitrag.

  • Es ist absolut widerlich, dass Kinder soetwas erleben müssen.



    Einige von Ihnen erleben es seit 2014.



    UNO und OSZE berichteten über das Grauen.



    Ich erinnere mich noch an einen Bericht auf Phoenix, in dem der Reporter fassungslos über den Beschuss berichtete oder an Georg Restles Kommentar in den Tagesthemen, der die Frage aufwarf, inwiefern wir als EU uns mitschuldig machen.

    Dann wurde es ruhig zum Thema.

    Heute ist es Moskau, das die Menschen seit 3 Jahren zittern lässt.



    Es überzieht das ganze Land mit Angriffen, die sich zuvor "nur" auf den Donbas beschränkten.



    Damals war es hauptsächlich die russischstämmige Bevölkerung im Osten, die in Mitleidenschaft gezogen wurde.



    Auch Janukowitzschs Vorstellungen zum Krieg habe ich noch klar im Kopf.



    Seine sinngemäße Aussage "Ihre Kinder werden in den Kellern sitzen, während unsere zur Schule gehen.", war letztendlich befristet.



    Nun spielt Russland e seine Dominanz aus, mit all den verheerenden Auswirkungen.



    Aber ja, die Entscheidung über den weiteren Verlauf, liegt allein bei der Ukraine, Wie stets betont.



    Wenn das von beiden Seiten nur eine Fortsetzung des Krieges bedeutet, bleibt nur, das Mitleid mit den unschuldigen Kindern!

    • @Mark Menke:

      Welche Entscheidung liegt den nur bei der Ukraine? Kann Russland den Krieg nicht einfach morgen stoppen?

  • Ich hätte nie gedacht, dass ich das jemals sagen würde, aber Ronald Reagan hatte so recht: Russland ist das Reich des Bösen.

    • @Jelli:

      Sehr differenziert.



      Wahrscheinlich it Luton von satan befallen und wir müssen nur ganz viel beten und alles wird gut?

      • @Jesus:

        *Putin