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Tätowieren im PilgerortHeilige Jungfrau Maria, stich uns bei

Im italienischen Wallfahrtsort Loreto tätowiert Jonatal Carducci Pilgersymbole. Seine Faszination für das Handwerk belebt eine jahrhundertealte Tradition.

Carducci bietet Kreuze, Herzen Jesu, Erzengel, aber auch heidnische Motive wie Meerjung­frauen an Foto: Stefan Schauhuber

Loreto taz | Zum sanften Zapp-zapp tanzt sie, die heilige Jungfrau Maria. Tanzt inmitten der Ruhe, die sich mit jedem Nadelstich im Raum ausbreitet und sogar die leise Rockmusik besänftigt, die durch das Ziegelsteingewölbe schallt. Zapp, zapp, sticht Jonatal Carducci die Nadel hinein in die Haut und zieht sie wieder raus. Das Auf und Ab setzt den Tanzrhythmus für die Gottesmutter, die hinten auf seinem Werkzeug thront – und die ihm beisteht, wenn er seine Hände machen lässt, wofür sie in diesem Leben bestimmt sind und worin er sie sein Leben lang geübt hat.

Jonatal Carducci ist Tätowierer. Ein stämmiger Mann mit wachen Augen, kurzgeschorenen Haaren und tintenverzierten Armen. Handwerker, kein Künstler, sagt er. Sein Handwerk sei es, zu wissen, wie die Haut beschaffen ist, wie die Werkzeuge funktionieren und wie es die alten Meister gemacht haben. Sein Weg hat den 48-Jährigen sein Handwerk weiter verfeinern und immer neue Facetten kennenlernen lassen, nur um ihn nach bald 30 Jahren zu einer ursprünglichen Form des Tätowierens zurückkehren und eine beinahe vergessene Tradition seiner Heimat wiederentdecken zu lassen. „Nicht ich habe mir ausgesucht, diese Tattoos zu stechen“, sagt Carducci. „Sie haben mich ausgesucht.“

Carducci lebt in Loreto in Mittelitalien, er ist auch nicht weit von hier aufgewachsen. Die 13.000-Einwohner-Gemeinde ist der zweitwichtigste Wallfahrtsort Italiens. Busseweise und auf Pilgerreise kommen sie von überall her, um das heilige Haus zu besuchen, in dem die Jungfrau Maria die Nachricht erhalten haben soll, dass sie Gottes Sohn gebären werde. Die Kuppel der Basilika oben auf dem Hügel ist schon von Weitem sichtbar und blickt über Stadt und Meer.

Mitte Mai, wenige Tage nach dem Konklave, lacht der neue Papst bereits von einem Plakat und den Reisegruppen, Schulklassen und Wanderern zu, die sich in der Altstadt vor der Kathedrale scharen. Pilger im Selfiemodus, Beichten im Schichtbetrieb. Gelato und Rosenkranz-Souvenirs draußen, Andacht und Kerzenschein drinnen. Und gleich eine Kopfsteinpflastergasse weiter: Carduccis Tattoostudio.

In der kühlen Luft des Studios hat sich Carducci, der sich als Jona vorstellt, an diesem Nachmittag wie üblich bereit gemacht für den nächsten Kunden. Er hat sein Werkzeug desinfiziert, Arbeitsflächen abgeklebt und schließlich die Tätowier­nadel in einen Messinggriffel gefädelt. Hinten auf dem Stift, wie ein Radiergummi auf einem Bleistift, die Jungfrau Maria. Die würde ihm beistehen, wenn er Tätowierungen so sticht, wie es schon im 16. Jahrhundert gemacht wurde. Dabei sticht Jonatal Carducci weder Schriftzüge noch Tribals oder Drachen, er tätowiert Pilgersymbole.

Handwerker und Historiker

Aus mehr als 60 Motiven können seine Kunden wählen. Kreuze, Herzen Jesu, Erzengel, aber auch heidnische Symbole wie Meerjungfrauen. Diese finden sich auf Messingstempeln, die meisten nur etwas größer als eine Streichholzschachtel. Für jeden Kunden würden die Motive eine andere Bedeutung haben, sagt Carducci. Der ältere Herr, der sich an diesem Tag unter seine Nadel legt, weiß, was er will: die Jungfrau Maria von Loreto. Es ist bereits sein zweites Pilgertattoo.

Jonatal Carducci pflückt den Stempel aus dem Setzkasten. Mit behandschuhten Fingern verteilt er violette Farbe auf dem Messingmotiv, drückt den Stempel auf den Oberarm und bittet den Herrn vor den Spiegel. Passt die Position? Perfetto! Allora, andiamo.

Manche Kunden wollen mit dem Tattoo die Gnade der Madonna oder Hilfe für ein krankes Familienmitglied erbitten

Mal schneller, mal langsamer, punktet sich Carducci Stich für Stich den Abdruck entlang. „Hand Poke“ heißt die Technik, bei der die Tinte, anstatt mit einer Tätowiermaschine, manuell mit einer Nadel in die Haut gestochen wird. Das wird von vielen als weniger schmerzhaft empfunden als das Tätowieren mit der Maschine. Aber: Es dauert länger. Denn die Linien werden bei dieser Technik nicht gezogen, sondern Punkt an Punkt gereiht.

Für ein feuerzeuggroßes Pilgertattoo braucht Carducci mitunter eine Stunde. Mit der Maschine ist das Motiv in wenigen Minuten gestochen. Handgestochen sei es zudem schwieriger, eine saubere Linie zu ziehen, das mache das Ergebnis nicht perfekt, aber besonders. Beim Tätowieren per Hand spüre man auch den Widerstand der Haut, sagt Jonatal Carducci. „Und erst der Klang, wenn die Nadel in die Haut eindringt – wunderschön!“ Kein Maschinenzurren, nur das Zapp- zapp. Zapp, zapp.

Die meisten von Carduccis Kunden sind Pilger, die in rund sechs Tagen den Weg von Assisi nach Loreto gehen. Und die würden meist in ruhiger Stimmung und in einer guten Energie sein Studio betreten. „Diese Tattoos sind nicht für jedermann“, sagt Carducci. Die Lauten und Aufdringlichen, die würden kurz reinschauen und meist gleich wieder gehen, da brauche er gar nichts zu sagen. Für viele sind die Tätowierungen Abschluss des Pilgerweges. Manche Kunden wollen ein Tattoo, um die Gnade der Madonna oder Hilfe für ein krankes Familienmitglied zu erbitten. Für andere markiert es eine bedeutende Veränderung im Leben oder den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt.

Für Jonatal Carducci begann ein neuer Lebensabschnitt damit, tiefer in die Welt der Loreto-Tätowierungen einzutauchen. Für ihn sei bald klar gewesen: Diese Art von Tattoos wollen auf die alte Art gemacht werden. Und nur hier in Loreto.

Seit mehr als 20 Jahren widmet sich Carducci der Geschichte des Tätowierens in unterschiedlichen Kulturen. Jeden Tag ist er online und schaut nach Büchern, sucht nach Hinweisen. Aus alten Schriften hat Carducci auch die traditionellen Motive aus Loreto zusammengetragen und sie in Form seiner Stempel nachgebildet. Sein Studio, das er im Jahr 2019 eröffnete, ist heute zugleich Galerie, Bibliothek und Museum.

Ich hoffe, dass die Menschen meine Leidenschaft spüren. Die Verbindung, die entsteht beim Tätowieren, das ist für mich genug

Jonatal Carducci

Vor 500 Jahren, erzählt Carducci, waren es Handwerker wie Schuhmacher und Tischler, die Pilger zu den Festtagen auf Loretos Plätzen tätowierten. Damals wurden Holzplättchen verwendet, um die heiligen Motive auf die Haut zu stempeln, tätowiert wurde mit Schusterwerkzeug und Ruß. Im Jahr 1871 wurde das Tätowieren in Loreto dann aus hygienischen Gründen verboten. Die Menschen machten im Verborgenen weiter. Der Schuhmacher Leonardo Conditi tätowierte noch in den 1940er Jahren. Ein Schwarzweißfoto der Familie Conditi ziert Carduccis Ziegelwand.

Jeweils nach ein paar Stichen taucht Carducci die Nadel wieder in die schwarze Farbe. Zwischendurch die Nachfrage, ob alles o. k. sei. Bellissimo! Dann wieder: Ruhe. Der Handwerker ist fokussiert, der Kunde ganz bei sich.

Meist werde wenig geredet, sagt Carducci. Und wenn, dann teilen Kunden ihre Emotionen, erzählen von ihrem Weg. Von Glücksfällen und Schicksalsschlägen, vom Scheitern und Durchhalten, von Begleitern und Unterstützern. Für Jonatal Carducci sind diese Begegnungen jedes Mal ein Geschenk. Ein besonderer Moment sei es etwa gewesen, als er eine Nonne aus Loreto tätowieren durfte. „Sie hat mich gefragt, ob wir ein Gebet sprechen wollen, und wir haben gemeinsam gebetet.“

Aber Tätowieren als spirituelle Praxis? Er schüttelt den Kopf. „Ich bin Jona, ich bin ein einfacher Mann. Ich liebe die Menschen, ich liebe die Frauen, ich liebe Motorräder. Ich will kein Mönch sein wie die Sak-Yant-Meister in Thailand. Ich hoffe einfach, dass die Menschen meine Leidenschaft spüren. Die Verbindung, die entsteht beim Tätowieren, das ist für mich genug.“

Motorrad statt Mönch

Christliche Tätowierungen haben eine lange Tradition und waren in Europa von 1200 bis 1700 bei Bauern, Soldaten und Handwerkern ebenso verbreitet wie bei Nonnen und Mönchen, schreibt Gustavo Morello, Professor für Soziologie am Boston College, der zu Tätowierungen und Religion forscht.

Begonnen hat das Tätowieren in der westlichen Welt aber bereits im antiken Griechenland und Rom als Mittel zur Kennzeichnung von Sklaven und Gefangenen. Griechen und Römer tätowierten ihnen Buchstaben oder Wörter auf die Stirn, um auf ihr Verbrechen hinzuweisen. Im Römischen Reich unterdrückt und verfolgt, ließen sich Christen, aus Solidarität und um ihre Religionszugehörigkeit zu zeigen, frühchristliche Motive wie Fische oder Lämmer tätowieren.

„Meine Tätowierungen sind mein Tagebuch“, sagt Carducci. „Sie sind meine Reisen, mein Schmerz, meine Geschichte.“ Seine Hautbilder stammen aus Japan, Israel, Los Angeles oder Stockholm. Die Jungfrau Maria von Loreto auf seinem Unterarm hat er sich von Marco Pisa, einem Tattoomeister aus Bo­logna, stechen lassen. Fotos anderer Wegbegleiter und Mentoren zieren die Wände seines Studios und schauen Carducci jeden Tag über die Schulter. „Von allen habe ich etwas gelernt. Die Kleinigkeiten, die Routinen, die Eigenheiten. Vor allem aber habe ich die Energie aufgesogen, die von ihnen ausging und die in ihren Studios spürbar war.“ Von den meisten habe er sich auch ein Tattoo stechen lassen.

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Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Wenn Carducci nicht in Loreto arbeitet, verfeinert er seine Fähigkeiten beim Tätowieren, etwa von traditionellen japanischen oder polynesischen Motiven. Überall auf der Welt besucht er Kollegen, um weiter zu lernen. „Wenn man aufhört, wird man schlechter. Man merkt es sofort“, sagt Carducci. Er brauche die regelmäßige Praxis. „Wenn ich arbeite, dann arbeite ich. Auch zehn Stunden am Stück. Und wenn ich nicht arbeiten will, dann fahr ich ans Meer. Das Leben ist kurz.“

Als Zeugnisse seines Tätowiererlebens präsentiert Carducci seine alten Maschinen in einem Schaukasten. Auch seine erste. Die habe er auf Zureden eines Freundes gekauft – der allerdings habe einen Rückzieher gemacht und sich dann erst nicht tätowieren lassen. Carduccis Mutter war schließlich unter den Ersten. Sein Vater habe hingegen kein Tattoo. Anfangs sei er, der Schmied, skeptisch gewesen, als der Sohn mit Anfang 20 sein erstes Tattoostudio eröffnete. Heute sei er stolz. Aber tätowieren wolle er seinen Vater heute nicht mehr, sagt Carducci und grinst. „Ich sage ihm immer: Du bist bis jetzt sauber geblieben, lass das so.“

Die Liebe zum Handwerk hat sich in Carducci festgesetzt wie Farbe unter der Haut. „Meine Faszination ist mein Treibstoff“, sagt er. „Die wahre Seele des Tätowierens versteht man mit der Zeit. Es ist wie im Leben, eine Entwicklung, Schritt für Schritt. Wenn du nicht fasziniert bist, dann hörst du besser auf.“

Nach einer Stunde legt Carducci die Messing-Maria beiseite und wischt über den Oberarm des Kunden. Kontrollblick im Spiegel. Perfetto! „Es hat Zeit gebraucht, bis ich bereit war, diese Tattoos zu stechen“, sagt er. „Wenn ich aufhöre, dann werden sie wieder jemand finden, der die Tradition fortführt.“

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