Leistungsschau der Verkehrswende: Wann ist ein Rad ein Rad?
Drahtesel, Cargobikes, Mikro-Cars – auf der weltgrößten Fahrradmesse Eurobike zeigt sich, wie vielfältig nicht-autogebundene Mobilität heute ist.
Nichtsdestoweniger wurde in den acht Hallen getestet, gestaunt und begutachtet, wie innovativ das Rad von heute sein kann: 37 Eurobike Awards für Fahrräder, Komponenten und Zubehör vergab die Fachjury in diesem Jahr. Den Green Award erhielt ein Vaude-Rucksack aus einem neuartigen Polyamid mit einem CO₂-Fußabdruck von null. „Kein gewöhnlicher Rucksack, sondern ein Gamechanger“, sagt Vaude-Manager René Bethmann. Auch der Gewinner des Start-up Awards zeigt neue Möglichkeiten: Das „Modular Bicycle“ lässt sich mit wenigen Handgriffen vom Alltags-E-Fahrrad in ein geräumiges Cargobike umbauen. „Ein Fahrrad für jeden Moment“, meint der Hersteller Urbanisto.
Tatsächlich sieht vieles auf der Eurobike längst nicht mehr aus wie das gewohnte Fahrrad: Manche der Modelle erinnern an überdachte Transportboxen mit Elektroantrieb. Für die Logistikbranche bieten diese XXL-Räder großes Potenzial: günstiger als Kleintransporter, weniger Bürokratie – kein Kennzeichen, kein TÜV, kein Führerschein. Dazu dürfen sie auf Radwegen fahren und sind bei Staus innerstädtisch schneller als Lieferwagen.
Das Interesse an Testfahrten mit diesen Radwegriesen ist enorm. Doch schon im geschützten Umfeld des Messeparcours lassen sich künftige Konflikte erahnen: Selbst hier, wo niemand es eilig hat und irgendwo hin muss, bremst manch Gravelbiker hart, um nicht mit einer der fahrenden Transportboxen zusammenzustoßen. Wie das im ohnehin engen Stadtverkehr aussieht, bleibt abzuwarten.
Helmpflicht für alle?
Trotzdem könnten solche Mobilitätssysteme ein Baustein der Verkehrswende sein. Doch sind es noch Fahrräder? Der ZIV, Interessenverband der deutschen Fahrradindustrie und direkter Nachbar des Verkehrsministeriums auf der Messe, meint: Nein. Unmittelbar vor der Eurobike hat sich der Verband damit in die „wann ist ein Rad ein Rad“-Debatte eingeschaltet – und fordert, die „Fahrrad“ definierenden Richtlinien klarer zu ziehen: Die maximale Wattleistung solle ebenso wie das Gesamtgewicht begrenzt werden – und treten müsse ein Radfahrer schon auch noch in wahrnehmbaren Maße.
Hintergrund dieser Forderung ist nicht zuletzt die Sorge vor einer pauschalen Reglementierung des gesamten Radverkehrs. Denkbares Szenario: Ein 600-Kilo-Cargobike mit 1.000 Watt Motorisierung verursacht einen schweren Unfall – und als politische Reaktion kommen Helmpflicht, Kennzeichen und Führerschein für alle E-Radfahrenden. Das wäre nicht nur ein Rückschlag für die Branche, sondern auch für die Verkehrswende: Fahrradländer wie die Niederlande oder Dänemark sind dagegen mit dem Konzept bessere Infrastruktur statt Vorschriften erfolgreich.
Gespaltene Messe
Das Messekonzept wird sich der Entwicklung anpassen und versuchen, klarere Unterscheidungen zu machen. Die Eurobike 2026 wird ein Co-Event unter dem Namen Mobifuture bekommen, das elektrische, smarte und vernetzte urbane Mobilitätslösungen – wie E-Scooter, Cargobikes und Microcars, Sharing- und Flotten- sowie Infrastrukturangebote – auf einer eigenen Plattform bündelt. Die Eurobike selbst soll sich dann wieder stärker auf den Sportcharakter des Fahrrads konzentrieren.
Diese private Fahrradnutzung ist natürlich auch jetzt schon Thema. Einen Award gab es etwa für Fiziks Sattelkonzept „One-to-One“: Mit einem dynamischen Verfahren wird die individuell passende Sattelform ermittelt, 3D-gedruckt und per Post verschickt – ein Lichtblick für geplagte Radfahrersitzflächen. Vor allem für Ältere oder Menschen mit Einschränkungen ist das ebenfalls preisgekrönte Dreirad „Thuja“ von Van Raam gedacht, das auch die Mitnahme von Einkäufen erlaubt.
Viel hängt von den künftigen politischen Weichenstellungen ab. An seinem Messestand gab sich das Verkehrsministerium fahrradfreundlich: „Machen Sie bei jeder Straße, jedem Radweg den Test: Kann ein elfjähriges Mädchen hier entspannt und sicher Rad fahren? Setzen Sie nur um, was diese Frage klar mit ‚Ja‘ beantwortet“, war dort plakatiert. Wenn die Bundesregierung hierfür die Grundlage schaffen würde, wäre nicht nur für die Branche, sondern auch für die Verkehrswende viel gewonnen.
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