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Russische AngriffeDreistündiger Luftkampf über der Westukraine

Russland greift die Stadt Luzk wie entfesselt mit Drohnen, Marschflugkörpern und Hyperschallraketen an. Es ist die heftigste Attacke seit Kriegsbeginn

Feuerwehrleute bei Lösch­arbeiten nach dem großen Luftangriff auf das west­ukrainische Gebiet Wolyn am 9. Juli Foto: Ukrainian Emergency Service/ap

Luzk taz | Über Stadt Luzk tobte in der Nacht zum 9. Juli eine Luftschlacht. Die russischen Streitkräfte beschossen die Stadt, die nur etwa 80 Kilometer von der polnisch-ukrainischen Grenze entfernt liegt, mit Drohnen und verschiedenen Raketen. Die ukrainische Luftabwehr wehrte sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Selbst das schwere Gewitter, das kurz nach Mitternacht noch in der Nähe der Stadt getobt hatt, legte sich, als die ersten russischen Drohnen vom Typ Shahed Luzk erreichten.

Die Angriffe begannen gegen zwei Uhr nachts. Auf den „normalen“ Luftalarm folgte sehr schnell die Warnung vor „großer Gefahr“. Den meisten Ukrainern wird dann sehr schnell klar, dass sie die darauf folgenden russischen Angriffe nicht ignorieren dürfen. Und schon bald erhellten Dutzende Scheinwerfer der Luftabwehr den Himmel über Luzk.

„Wo seid ihr?“, „Was passiert bei euch?“, „Ladet eure Handys auf. Geht sofort von den Balkonen weg!“ – das sind in solchen Fällen die typischen Nachrichten Familien- und Kollegen-Chats. Das Leben verlagert sich in Schutzräume, Keller und häufig einfach in Korridore oder Badezimmer, wo man entsprechend der „Zwei-Wände-Regel“ ein wenig sicherer vor den durch Druckwellen berstenden Fensterscheiben ist.

In Luzk hat man den letzten großen Luftangriff mit 15 Drohnen und sechs Raketen vom Morgen des 6. Juni noch nicht vergessen. Im Rückblick erscheint er, verglichen mit dem aktuellen Großangriff, jetzt fast harmlos.

Krieg in der Ukraine

Mit dem Einmarsch im 24. Februar 2022 begann der groß angelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Bereits im März 2014 erfolgte die Annexion der Krim, kurz darauf entbrannte der Konflikt in den ostukrainischen Gebieten.

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Größte Explosionen in Luzk

Die Schaheds flogen in Dreier- beziehungsweise Vierergruppen auf die Stadt zu. Zuerst hörte man nur ihr nervenaufreibendes Brummen, dann einen scharfen Ton, mit dem sich ankündigt, dass sie auf ihr Ziel hinabstürzen. Das ist der Moment, in dem die Luftabwehr beginnt, die Drohnen abzuschießen. Denn dann sind die Chancen am besten, eine Schahed zu treffen, die zuvor zu hoch fliegen, um sie zu erwischen.

„Wir sind mit unseren Nachbarn im Erdgeschoss“, „Ich sehe die Luftabwehr im Einsatz – es ist wie in einem Horrorfilm“, „Ich gehe in den Schutzraum – heute Nacht werde ich wohl kaum schlafen können“, „Eine Drohne fliegt direkt über das Stadtzentrum“, hieß es in den Chats.

Social-Media-Kanäle zur Überwachung des Luftraums berichteten, dass die Drohnen die Stadt aus allen Richtungen angriffen, um es der Luftabwehr zu erschweren, sie abzuschießen. Um 2.50 Uhr morgens meldete die Luftwaffe den Start russischer MiG-31K-Flugzeuge. Das bedeutete, dass Hyperschallraketen vom Typ Kinschal auf Luzk zukamen.

Und dann kamen sie – vier Raketen. Solche Explosionen hatte es in Luzk während des gesamten Krieges noch nicht gegeben. Im Nordosten der Stadt, in einem Industriegebiet, brachen mehrere Brände aus.

In Luzk hat man den letzten großen Luftangriff vom 6. Juni noch nicht vergessen. Im Rückblick erscheint er jetzt fast harmlos

Diese Nacht wollte nicht enden, obwohl es im Osten bereits heller wurde. Die Schaheds flogen weiter – Schwarm um Schwarm –, die Luftwaffe meldete den Start eines Trägerflugzeugs für Marschflugkörper vom Typ Ch-101 in Russland. Und eine dieser Raketen traf um fünf Uhr morgens ebenfalls in Luzk ein. Während die Luftabwehr weiter Schaheds abschoss. Insgesamt dauerte der „Krieg der Sterne“ über der Stadt drei Stunden ohne Unterbrechung.

Keine menschlichen Opfer

Die Stadtverwaltung meldete am Morgen danach, Luzk sei mit etwa 50 Schahed-Drohnen sowie fünf Raketen attackiert worden. Wie viele davon abgeschossen worden waren, sagten sie nicht, obwohl die Einwohner helle Blitze am Himmel gesehen hatten. Menschliche Opfer gab es dieses Mal nicht, aber ein Industriebetrieb, eine Lagerhalle und Garagen wurden zerstört.

Die russischen Angriffe vom 9. Juli waren die bisher schwersten seit Kriegsbeginn. Insgesamt feuerte die russische Armee in dieser Nacht 728 Kampfdrohnen, 7 Marschflugkörper und sechs ballistische Raketen auf die Ukraine ab. Später erklärte der Sprecher der ukrainischen Luftstreitkräfte, Yurii Ihnat, dass es dreihundert echte Schahed-Drohnen waren. Bei dem Rest habe es sich um Fake-Drohnen gehandelt, die die Arbeit der Luftabwehr hatten erschweren sollen. Neben Luzk wurden auch Schytomyr und Kyjiw angegriffen.

Nach einer solchen Horrornacht reagieren die Menschen in den sozialen Netzwerken besonders empfindlich auf die Morgennachrichten aus den USA. Vor allem auf folgende Meldung: „Das Weiße Haus erwägt die Lieferung eines weiteren Patriot-Systems an die Ukraine“.

Anna Danilchuk, die einen Youtube-Kanal zur Propagandabekämpfung betreibt, schrieb nach dem Angriff auf ihre Heimatstadt Luzk, dass sie „nach einer solchen Nacht besonders motiviert sei, am Zerfall Russlands zu arbeiten“. Bei dem Angriff wurden auch mehrere Reifen von Fahrzeugen der mobilen Luftabwehr zerstört. Freiwillige riefen zu Spenden für neue Reifen auf. Innerhalb einer Stunde war die Summe zusammen.

Gegen Mittag kehrte Luzk wieder zum Alltag zurück: Die Rasenmäher liefen auf Hochtouren – ihr Brummen klang im Vergleich zu dem der Schahed-Drohnen geradezu beruhigend.

Aus dem Ukrainischen: Gaby ­Coldewey

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2 Kommentare

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  • Da wünscht man St. Putinburg doch mal eine richtig unruhige Nacht.

  • Wenn Europa jetzt nicht endlich "all in" geht, werden wir mitverantwortlich sein für die Kriegsniederlage der Ukraine. Und die immensen, furchtbaren Folgen auch für uns. Putin muss ausgeschaltet werden.