Deutscher Pavillon in Venedig 2026: Endlich ostdeutsch
Die Künstlerinnen, die den Deutschen Pavillon der 61. Kunstbiennale von Venedig gestalten werden, stehen fest. Es sind Henrike Naumann und Sung Tieu.

In der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung Die Zeit ist die Künstlerin Henrike Naumann eine von neun Personen aus Kunst und Wissenschaft, die in Protokollen ihren kreativen Prozess beschreiben. Als eine „Ideenmaschine“ bezeichnet sich Naumann in ihrem Text. Eher zu viele davon produziere sie. Eine Herausforderung sei dann, die Ideen umzusetzen, Leute zu überzeugen, ihr die Räume dafür zu geben. Gelungen ist ihr dies nun bei einem besonderen Raum: Naumann ist eine von zwei Künstlerinnen – Sung Tieu heißt die andere –, die den Deutschen Pavillon auf der 61. Kunstbiennale von Venedig gestalten werden.
Vor einem Monat erst hatte das ausrichtende Institut für Auslandsbeziehungen (IfA) bekanntgegeben, dass Kathleen Reinhardt, Direktorin den Berliner Georg-Kolbe-Museums den Pavillon kuratieren wird. Nun stehen also auch die ausstellenden Künstlerinnen fest. Tatsächlich hatten schon einige spekuliert, ob sich Reinhardt womöglich für Henrike Naumann oder Sung Tieu entscheiden würde. Jetzt sind es alle beide geworden.
Die Wahl erscheint nach Reinhardts Benennung schlüssig, dennoch ist sie durchaus eine Sensation. Kathleen Reinhardt, Henrike Naumann und Sung Tie sind alle drei in den 1980er Jahren geboren, in Ostdeutschland aufgewachsen und thematisieren eben diese Herkunftsgeschichte in ihrer Arbeit immer wieder.
Ostdeutsche Perspektiven
Ostdeutsche Perspektiven wurden in Venedig bislang eher ausgespart, insbesondere jene, die sich dezidiert mit dem kulturellen Erbe der DDR befassen. Thomas Scheibitz (*1968 bei Dresden) gestaltete 2005 gemeinsam mit Tino Sehgal den Deutschen Pavillon, der Chemnitzer Olaf Nicolai (*1962) war 2015 im von Florian Ebner kuratierten Pavillon mit dabei, der Ostberliner Robert Lippok (*1966) bespielte im vergangenen Jahr als einer von vier Künstler*innen die Insel La Certosa mit Sound. Das war's. Mehr als nötig ist es, diese Lücke nun, mehr als 35 Jahre nach der Wiedervereinigung, zu füllen.
Reinhardt, geboren im thüringischen Sonderhausen, setzt sich seit Jahren schon in ihrer kuratorischen Arbeit für Sichtbarkeit ostdeutscher Künstler*innen, insbesondere Künstlerinnen ein. Sowohl mit Naumann als auch mit Tieu hat Reinhardt bereits zusammengearbeitet: In der Gruppenausstellung „Nach meiner Kenntnis ist das sofort…, unverzüglich“ (2019/2020) hatte sie in ihrer Zeit im Albertinum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Kunst von Naumann gezeigt. Naumanns Videoinstallation „Triangular Stories“ über die Terrorgruppe NSU wurde danach von den Staatlichen Kunstsammlungen angekauft. Sung Tieu wiederum war, ebenfalls in Dresden, in der von Reinhardt kokuratierten Gruppenausstellung „Revolutionary Romances“ (2023/2024) vertreten.
Imaginäre Interieurs
Henrike Naumann, geboren 1984 in Zwickau, lässt in ihrer Kunst Objekte sprechen. Sie baut imaginäre Interieurs von Menschen, die sich in außergewöhnlichen gesellschaftspolitischen Situationen befinden, wobei sie sich oft auf die deutsch-deutsche Wiedervereinigung sowie damit verbundene, vielfach enttäuschte Erwartungen bezieht. Naumann – das ist ihren Arbeiten anzusehen – hat nicht Kunst, sondern Bühnen- und Kostümbild an der Hochschule für Bildende Künste Dresden und Szenografie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf studiert.
In ihrer Kunst, die international ausgestellt wird, kombiniert Naumann Möbelstücke und andere Gebrauchsgegenstände mit Videoarbeiten, und stellt so Fragen zu gesellschaftspolitischen Brüchen, Umbrüchen und deren Folgen. Zur Terrorgruppe NSU, die jahrelang in ihrer Heimatstadt Zwickau lebten, und anderen neurechten Jugendkulturen hat sie mehrfach gearbeitet, aktuell treibt sie das Spannungsverhältnis von Kunst und Krieg um.
Vertragsarbeiter*innen der DDR
Sung Tieu, geboren 1987 in Hải Dương, Vietnam, zog während der sogenannten Baseballschläger-Jahre, den 1990er Jahren, ins wiedervereinige Deutschland. Ihr Vater war 1989 noch als vietnamesischer Vertragsarbeiter in die DDR gekommen, hatte dort im sächsischen Freital in einem Stahlwerk gearbeitet. Einige Jahre ihrer Kindheit lebte Tieu in einer Vertragsarbeiter*innensiedlung im Ostberliner Alt-Hohenschönhausen.
Tieus Kunst basiert wie die Naumanns auf umfangreicher Recherche. Ausgangspunkt sind oft Archivmaterialien, etwa zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen von DDR-Vertragsarbeiter*innen, auch Zeitungsartikel, Fotografien oder Ähnliches. Daraus entwickelt sie raumeinnehmende, meist sehr minimalistisch gehaltene multimediale Installationen, mit denen Tieu über biografische Auswirkungen von Geopolitik, kolonialer Vergangenheit, Rassismus, Bürokratie und institutioneller Gewalt nachdenkt.
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
Die Kuratorin Kathleen Reinhardt habe „zwei Künstlerinnen benannt, die in ihrem Werk gesellschaftliche, bürokratische und soziale Ordnungssysteme reflektieren und kritisch hinterfragen. Dabei machen sie die Brüche und Spannungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sichtbar“, so heißt es in der Pressemitteilung des iFA.
Für den Deutschen Pavillon werde die Kuratorin mit beiden ortsspezifische Installationen entwickeln. Mit ihrem konzeptuellen und bildhauerischen Werk stellten Sung Tieu und Henrike Naumann Fragen nach historischer Verantwortung und der Rolle individueller wie kollektiver Handlungsmacht aus der Perspektive einer jungen Generation, so wird Reinhardt zitiert. Dieses verorte die großen Themen des deutschen Pavillons in einem komplett anderen Koordinatensystem.
Eröffnet wird die 61. Kunstbiennale von Venedig am 9. Mai 2026. Bis dahin haben die drei Zeit, ihre Ideenmaschinen miteinander zu verzahnen.
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