: Von der Witch zur Bitch
Die Hexenverfolgung ist in Europa vorbei, doch der Hass auf Flinta* ist geblieben. Sie kämpfen durch Aneignung zurück

Von Lilly Schröder
Wir sind die Töchter der Hexen, die ihr nicht verbrennen konntet.“ Unter diesem Kampfruf eroberten wütende Flinta* bei der „Take back the Night“-Demo 2024 die Straßen. Am Abend vom 30. April nehmen sie sich traditionell die Walpurgisnacht zurück – die Nacht, in der Hexen sich verbünden, sichtbar machen und feiern. Was Hexen und Queerfeminist*innen eint? Der Widerstand gegen patriarchale Unterdrückung.
Gewalt gegen Frauen wurde mit dem Ende der Hexenverfolgung nicht beendet. Sie wurde normalisiert. Was körperliche Züchtigung, öffentliche Demütigung und Verbrennung auf dem Scheiterhaufen war, ist heute strukturelle Diskriminierung, geschlechtsspezifische Gewalt und Femizid. Das Resultat des Gipfels der Misogynie bleibt gleich: Eine Frau wird ermordet – weil sie eine Frau ist.
Die Beweggründe hinter der Hexenverfolgung zwischen dem Ende des 15. und dem 18. Jahrhundert und dem Frauenhass heute sind dieselben: Die Angst der Männer, dass eine Frau sich gegen die untergeordnete Rolle wehrt, die ihr im Patriarchat zugewiesen wird. Besonders stark schlägt diese Angst in Umbruchs- und Krisenzeiten um sich. Frauen wurden vor allem während Missernten oder Epidemien der Hexerei bezichtigt. Heute wächst der antifeministische Backlash im Schatten globaler Krisen und des Rechtsrucks. Jeden Tag wird in Deutschland eine Frau ermordet, weil sie eine Frau ist. In Berlin gab es allein im vergangenen Monat mindestens 4 Femizide.
Die Hexenverfolgung, die sich während des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus ereignete, richtete sich vor allem gegen Frauen, die sozial und wirtschaftlich unabhängig waren. Ihr selbstbestimmter Lebensstil gefährdete die Ausbeutung der Arbeiter*innen – das Fundament für den entstehenden Kapitalismus. Mit der Privatisierung von Land wurden Männer in die bezahlte Produktion gedrängt und Frauen – die zuvor gemeinsam mit Männern kollektiv Land bewirtschafteten – in die unbezahlte Reproduktionsarbeit.
Die staatliche Kontrolle über den weiblichen Körper ist bis heute Realität: Schwangerschaftsabbrüche bleiben strafbar und nur unter bestimmten Voraussetzungen legal. Während eine breite Mehrheit für eine Reform des Paragrafen 218 ist, freuen sich Gegenbewegungen wie der „Marsch für das Leben“ über Zulauf. Doch nicht nur die Kontrolle der Gebärmutter unterwirft den weiblichen Körper dem Kapitalismus, dies geschieht ebenso, indem Schönheitsnormen ökonomisch belohnt werden, Stichwort: „pretty privilege“. Flinta*, die jung, schlank und „mädchenhaft“ aussehen, verdienen mehr. Die Folge: freiwilliges Hungern – die größte Niederlage des Feminismus.
Die Kontrolle über den Körper der Frau war während der Hexenverfolgung eng mit der Kriminalisierung von Verhütung verbunden. Hebammen und Heilerinnen, die über dieses Wissen verfügten, wurden verfolgt. Dies führte auch zur Zerstörung von Wissen über Heilkräuter, Verhütung und Abtreibung, das Frauen untereinander weitergaben.
Ähnlich verhält es sich heute, wenn in Schulen Aufklärung über sexuelle Selbstbestimmung oder Transidentität verboten wird, wie in den USA oder Ungarn. Unterdrückt wird diese Wissensweitergabe von denjenigen, die von bestehenden Machtverhältnissen profitieren. Dasselbe Muster zeigt sich im systematischen Schweigen über sexualisierte Gewalt – einem festen Bestandteil der rape culture.
Was die geschlechtliche Arbeitsteilung betrifft, wurden seit der Hexenverfolgung Fortschritte erkämpft: Mehr Flinta* sind berufstätig und in Führungspositionen, Mutterschutz und Elternzeit sind gesetzlich verankert. Doch strukturell hat sich zu wenig verändert: Care-Arbeit bleibt unsichtbar, die gläserne Decke hält, der Gender Pay Gap klafft weiter.
Flinta*, die wirtschaftlich unabhängig sind, werden weiterhin abgewertet. Nur Politikerinnen werden gefragt, wie sie Beruf und Familie unter einen Hut bringen. Die arbeitende Frau wird als „Karrieristin“ diskreditiert, der Mann als „erfolgreich“ gefeiert. Besonders stigmatisiert werden Flinta*, die mit ihrem erotischen Kapital wirtschaften, etwa in der Sexarbeit.
Geschürt wird dieser Hass unter anderem von Flinta* aus dem konservativ-rechten Spektrum, die mit Bannern wie „Weiblichkeit statt Feminismus“ herumstolzieren. „Tradwives“ propagieren in den sozialen Medien ein reaktionäres Frauenbild. Ihr Ideal: die passive, keusche Gattin – ein Bild aus der Zeit der Hexenverfolgung, als weibliche Sexualität zur Zeugung und dem Dienst an Männern reduziert wurde. Durch antifeministische Äußerungen erlangen Antifeministinnen männliche Anerkennung – und werden so ermutigt, als „Pick me Girls“ Flinta* in den Rücken zu fallen.
Die Zerstörung der Solidarität unter Frauen war schon früher ein zentrales Instrument, um die patriarchale Ordnung zu verfestigen. Oft setzten Männer Frauen unter Druck, gegen andere Frauen auszusagen, die der Hexerei bezichtigt wurden. Das schürte Misstrauen und Angst und zerstörte die weibliche Solidarität. Diese fehlt auch heute bei den modernen Hexenverfolgungen. Über „Hexenjäger“, die Frauen in Teilen Afrikas und Asiens jagen und ermorden, verlieren westliche Feminist*innen kaum ein Wort. Ebenso wenig über die 3.000 Frauen, die derzeit in Ghana in „Hexenlagern“ leben, weil sie unter Androhung des Todes aus ihren Gemeinden fliehen mussten.
Ebenso wird die Hexenverfolgung, die größten Massenhinrichtungen, die es zu Friedenszeiten in Europa gegeben hat, unter den Teppich gekehrt. Anstatt die Gräuel aufzuarbeiten und ihnen Platz im kollektiven Gedächtnis zu verschaffen, werden sie in Disney-Produktionen verarbeitet, die frauenfeindliche Stereotype reproduzieren.
Flinta* versuchen sich daher, den Hexenbegriff emanzipatorisch anzueignen und seiner demütigenden Wirkung zu berauben. Sie feiern sich bei Vollmond-Ritualen, auf „Witchtok“ und Flinta*-Demos. „Lasst uns Hexen sein!“, riefen Flinta* auf der „Take back the Night“-Demo. „Gierig und promiskuitiv, pervers und queer, das sind wir!“
Nicht nur der Begriff „Witch“ wird sich positiv angeeignet, auch der Begriff „Bitch“. Denn was früher die Witch war, ist heute die Bitch: eine, die nicht kleinlaut und unterwürfig ist. Eine, die ihre Wut artikuliert und das patriarchale System herausfordert. Und wie damals die Witch, wird heute die Bitch von Männern mit Hass überschüttet – aus Angst vor ihrer Macht, ihrem Wissen, ihrer Handlungsfähigkeit.
Und die ist gerechtfertigt. Denn die Hexe ist kein Opfer, sondern eine Bedrohung. Und ihre Pläne sind vernichtend: „Mit einem Besen in der Hand putzen wir das Patriarchat blitze blank.“ Hex, hex!
„Take back the Night“-Demo, 30. April, 20 Uhr, Mariannenplatz. Alle Termine auf Seite 22
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