Kunst im Haus der Wannsee–Konferenz: Der Klang der Gleichzeitigkeiten
Im Haus der Wannsee-Konferenz legen die Künstler:innen Yael Reuveny, Barbara Morgenstern und Clemens Walter mit poetischen Sounds Geschichte frei.

Eiskalt ist es an diesem Maisonntag, als ich durch das eiserne Eingangstor trete und über den knirschenden Kiesweg auf das „Haus der Wannsee-Konferenz“ zugehe. Ein starker Wind tost um die hohen, dünnen Stämme der Kiefern und versetzt ihre schweren Kronen in rauschendes Wirbeln. Inmitten der aufgewühlten Natur liegt gedrungen und etwas abweisend die im Ersten Weltkrieg erbaute klassizistische Villa.
Ganz sicher wird der frostige Eindruck verstärkt durch das Wissen, dass hier im Januar 1942 die Vernichtung der Juden Europas geplant wurde. Die verheerenden Folgen des Treffens unter Leitung von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich sind bekannt: sechs Millionen ermordete Menschen, unzählige Entwurzelte, über mehrere Generationen Traumatisierte.
Um die Erinnerung an dieses Verbrechen zu halten und der Gefahr ihrer Musealisierung entgegenzuwirken, setzt Direktorin Deborah Hartmann nun auf neue Formen des Gedenkens: Sie erweiterte das wissenschaftliche Angebot des Dokumentationszentrums um ein künstlerisches.
„Wulf, die Zicklein und der vergessene Garten“
Also suche ich vor der strengen Architektur des Gebäudes die Soundarbeit der Künstlerin Yael Reuveny, „Wulf, die Zicklein und der vergessene Garten“, als plötzlich etwas unerwartet Zartes zu mir herüberweht: fragmentierte Töne, ein aufblitzendes Meckern, Gluckern, das Lachen von Kinderstimmen. Kurz, spitz, hell. Noch während sie erklingen, sind sie schon wieder verschwunden. Was in der Stille zurückbleibt, sind das Rauschen der Bäume und der schrille Ruf eines Wasservogels.
All das geschieht so schnell, dass ich schon denke, ich hätte mich getäuscht. Und doch folge ich der Spur des verstummten Tons, links an der Villa vorbei, wo nun der Blick auf den schimmernden Wannsee frei fällt. Gedämpft dringen auch von dort Geräusche: Wellenklatschen, Segelknattern, Rufe auf den Booten.
Soundinstalltion in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Bis Oktober 2026 jede halbe Stunde zwischen 11 – 18 Uhr.
All das scheint Teil der Klangintervention zu sein, deren geisterhaft leise Kinderstimmen nun wieder aus einer schmalen, dichten Kastanienallee dringen: „Dann guck doch einfach nicht hin“, „Pst!“, sirenenartiges Singen, Flüstern, Schluchzen. An den Baumstämmen der Allee sind auf halber Höhe 8 Lautsprecher befestigt wie Vogelnistkästen. Vor einem hat sich ein kleiner Junge aufgebaut und ruft erwartungsvoll nach oben: „Hello? Hello?!!“
Tatsächlich beginnt in diesem Moment eine Männerstimme zu singen. Mit festem Ton trägt sie die melancholische Melodie eines jiddischen Lieds vor. „Hey Tsigelech“ (Hey Zicklein) erzählt die Geschichte eines verzauberten Hirten, der aus Sehnsucht nach dem Mädchen, das ihn umgarnte seine Lebensfreude verliert, die Herde vernachlässigt und sich in einem See ertränkt.
In der Installation vereinen sich die Vergangenheiten zur Gleichzeitigkeit

Die Kinder bilden ein Echo der Männerstimme und wiederholen chorisch einzelne jiddische Worte. Über die kurze Dauer der Soundarbeit entsteht der Eindruck, als würden sie ihrerseits verzaubert von der Männerstimme. Nach dem Ende des jiddischen Lieds singen die Kinder auf Deutsch den Text einer Werbebroschüre aus dem Jahr 1952, die es Neuköllner Eltern versprach, ihrem „in der Festung West-Berlin eingeschlossenen“ Nachwuchs das Erleben von „blauem Himmel, Wasser, Wind und Wellen“ zu ermöglichen, „auch wenn das Schicksal uns seit vielen Jahren davon abschließt“.
So klug Yael Reuveny in Zusammenarbeit mit Clemens Walter und Barbara Morgenstern ihr Werk in die Zufallsgeräusche der Natur eingebettet und damit räumlich erweitert, so überzeugend hat sie die Fähigkeit des Akustischen erkannt, Vergangenes und Gegenwärtiges auf eine Zeitschiene zu legen.
Denn die Männerstimme ist eine Archivaufnahme von Joseph Wulf, Historiker und Auschwitzüberlebender, der sich energisch aber vergeblich für die Einrichtung einer Gedenkstätte an diesem Ort einsetzte. Die einstige Stadtregierung entschied sich stattdessen, Gebäude und Garten bis 1988 als Schullandheim zu nutzen.
Dass Wulf nun 51 Jahre nach seinem Suizid musikalisch ins Gespräch mit Berliner Kindern kommt und ihnen verschlüsselt eine Geschichte erzählt, die ihre Eltern ihnen vielleicht verschwiegen haben, ist intendierter Subtext der Soundarbeit, die ansonsten keine „Story“ erzählt. Vielmehr setzt sie auf die Wirkung von reinem Klang und Rhythmus, auf die Emotionalität der Stimmen und das Drama ihrer Vergänglichkeit, die trotz ihrer Fragilität in mir, der Ohrenzeugin nachwirkt.
Gerade das Bruchstückhafte und Unabgeschlossene dieser Arbeit behauptet sich angemessen gegen die Ungeheuerlichkeit der Nazi-Vernichtungsmaschinerie, an die Verbrechen im Gebäude nebenan. Joseph Wulf behält so das letzte Wort. Stellvertretend für Millionen.
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