: Hat er eine Giraffe gesehen?
Der Germanist Lasha Bakradze über sowjetische Avantgarden, die DDR und Georgiens westliche Kulturtradition. Und warum die Proteste gegen das Regime in Tiflis weiter anhalten

Interview Andreas Fanizadeh
taz: Herr Bakradze, Sie haben in Jena in der DDR 1989 Ihr Diplom als Germanist erworben. In den 1990er Jahren haben Sie an westlichen Universitäten studiert und geforscht. Wie stark unterschieden sich Forschung und Lehre in Ost und West?
Lasha Bakradze: Ich bin in der Sowjetunion groß geworden. In Tiflis, der Hauptstadt Georgiens. In den 1980er Jahren war ein Studium in Georgien um einiges liberaler ausgerichtet als etwa in Moskau. Und in der DDR schien mir vieles noch krasser als in Russland. Ich war überrascht, als ich in Jena eintraf, wie präsent die FDJ (Freie Deutsche Jugend, staatlich kommunistische Jugendorganisation) hier war. Das marxistisch-leninistische Vokabular dominierte. Es klang etwas lächerlich. In Georgien hatte die kommunistische Ideologie schon diesen Leichengeruch. Nicht so in der DDR.
taz: Georgien war liberaler orientiert, ähnlich Polen oder Tschechien?
Bakradze: Und auch wie Ungarn früher. Ich war verwundert von der DDR. Die Universitäten von Jena und Tiflis pflegten eine Partnerschaft. In Jena wurde Ende der 1980er fleißig Marxismus-Leninismus gelehrt, zudem in sehr oberflächlicher Weise.
taz: Wie drückte sich dies aus?
Bakradze: Ich interessierte mich für die Literatur der Romantik. Nach marxistischer Auffassung war die Romantik in eine progressive und in eine reaktionäre Linie unterteilt. Daran war nicht zu rütteln. Ich mochte Ludwig Tieck oder Novalis. Das waren leider die Falschen. Sie galten als Reaktionäre. In Tiflis hatte ich zuvor in zwei Jahren Germanistik mehr gelernt als nun in den vier Jahren in Jena. Die Unterdrückung anderer Meinungen war in der DDR viel ausgeprägter als in Georgien.
taz: Woran mochte das gelegen haben?
Bakradze: Es gab sicher mehr als einen Grund dafür. Die georgische Unabhängigkeitsbewegung war aufgrund der Erfahrungen mit Sowjets und Moskau ein oppositioneller Faktor. In den 1920er Jahren waren viele aus den georgischen Avantgarden auch Anhänger der Revolution. Aber nach fast 70-jähriger kommunistischer Herrschaft hatte sich das erledigt. Ich selber stamme aus einer dissidenten Familie, die sich mit Kunst, Film, Geschichte und Literatur beschäftigte. Was mich bei den jungen Leuten in der DDR Ende der 1980er so überraschte, war, dass selbst die kritischen unter ihnen weiterhin auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ hofften. In Georgien war das Thema durch. Seit den 1970er Jahren traten nur noch Karrieristen oder Hochstapler der Kommunistischen Partei bei.
taz: Dabei war der Glaube an den Kommunismus in den 1920er Jahren in Georgien zunächst sehr ausgeprägt gewesen …
Bakradze: Ja, und es ist kein Zufall, dass viele georgische Kommunisten sehr einflussreich im gesamtrussischen, gesamtsowjetischen Kontext wurden, auch georgische Sozialdemokraten in der Revolutionszeit 1917. Der berühmteste von ihnen war natürlich Stalin. Aber er war bei Weitem nicht der Einzige. Der Georgier Eduard Schewardnadse verhandelte als sowjetischer Außenminister die postsowjetische Ordnung mit dem Westen. Diese schloss die volle nationale Souveränität von Georgien, Ukraine oder den baltischen Staaten ein. Und damit auch deren freie Wahl, ob sie zu EU oder Nato gehören wollen.
taz: Sie sind auch bei SovLab aktiv. Was ist das für eine Organisation?
Bakradze: Die Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit ist sehr wichtig. 2010 gründeten wir SovLab (The Soviet Past Research Laboratory) in Tiflis, eine Organisation, die die Sowjetgeschichte Georgiens erforscht. Es gab bis dahin kaum eine kritische Beschäftigung damit. SovLab ist ein zivilgesellschaftlicher Zusammenschluss georgischer Historiker und Intellektueller. Ähnlich wie Memorial in Russland, natürlich kleiner. Memorial repräsentiert für mich den positiven Teil der russischen Gesellschaft. Viele von ihnen sind nach Putins Überfall auf die Ukraine 2022 ins Exil gegangen.
taz: Sie sprachen das Interesse in Ihrem Elternhaus für Kunst an. Sie haben selber auch Ausstellungen georgischer Malerei organisiert, treten hin und wieder als Schauspieler auf. Eher ungewöhnlich für einen Schriftgelehrten?
Bakradze: Mein Vater war Intendant des Rustaweli-Theaters in Tiflis, dem größten Theater Georgiens. Zuvor hatte er im sowjetisch-georgischen Kino verschiedene Positionen inne. Meine Mutter hat ebenfalls Film- und Theaterregie gelernt, später für Fernseh- und Radiosender gearbeitet. Hin und wieder nehme ich Rollen an, weil es mir Spaß macht. Es ist ein Hobby. Der georgische Film hatte zu Zeiten der Sowjets eine wichtige oppositionelle Rolle inne. Die jetzige illegitime Regierung hat das Nationale Georgische Filmzentrum besonders ins Visier genommen. Sie geht gegen die gesamte kritische Kunst- und Kulturszene vor. 500 Filmschaffende haben in einer Resolution gegen die politische Übernahme des Filminstituts protestiert. Praktisch alle boykottieren es heute.
taz: Letztes Jahr wurden auch Sie als Direktor des georgischen Literaturmuseums gefeuert. Was war der konkrete Anlass dazu?
Bakradze: 2023 wurde nach russischem Vorbild ein Gesetz erlassen, das es erlaubt, Menschenrechtler und Oppositionelle als „ausländische Agenten“ zu kriminalisieren. Wer mit internationalen Organisationen zusammenarbeitet, kann rasch zum Spion erklärt werden. Ich hatte mich zudem entschieden, als Unabhängiger auf einer Liste der Opposition bei den Wahlen zu kandidieren.
taz: Darauf erfolgte Ihr Rausschmiss?
Bakradze: Genau. Und nun bin ich gewählter Abgeordneter des georgischen Parlaments. Allerdings hat die Opposition wegen der Wahlfälschung entschieden, ihre Sitze nicht einzunehmen. Ich hatte schon lange mit meiner Entlassung gerechnet. Als ich bei einer Wahlrede angemerkt hatte, dass beim regierenden Georgischen Traum so wenig Frauen sind, haben sie mich propagandistisch ins Visier genommen und die Sache umgedreht. Ich hätte etwas Frauenfeindliches gesagt. Man hat mich wie Tausende andere unter einem Vorwand gefeuert.
taz: Georgische Kultur, Malerei und Film gelten als sehr eigenwillig. Auf einer Reportagereise habe ich vor einigen Jahren das Werk des Malers Niko Pirosmani kennengelernt. Ein Autodidakt aus einer Bauernfamilie. Sein magischer Realismus um 1900 steht für den Beginn der georgischen Avantgarde. Warum ist sein Werk für Georgien so bedeutsam?
Bakradze: Pirosmanis Position basiert, wie auch der Filmer Giorgi Schengelaia zeigt, auf der traditionellen naiven Kunst Georgiens. Die späteren Avantgarden in der Sowjetunion waren nicht nur russländische. An ihnen waren Ukrainer, Weißrussen, Juden, Kaukasier, speziell Georgier beteiligt. 1913 wurden vier von Pirosmanis Gemälden bei der ersten großen Ausstellung moderner Malerei in Moskau gezeigt. Sein bisschen Geld verdiente Pirosmani als Auftrags- und Kunstmaler, 1918 starb er an Unterernährung. Sein Stil hat jedoch einen prägenden Eindruck auf die Avantgarde Russlands hinterlassen. Ähnlich der „naiven“ Kunst der afrikanischen auf die französische oder europäische Malerei. Seine Bilder hingen in Kneipen. Sie wurden nicht wirklich ausgestellt, sie dienten der Dekoration. Aber das war gleichzeitig unglaublich modern. Pirosmanis magischer Realismus markiert den Beginn der georgischen Avantgarde. Und bis heute diskutieren wir darüber, ob er für sein berühmtes Bild „Giraffe“ jemals eine Giraffe gesehen hat.
taz: Wer nach Georgien reist, wird überrascht sein, wie westlich die Jugend in Städten wie Tiflis orientiert ist. Woher rührt dieses große liberaldemokratische Selbstverständnis in einem Land, das bis 1990 unter der Knute der Sowjets stand?
Bakradze: Kulturell fühlen wir uns als Europäer. Seit der Antike ist das so. Später kam auch das Christentum hinzu. Die geografische Betonung der Trennung von Europa und Asien beruht auf einer politischen. Auf der einen Seite standen die alten Perser mit ihrem zentralistischen, autoritären Staat. Auf der anderen die alten Griechen, mit ihren kleineren Stadtstaaten, der Polis. Griechenland, das bedeutete Europa und Demokratie, Persien Asien und Autokratie. Doch bereits das antike Kolchis, Medea und die Argonauten waren Teil einer westlichen Erzählung. Georgien ist weder russisch noch asiatisch und hat doch auch orientalische Traditionen. „Grimms Märchen“ oder die „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“, beides ist hier sehr nahe. Georgien ist eine Brücke zwischen West und Ost.
taz: Inzwischen soll diese Brücke aber eingerissen werden. Die aktuelle Regierung ist offen auf den Kurs Russlands eingeschwenkt. Ist dieser Trend in Ihren Augen noch umkehrbar?
Bakradze: Die Mehrheit der georgischen Bevölkerung ist proeuropäisch eingestellt. Sie tritt dafür offen ein. So sehr, dass die Regierenden nie gewagt haben, direkt zu sagen: Wir wollen Europa nicht, wir wollen das russische Modell. Seit dem 24.November gibt es in Georgien permanente Proteste, die auf faire Wahlen und Demokratisierung bestehen. Die herrschende Partei Georgischer Traum ist ein Albtraum. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine haben hier viele ihre Maske abgenommen.
taz: Hinter der Regierung des Georgischen Traums steht der superreiche Oligarch Bidsina Iwanischwili?
Bakradze: Ein Milliardär, dessen persönliches Vermögen etwa ein Drittel des gesamten georgischen ausmachen soll. Sein Agieren ist wie sein Imperium völlig intransparent. Russische Dienste haben in Georgien relativ leichtes Spiel. Seit 13 Jahren regiert der Georgische Traum das Land. Ich kann mich allerdings nicht erinnern, dass in dieser Zeit auch nur ein einziger russischer Agent entlarvt oder abgeschoben worden wäre.
taz: Die Opposition und viele junge Leute in Tiflis kämpfen auch um ihre LGBTQ+-Rechte.
geboren 1965 in Tiflis, Hauptstadt Georgiens. Studierte Germanistik in Tiflis und Jena. Erlangte hier noch zu Zeiten der DDR 1989 sein Diplom. Ist zudem Historiker, Schauspieler, Drehbuchautor, Publizist und Oppositionspolitiker. Leitete von 2010 bis Herbst 2024 das Georgische Literaturmuseum. Unterrichtet unter anderem an der Ilia-Universität in Tiflis. Das Gespräch fand Mitte April in den Räumen der taz in Berlin statt.
Badradze: Es gibt eine sehr gute und tolerante Clubkultur in Tiflis. Aber schon zu Beginn der Regierungszeit des Georgischen Traums 2013 wurde der Straßenmob auf die Pride-Veranstaltung in Tiflis losgelassen. Da habe ich verstanden, wie populistisch und menschenfeindlich diese Leute wirklich sind. Die Polizei hat die Menschenjagden auf den Straßen zugelassen. Wir waren schockiert, haben dagegen protestiert. Die Regierung hat früher immer so getan, als sei sie zu schwach und hätte mit so etwas nichts zu tun. Inzwischen ist vieles anders. Im Kultursektor trieben sie die Säuberungen kontinuierlich voran. Bereits nach der Frankfurter Buchmesse 2018 nahm der Druck auf Medea Metreveli, Direktorin des Georgischen Nationalen Buchzentrums, und ihr Team zu. Sie wurde entlassen. Danach traf es Natascha Lomouri, Direktorin des Schriftstellerhauses in Tiflis. Viele andere, emanzipierte und gut ausgebildete Frauen wurden rausgeschmissen. Ebenso wie der Direktor des Filmzentrums. Es trifft die Leiterinnen von Museen der Theater. Dagegen ist die ganze Kulturszene in Aufruhr.
taz: Könnten die Kommunalwahlen im Herbst in Georgien vielleicht eine Trendwende bewirken?
Bakradze: Ich fürchte, nein. Es macht derzeit keinen Sinn, sich daran zu beteiligen. Die jetzige Staatsregierung ist illegitim, die Wahlkommission agiert einzig im Sinne der Partei, die die gesamte Macht an sich gerissen hat. Justiz, Sicherheitsdienste, Medien werden undemokratisch gelenkt. Für die Oppositionsparteien ist die Situation extrem schwierig.
taz: Was tun?
Bakradze: Wir müssen weiter von der Straße her Druck gegen die Regierenden aufbauen. Und hoffen, dass uns der Westen durch Sanktionen gegen die Machthaber und nicht nur durch Visabeschränkungen stärker unterstützt. Dabei dürfte auch der Ausgang des Krieges in der Ukraine für Georgien oder Moldau entscheidend sein. Unsere Zukunft ist mit der einer freien Ukraine verbunden. In Georgien gibt es enorme Sympathien für die Ukraine. Es gibt keine Demonstration, bei der ukrainische Fahnen nicht mit dabei wären. Aber nun haben wir Trump in den USA, Erdoğan in der Türkei, Autoritäre in Serbien, in Ungarn. Die brutale, unmenschliche Aggression von Russland gegen die Ukraine dauert an.
taz: Klingt alles nicht sehr optimistisch?
Bakradze: Die EU darf Georgien dennoch nicht aus den Augen verlieren. Nicht allein aus moralischen oder ethischen Gründen, sondern auch wegen dieser enormen proeuropäischen Stimmung im Land. Wenn man sich etwas Mühe gibt, können wir mit Georgien eine Erfolgsgeschichte schaffen. Die EU muss den Druck auf die jetzige sehr schwache Regierung erhöhen. Diese hat wenig Unterstützung in der Bevölkerung, setzt vor allem auf Repression. Es braucht scharfe Sanktionen gegen die Verantwortlichen für den jetzigen Terror gegen die Zivilgesellschaft. Die politischen Gefangenen müssen freikommen und wir brauchen faire demokratische Neuwahlen. Die Proteste in Georgien gehen jeden Tag weiter. Wir wollen keinen Einparteienstaat mit Fake-Opposition wie in Russland oder mit „Blockflöten“ wie in der früheren DDR. Wir wollen nach Europa.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen