debatte: Weckruf gegen Hamas
Die Proteste gegen die Hamas im Gazastreifen stellen eine westliche Erzählung infrage. Die Menschen in Gaza sind mehr als ihre Unterdrücker
Die jüngsten Proteste gegen die Hamas im Gazastreifen sind nicht nur ein kraftvoller Akt des Widerstands. Sie stellen verkürzte und vorherrschende Erzählungen infrage, die in den vergangenen 18 Monaten dazu dienten, die Bewohner des Gazastreifens zu entmenschlichen. Die Proteste machen deutlich: Die Menschen im Gazastreifen sind weder geschlossen Hamas-treu noch bloße Opfer des Kriegs. Sie sind Akteure ihrer eigenen Zukunft und fordern aktiv ihre Handlungsfähigkeit zurück.
Die Botschaft der Demonstrierenden ist eindeutig: Die Menschen wollen ein Ende des Kriegs, die Rückkehr ihrer Geiseln, die Absetzung der Hamas und die Möglichkeit, ihre Stadt mit eigenen Händen wiederaufzubauen.
Dabei handelt es sich nicht um abstrakte, ideologische Forderungen, sondern um praktische, humanitäre Anliegen. Die Demonstrierenden fordern die Rückkehr zur Normalität, die Beendigung der Gewalt, die seit Monaten auf ihre Häuser niedergeht, und den Wiederaufbau des Gazastreifens – nicht im Schatten ausländischer Interventionen, sondern durch die Palästinenser selbst. Es ist ein Aufruf zur Autonomie und dazu, dass die Zukunft des Gazastreifens von seiner Bevölkerung bestimmt wird – nicht von externen Mächten oder den gewalttätigen Ambitionen eines extremistischen Regimes. Sie fordern nicht nur ein Ende der Hamas-Herrschaft, sondern auch die Möglichkeit, ihre Stadt wiederaufzubauen, ihre Wunden zu heilen und ohne die ständige Bedrohung durch den Krieg zu leben.
Dabei muss man sich darüber im Klaren sein, dass bereits der bloße Akt des Protests unter dem Hamas-Regime eine lebensgefährliche Entscheidung ist. In den vergangenen Monaten hat die Hamas auf abweichende Meinungen mit extremer Gewalt reagiert.
Die Ermordung von Oday Nasser al-Rabay – einem 22-jährigen Demonstranten, der zu Tode gefoltert wurde, nur weil er ein Ende der Hamas-Herrschaft und des Kriegs gefordert hatte – verdeutlicht die brutale Vorgehensweise, mit der die Hamas Andersdenkende unterdrückt. Für jede Person, die es wagt, ihre Stimme zu erheben, gibt es unzählige andere, die aus Angst vor den grausamen Konsequenzen schweigen.
Die Demonstrierenden – junge und alte Menschen, Männer und Frauen – senden nicht nur eine Botschaft an die Hamas, sondern an die ganze Welt: Der Krieg bestimmt nicht, wer sie sind, und sie stehen nicht auf der Seite derer, die sie gefangen halten. Diese Proteste entlarven die intellektuelle Unaufrichtigkeit einer Erzählung, die alle Bewohner des Gazastreifens entweder als Mittäter oder als Opfer der Hamas-Gewalt einstuft.
HamzaHowidy ist 27 Jahre alt und wurde in Gaza geboren. Er studierte an der Islamischen Universität Gaza. Nachdem er 2023 zum zweiten Mal an Protesten gegen die Hamas und für bessere Lebensbedingungen in Gaza teilgenommen hatte, wurde er von der Hamas verhaftet.Zurzeit hält er sich in Deutschland auf.
Die anhaltende mediale Darstellung der Bevölkerung des Gazastreifens als entweder Anhänger von Terroristen oder hilflose Opfer des israelischen Militärs diente dazu, die gesamte Bevölkerung zu entmenschlichen. Diese vereinfachende Sichtweise untergräbt die Handlungsfähigkeit der Menschen, die sich nicht der radikalen Ideologie der Hamas anschließen.
Ebenso beunruhigend ist die Scheinheiligkeit innerhalb der internationalen „propalästinensischen“ Bewegungen. Seit 18 Monaten werden die Stimmen der Menschen in Gaza, die alles riskieren, um sich von der Hamas zu befreien, in der weltweiten Diskussion meist ignoriert oder abgetan. Die Ermordung von Oday Nasser al-Rabay durch die Hamas etwa blieb von internationalen Aktivistinnen und Aktivisten meist unbemerkt.
Als jedoch Personen wie Mahmoud Khalil – ein Student der New Yorker Columbia University – aufgrund ihres Aktivismus für Palästina im Westen inhaftiert wurden, kam es zu Protesten, die seine Freilassung forderten. Das Schweigen angesichts der Proteste in Gaza und die fehlende Empörung über den Tod junger Demonstrierender sind ein Armutszeugnis für die selektive Solidarität, die den globalen Diskurs durchdrungen hat. Widerstand gegen die Hamas wird ignoriert, weil er nicht in den ideologischen Rahmen vieler passt, die behaupten, sich für die Rechte der Palästinenser einzusetzen.
Die Ironie ist offenkundig: Die Hamas hat lange Zeit von der Unterstützung bestimmter Lager innerhalb der propalästinensischen Bewegung im Westen profitiert. Die Gleichsetzung der palästinensischen Bevölkerung mit der Hamas hat unbewusst die Erzählung dieser Gruppe und damit ihre Vorherrschaft im Gazastreifen gestärkt.
Damit die Proteste in Gaza jedoch ihre Ziele – Frieden, Autonomie und ein Ende der Hamas-Herrschaft – erreichen können, muss diese Beziehung neu bewertet werden. Die propalästinensische Bewegung im Westen muss öffentlich ihre Verurteilung der Hamas signalisieren und die Forderungen der Demonstrierenden in Gaza anerkennen: ein Ende des Kriegs, die sichere Rückkehr der Geiseln und die Vertreibung der Hamas aus Gaza. Ohne diesen Wandel in der Rhetorik und Solidarität werden die Rufe des Gazastreifens nach Frieden und Gerechtigkeit weiterhin von einer globalen Bewegung übertönt, die es versäumt hat, zwischen den Menschen im Gazastreifen und dem Gewaltregime, das sie unterdrückt, zu unterscheiden.
Die Menschen in Gaza sind nicht einfach nur Spielfiguren in einem größeren ideologischen Kampf. Sie sind Individuen, Familien und Gemeinschaften, die für ihr Recht kämpfen, in Frieden zu leben, ihre Häuser wiederaufzubauen und ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Wenn die propalästinensische Bewegung – insbesondere im Westen – den Gazastreifen wirklich wirksam unterstützen will, muss sie die deutliche Stimme der Menschen vor Ort endlich anerkennen und die Komplizenschaft mit der Hamas zurückweisen. Nur durch diesen entscheidenden Wandel in der Solidarität kann der Freiheitskampf des Gazastreifens verstanden werden und – was eigentlich noch wichtiger ist – seine Ziele erreichen.
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