: „Es ist wichtig, der Vereinsamung etwas entgegenzusetzen“
Der extreme Drang nach rechts hat auch was mit Vereinzelung zu tun, meint der Politikwissenschaftler Benjamin Opratko. Und dass es wieder mehr Orte braucht, wo Menschen zusammenkommen
Interview Amira Klute
taz: Herr Opratko, in der kleinsten Stadt Deutschlands, Arnis an der Schlei in Schleswig-Holstein, hat nur eine Person AfD gewählt. Bringt es was, sich mit solchen Einzelfällen auseinanderzusetzen, wenn die ganze Welt nach rechts rückt?
Benjamin Opratko: Ja! Ich glaube, es ist notwendig, auf lokale Beispiele zu schauen, weil Menschen ja ganz konkret vor Ort mit dem Rechtsruck umgehen müssen. Da reicht es nicht, als Erklärung nur auf die großen Krisen in der Welt zu verweisen. Aber wir sollten konkrete Untersuchungen dann auch ins Verhältnis zueinander stellen.
taz: Wie meinen Sie das?
Opratko: Es wäre hilfreich zu fragen: Was macht diese Kleinstadt in Schleswig-Holstein vergleichbar mit jener Kleinstadt in Oberösterreich, dieser im Nordosten Frankreichs und jener in Oklahoma?
taz: Und was wäre das? Gibt es Bedingungen für den Aufstieg der Rechten, die weltweit zu beobachten sind?
Opratko: Eine sehr große Frage, weil sie mit den Entwicklungen des globalen neoliberalen Kapitalismus der letzten Jahrzehnte zu tun hat. Es gibt dazu verschiedene Befunde. Zum Beispiel sehen wir, dass Menschen dort extreme Rechte wählen, wo soziale Infrastruktur rückgebaut wird. Es gibt immer weniger Orte des Zusammenlebens wie Vereine, Kneipen oder Kegelclubs, Menschen fahren seltener gemeinsam zur Arbeit oder sind in Gewerkschaften organisiert. Wir verbringen heute viel mehr Zeit allein oder in Familienzusammenhängen. Diese Tendenz trifft auf weite Teile der westlichen Welt zu. Für die Wahlentscheidung ist aber auch wichtig, wie Menschen ihre Situation und die Lage der Welt bewerten.
taz: Geht es also auch darum, was Menschen für ein Problemgefühl haben?
Opratko: Durchaus. Die Unterstützung für rechte Parteien kommt überwiegend von Menschen, die unzufrieden damit sind, wie die Welt sich aus ihrer Sicht entwickelt, was nicht heißt, dass sie selbst davon betroffen sein müssen. Menschen in Kleinstädten regen sich zum Beispiel darüber auf, was in U-Bahnen in der Hauptstadt passiert, wo sie nie sind. Die AfD ist nicht dort besonders stark, wo besonders viele Menschen mit Migrationsgeschichte wohnen, ganz im Gegenteil.
taz: Menschen auf dem Land wählen eher extrem rechte Parteien als Menschen in der Stadt, wo viel mehr Leute aus verschiedenen Teilen der Welt wohnen.
Opratko: Das unterschiedliche Wahlverhalten wird unter anderem mit der Kontakthypothese erklärt: Dort, wo gesellschaftliche Vielfalt Alltag ist, werden rassistische Vorurteile eher abgebaut. Voraussetzung ist aber, dass Menschen finden, dass das Zusammenleben funktioniert.
taz: Was heißt das?
Opratko: Der Effekt kann sich umdrehen, wenn die Wahrnehmung überwiegt, dass alles immer schlechter wird. Dass Straßen nicht repariert werden, Kitas dichtmachen, Busse nicht mehr fahren. Die Forschung zeigt, dass Menschen nach kausalen Erklärungen für Verschlechterungen im Alltag suchen. So kommt es dazu, dass die Präsenz von Menschen, die noch nicht so lange da sind, als Ursache für Probleme angenommen wird. Der Effekt wurde schon in den 1970er Jahren in Arbeitervierteln in Großbritannien festgestellt, als die Industrie sich im Niedergang befand und es gleichzeitig viel Migration aus den ehemaligen Kolonien gab.
taz: Aber ist da nicht was dran, dass Infrastruktur schlechter für alle wird, wenn mehr Menschen sie nutzen?
Opratko: Diesen Zusammenhang behauptet die Rechte. Tatsächlich ist es aber vor allem das Ergebnis unzureichender öffentlicher Investitionen.
taz: Also sehen Menschen für reale Probleme die falschen Ursachen?
Opratko: Ja, wir haben es mit Prozessen der Verschiebung zu tun. Sie entspringen oft einem Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber den Verhältnissen. Wir haben in einem Forschungsprojekt Menschen in verschiedenen europäischen Ländern interviewt, die in schlecht bezahlten „Knochenjobs“ arbeiten, etwa in Warenlagern. Viele von ihnen waren unzufrieden mit ihren Arbeitsverhältnissen. Gleichzeitig glauben sie nicht, dass die Politik oder die Gewerkschaft etwas an ihrer Situation ändern könnte, was ja auch eine Erfahrung der letzten Jahrzehnte ist. Es findet dann eine Verschiebung statt, hin zu vermeintlich bewältigbaren Ursachen, wie Migration. Die Figur des Flüchtlings wird so eine zentrale Chiffre für Ungerechtigkeit. Die Vorstellung, dass Geflüchtete vom Staat etwas bekämen, ohne etwas geleistet zu haben, ist im Bewusstsein vieler verankert.
taz: Was kann man dagegen machen?
Opratko: Auf politischer Ebene ist das Allerwichtigste, dass die soziale Infrastruktur wieder aufgebaut wird, auch staatlicherseits. Wenn in Regionen die Vorstellung vorherrscht „wir sind verlassen“, ist das ja keine Einbildung. Ein besserer ÖPNV wird nicht übermorgen die AfD aushebeln, aber ist Voraussetzung für Veränderung. Auf der Alltagsebene ist es wichtig, Vereinsamung und Vereinzelung etwas entgegenzusetzen. Wir brauchen wieder mehr Eckkneipen, aber vor allem mehr Orte, wo Menschen zusammenkommen, um was zu tun. Und die Menschen müssen die Erfahrung machen, dass Politik auch ihr Leben verbessern kann, statt nur das von anderen schlechter zu machen.
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