Trumps Position zur Nato: Eine Armee unter europäischer Flagge
Europa braucht eigene Waffensysteme und ein zentrales Oberkommando, um sich von Trump abzunabeln. Die nukleare Abschreckung ist die wirksamste.
N och vor geraumer Zeit war der Schlachtruf „Raus aus der Nato!“ der extremen europäischen Linken vorbehalten. Er klang nach den „Ho-Ho-Ho-Chi-Min“-Rufen der Vietnamkriegsgegner und sollte die amerikanische Außenpolitik als bösartigen Imperialismus brandmarken. Heute dagegen scheint ein Nachdenken über die Schattenseiten eines Verbleibs der europäischen Staaten im transatlantischen Verteidigungsbündnis auch aufseiten gemäßigter liberaler Demokraten notwendig zu sein.
Alles dominierend ist gegenwärtig jedoch die große Befürchtung des Alleingelassenwerdens, dass sich die USA nämlich aus der Nato zurückziehen und der über Europa gespannte atomare amerikanische Schutzschirm entzogen werden könnte. Die Betrachtung der Nachteile, die sich für europäische Nato-Staaten durch die Bündnisverpflichtungen gegenüber einem Trump’schen Amerika ergeben können, geht bislang in der fast schon panisch zu nennenden Verängstigung unter.
Schaut man sich hingegen die ersten Wochen der neuen amerikanischen Regierung unter Donald Trump an, so muss man leider noch ganz andere Entwicklungen befürchten: Trump 1.0 hat zwar während seiner ersten Präsidentschaft keinen Krieg begonnen. Allerdings sollte man sich keiner Illusion hingeben, dass Trump 2.0 wieder so agiert. War die Kennzeichnung „angeberischer, aber schwacher und dilettantischer Präsident“ für ihn damals noch gerechtfertigt, so hat sich das Aufgeblasene seiner Person nicht nur erhalten, sondern sogar gesteigert.
Und von Schwäche kann jetzt nicht mehr die Rede sein. Trump ist von einem Präsidenten, der autoritär sein wollte, ohne zu wissen, wie er das konkret anstellen soll, zu einem unberechenbaren und disruptiven Berserker geworden, der von Rachegelüsten und Allmachtsfantasien getrieben nun tatsächlich innen- wie außenpolitisch die „Köpfe rollen“ lässt. Die Wahrscheinlichkeit, dass er in seiner zweiten Präsidentschaft irgendwann auch nach innen wie nach außen zu militärischen Mitteln greift, um seine Ziele zu erreichen, ist daher als nicht gering einzuschätzen.
Pflicht zum Beistand im Bündnisfall
Sollte es etwa durch die massiv angestiegene Systemrivalität zwischen China und den USA zu einem militärisch geführten Konflikt um Taiwan kommen, würden beide Seiten beschwören, dass sie nur von ihrem Recht auf legitime Verteidigung Gebrauch machten. Riefen also die USA in einem solchen Falle nach Artikel 5 des Nato-Vertrags den Verteidigungs- und Bündnisfall aus, müssten die anderen Nato-Mitglieder Beistand leisten.
Bei Trump, dem Großmeister faustdicker Lügen, ist bedauerlicherweise auch nicht ausgeschlossen, dass er sich an frühere amerikanische Regierungen erinnert, die vorgegaukelte Anlässe nutzten, um militärische Gewalt zu legitimieren. Vom Tonkin-Zwischenfall 1964 im Vietnamkrieg über die „Brutkastenlüge“ 1990 beim Krieg zur Befreiung Kuwaits bis hin zum vom damaligen US-Außenminister Colin Powell 2003 erhobenen Vorwurf, Saddam Husseins Irak besäße Massenvernichtungswaffen, finden sich wahrheitswidrige Konstruktionen von Kriegsrechtfertigungen.
Fairerweise gilt es anzufügen, dass das keine alleinig amerikanische Spezialität ist. Zwar konnte ein Gerhard Schröder 2003 beim Krieg gegen den Irak sein Nein gegenüber einer „militärischen Option“ noch weitgehend ohne Nachteile in Bezug auf die deutsch-amerikanischen Beziehungen verkünden. Ein Donald Trump dagegen würde das Zögern seiner europäischen Bündnispartner im von ihm bestimmten „Verteidigungsfall“ heute wohl mit dem Entzug militärischer Schutzverpflichtung Europa gegenüber bestrafen.
Dass eine solche Vor- und Nachteile abwägende Debatte, was den Verbleib in der Nato anbetrifft, nicht wirklich geführt wird, liegt zentral an der militärischen Schwäche Europas. Den Schutz durch den Big Brother aktiv auszuschlagen, würde bedeuten, dass die Europäer selbst stark genug sein müssten, um einen potenziellen Angreifer abzuwehren. Sie sehen sich deshalb momentan gezwungen, mit dem autoritären „Anführer der freien Welt“ in einem Boot sitzenzubleiben.
Kein Verlass auf die USA – mit oder ohne Trump
Das Risiko, unter einem psychopathisch anmutenden Präsidenten als Bündnisstaaten in eine kriegerische Katastrophe mitgerissen zu werden, wird gegenwärtig als wesentlich geringer eingeschätzt als das Risiko der relativen militärischen Schutzlosigkeit im Falle des Wegfalls amerikanischen Beistands – sofern diese Gefahr überhaupt wahrgenommen wird. Dazu kommt natürlich die Hoffnung, dass vier Jahre Trump absehbar sind und sich danach wieder eine transatlantische Normalität mit der alten Rollenverteilung einstellen könnte.
Davon auszugehen, wäre jedoch zu riskant, wenn nicht sogar unrealistisch. Trump wird vom Kurs des Abstandnehmens gegenüber westlichen Werten so wenig ablassen, wie das ein trumpistischer Nachfolger tun würde. J. D. Vance ist in dieser Hinsicht sogar als noch größerer Scharfmacher einzustufen. Aber selbst wenn es einen nächsten Präsidenten aus den Reihen der Demokraten gäbe, wäre eine Rückkehr zum „alten Normal“ einer transatlantischen Papa-passt-auf-Situation nicht mehr zu erwarten.
Die aktuelle Debatte, ob das vergleichsweise kleine, atomar gerüstete Frankreich mit seiner Force de frappe samt britischer Unterstützung einen nuklearen Schutzschirm als Ersatz für die amerikanischen Atombomben über Europa ausbreiten könnte, ist daher keineswegs abwegig. Es sieht aus verschiedenen Gründen jedoch nicht so aus, als ergäben sich daraus ausreichende Schutzmaßnahmen.
Was also ist jetzt zu tun? Zum Ersten gilt es, sich die Konsequenzen aus der zunehmenden Entfremdung mit einem eventuell auf Dauer autoritär geführten illiberalen Amerika deutlich zu machen. Natürlich kann es sein, dass die amerikanische Regierung aus Eigeninteresse heraus die militärische Kooperation samt nuklearer Protektion fortsetzt, aber als sicher darf das nicht mehr vorausgesetzt werden.
Die liberalen Demokratien wehrhaft machen
Deswegen wäre es klug, bereits jetzt einen Plan B zu entwickeln, wie Europa sich erfolgreich militärisch schützen kann. Das gilt auch und insbesondere für den Fall, dass die Europäer zur Erkenntnis kommen, eine weitere Mitgliedschaft in einer Verteidigungsgemeinschaft – angeführt von einem im Stil eines Mafiabosses agierenden „Deal-Makers“– wäre ein viel zu gefährliches Unterfangen.
Die Europäer müssen also nicht nur ihre liberalen Demokratien nach innen wehrhaft machen und verteidigen, sondern auch das Risiko eines Militärbündnisses mit einem dauerhaft nicht mehr denselben Werten verpflichteten Großalliierten aus Selbstschutzgründen realistisch einschätzen. Spätestens wenn es zu einem Krieg kommen sollte, in dem die USA Bündnisverpflichtungen einfordern, die nur durch fabrizierte Gründe gedeckt sind, müssen die europäischen Staaten für ein klares Nein gerüstet sein.
Der französische Staatschef Emmanuel Macron lag insofern nicht falsch, als er 2023 davor warnte, dass Europäer als „Mitläufer“ und „Vasallen“ bei einem militärischen Konflikt zwischen den USA und China zwischen die Fronten geraten könnten. Zum Zweiten und als Konsequenz aus der ersten Überlegung muss daher eine europäische Armee geschaffen werden. Und zwar eine einzige.
Es macht keinerlei Sinn, dass unzählige nationale Klein- und mittelgroße Armeen sich mit eigenen Kommandostrukturen und Waffensystemen ausstatten und in einem kollektiven Bündnisfall Dutzende Länder nationale Mitsprache- oder gar Vetorechte haben können. Die Verteidigungseffizienz leidet darunter massiv. Ähnlich wie bei der gemeinsamen Währung wäre es bei einer europäischen Armee unter Befehl eines europäisch zu bestimmenden politischen Oberkommandos nicht einmal notwendig, vorher die Vereinigten Staaten von Europa zu gründen.
Europäische Waffensysteme
Diese europäische Armee müsste mit in Europa produzierten Waffensystemen ausgestattet sein. Überdies müsste sie einen rein defensiven Charakter aufweisen und sich alleine dem Ziel verpflichtet sehen, einen Angriff auf Europa abzuwehren. Offen könnte ein solches europäisches Verteidigungsbündnis für liberale Demokratien wie etwa Kanada oder Japan sein.
Zum Dritten muss dabei – so schmerzlich das auszusprechen ist – der Schwerpunkt auf die nukleare und abgestufte Abschreckung gelegt werden. Wenn die geopolitischen Ereignisse aus den letzten Jahrzehnten etwas gelehrt haben, dann dass eine nukleare Abschreckung die wirksamste, wenngleich gefährlichste ist. Wenn es gelänge, die französischen und britischen Atomwaffen aus europäischen Mitteln aufzustocken und einem politisch geführten europäischen Zentralkommando zu unterstellen, ließe sich hinreichend nuklear abschrecken.
Zudem könnte darüber eventuell ein gerade einsetzender Rüstungswettlauf bei konventionellen Waffen, wenn nicht verhindert, so doch begrenzt werden. Eine europäische Sicherheitsarchitektur mit einem nationalen atomaren Wettrüsten, in der es schlussendlich nicht nur eigene britische, französische, sondern gar deutsche, italienische oder spanische Atomwaffen gäbe, wäre jedenfalls ein Albtraum und strikt zu vermeiden.
Das Risiko jedoch, dass Europa insgesamt autokratisch wird und dann über eine schlagkräftige europäische Armee samt Atomwaffen verfügt, lässt sich dabei nicht gänzlich ausschließen. Was also ist das Fazit? Die Reißleine ziehen und raus aus dem Boot? Ein aktiver Ausstieg der Europäer aus der Nato zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre wohl übereilt, gerade weil immer noch die Möglichkeit besteht, dass die USA, die ja über Jahrzehnte ein verlässlicher Bündnispartner waren, das wieder werden könnten.
Europa sollte jedoch angesichts der geopolitischen Fährnisse vorbereitet sein, sowohl auf ein isolationistisches MAGA-Amerika, das sich aus der Nato zurückzieht, als auch auf ein aktives Distanznehmen der Europäer von einem Amerika, sofern es ihnen zum Verhängnis zu werden droht. Oder um es in den unlängst von Jürgen Habermas formulierten Worten zu sagen: Wir Europäer müssten „auf die neue Situation eine rettende Antwort“ finden, ansonsten bestehe die Gefahr, dass „Europa in den Strudel der absteigenden Supermacht“ gerät. Europa muss also so oder so erwachsen werden.
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