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Debatte um MigrationTeilhabe fördern statt „Brot, Bett und Seife“

Die aktuelle Flüchtlingsdebatte geht an den eigentlichen Herausforderungen in Deutschland vorbei. Es braucht eine evidenzbasierte Migrationspolitik.

Illustration: Katja Gendikova

Z urückweisungen auch bei Asylgesuchen an den Grenzen, Aussetzung von Familiennachzug und von humanitären Aufnahmeprogrammen, Einrichtung von „Ausreisearrest“ und eine Erweiterung der Liste sicherer Herkunftsstaaten. Die Vorstellungen zur Steuerung von Migration im Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD lesen sich geradezu dystopisch. Mit diesen Maßnahmen reagiert die künftige Bundesregierung unter Friedrich Merz auf aktuelle und längerfristige gesellschaftliche Herausforderungen.

Der Stellenwert, den das Thema Migration in den Debatten einnimmt, und die Art, wie die Thematik diskutiert wird, ist durch eine extreme Engführung der Problem­perspektive geprägt

Als sozialwissenschaftlich arbeitende Migrationsforscherinnen analysieren wir den Zustand der Gesellschaft multiperspektivisch und beobachten, wie sich Veränderungen von Rahmenbedingungen in der Realität niederschlagen und wie sich die Gesellschaft als Ganzes in migrations- und asylrechtlichen Fragen entwickelt. Was sind die gesellschaftlichen Herausforderungen, auf die gerade mit so rigorosen Maßnahmen politisch reagiert wird? Und vor allem: Welche Ursachen haben sie?

Der Stellenwert, den das Thema Migration in den Debatten vor allem der vergangenen Monate sowie in den aktuellen Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen einnimmt, und die Art und Weise, wie die Thematik diskutiert wird, ist durch eine extreme Engführung der Problemperspektive geprägt. Wissenschaftliche Erkenntnisse der Flucht- und Migrationsforschung finden in der Politik kaum Berücksichtigung. Anstelle einer menschenrechts- und evidenzbasierten Politik werden vermeintliche Lösungen für vermeintliche Probleme präsentiert.

Birgit Glorius

ist Professorin für Humangeographie. Sie forscht zu Flucht und Flüchtlingsaufnahme und ist Stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration.

Judith Vey

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Bremen mit dem Schwerpunkt soziale Bewegungen und Fluchtmigration aus einer hegemonie­theoretischen Perspektive.

Die aktuelle Politik verkennt die tatsächlichen Herausforderungen im Asyl- und Migrationsbereich. Übersehen wird dabei der wissenschaftlich dargelegte dringende Handlungsbedarf in Bezug auf den Abbau von Exklusionsmechanismen, mit denen Geflüchtete in allen zentralen gesellschaftlichen Bereichen wie Bildung, Arbeitsmarkt, Wohnen wie auch gesellschaftliche und politische Teilhabe konfrontiert werden. Insbesondere die Asylpolitik wird überwiegend als Exklusions­politik betrieben.

Unsicherheit und Exklusion

Gewalttaten von Einzeltätern wie in Aschaffenburg oder München werden viel zu oft stellvertretend für alle Asylsuchenden und für eine als gescheitert erklärte Asylpolitik gewertet. Sinnvoller wäre, sachlich-analytisch nach den Ursachen dieser Taten zu fragen. Aus Sicht der Fluchtforschung überrascht es nicht, dass aus den durch jahrelange Unsicherheit und Exklusion geprägten Lebensumständen von Asylsuchenden psychische Erkrankungen und potenziell auch Radikalisierungen resultieren.

Flucht­for­sche­r:in­nen sprechen seit Jahrzehnten von Sammelunterkünften als Orten der (Im-)Mobilisierung und Werkzeugen migrationspolitischer Regierungspraktiken, von halboffenen Lagern und Orten der organisierten Desintegration. Aktuelle Kürzungen bei Sprachkursen, Beratungsstellen und psychosozialen Zentren verstärken diese Effekte zusätzlich, ganz zu schweigen von der Kasernierung von Geflüchteten in Lagern, wie es sie seit 2018 als Ankerzentren flächendeckend in Bayern gibt.

In diesen abgeschirmten Unterkünften wird den Be­woh­ne­r:in­nen nahezu jedwede Möglichkeit auf Selbstbestimmung, Privatsphäre und gesellschaftliche Teilhabe verwehrt. Vollverpflegung, genau abgezählte Wochenrationen an Toilettenpapier, für abgelehnte Asylsuchende keinerlei Bargeldausgabe, keine unabhängigen Beratungsmöglichkeiten auf dem Gelände – so sieht die Realität in diesen Sammelunterkünften aus.

Sogar die Gewerkschaft der Polizei lehnte damals deren Einführung ab; die Organisation Ärzte der Welt beendete die Betreuung, da sie unter den vorherrschenden Bedingungen nicht mehr länger die Verantwortung für die zum Teil schwer psychisch kranken und dringend behandlungsbedürftigen Pa­ti­en­t:in­nen tragen konnte. In Eisenhüttenstadt und in Hamburg sind in den vergangenen Wochen die ersten zwei sogenannten Dublin-Zentren für Geflüchtete, die über ein EU-Land eingereist sind, eröffnet worden.

Globaler Norden ist verantwortlich

Hier soll es, wie es die sozialdemokratische Innenministerin Brandenburgs Katrin Lange formulierte, nur „Brot, Bett und Seife“ geben. Folge dieser zunehmend auf Ausgrenzung und Abwehr fokussierten Strategien ist ein destruktiver gesellschaftlicher Diskurs und die Normalisierung von rassistischen, demokratiefeindlichen rechten Positionen.

Ob auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, im zivilgesellschaftlichen Engagement oder im Bildungsbereich: Migrantisierte Menschen werden in Deutschland systematisch benachteiligt. Mi­gran­t:in­nen und Menschen auf der Flucht werden mehr und mehr als Feinde betrachtet. Eine solche Politik ist grundlegend falsch und gefährlich; auch, weil sie droht, die eigenen demokratischen, rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Fundamente auszuhöhlen. Ein Blick in die USA reicht, um zu erkennen, wie schnell es um die Rechte aller Bür­ge­r:in­nen geschehen ist.

Eine Kehrtwende in zweierlei Hinsicht ist notwendig. Zum einen müssen Politik und Gesellschaft wahrnehmen, dass die Welt zunehmend von Konflikten und Kriegen beherrscht wird und die Zahl der Flüchtenden damit steigt. Gewalt, Hunger, die klimabedingte Vernichtung von Lebensgrundlagen – es gibt viele Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Und wir sind mit unserer Lebensweise im erheblichen Maße daran beteiligt.

Der deutsche Soziologe Stephan Lessenich beschreibt anschaulich, wie wir die Kosten unserer Lebensweise auf andere Gesellschaften – vor allem im Globalen Süden – und auf spätere Generationen auslagern. Unsere Lebensweise ist einer der Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen und in andere Länder fliehen müssen. Nur ein kleiner Prozentsatz davon erreicht den Globalen Norden.

Eine Chance, keine Bürde

Migration lässt sich nicht durch die gewaltvolle Ausgrenzung und Abweisung von Menschen mit Flucht- oder Migrationserfahrung beenden. Stattdessen müssen wir anerkennen, dass unsere Lebensweise mit den globalen Fluchtbewegungen strukturell verstrickt ist. Und schon gar nicht dürfen wir unsere rechtlichen Verpflichtungen gegenüber Menschen auf der Flucht verneinen. Zum Zweiten herrscht in Deutschland ein allgegenwärtiger Pessimismus.

Eine Gesellschaft, die zwar durch Einwanderung und Diversität seit Langem geprägt ist, es aber versäumt hat, diese Tatsache in ein kollektives Selbstverständnis eingehen zu lassen. Je­de:r zweite Ein­woh­ne­r:in ist heute älter als 45 und jede fünfte Person älter als 66 Jahre. Das Ausscheiden der geburtenstarken Babyboomer-Generation aus dem Erwerbsleben erzeugt einen Ersatzbedarf von rund 500.000 Personen – pro Jahr! Bereits heute ist die Zahl nicht besetzter Arbeitsplätze mit 1,5 Millionen auf einem Rekordhoch, mit deutlichen branchenspezifischen Peaks wie etwa im Handwerk oder in der Pflege.

Trotz vieler positiver Änderungen in der deutschen Einwanderungsgesetzgebung verdrängt der migrationspolitische Diskurs durch seinen Fokus auf Abwehr und Kontrolle die reale Lage. Dabei haben wir es mit einem stetig wachsenden Bedarf an Arbeitskräften zu tun und mit dem Manko einer schwer zu lernenden Sprache, einer überbordenden Bürokratie und einer notorisch schlecht gelaunten Bevölkerung.

Asylsuchende und Mi­gran­t:in­nen sind nicht eine Bürde, sie sind eine Chance, gesellschaftliche Probleme in Deutschland zu lösen. Stattdessen werden arbeitsfähige Menschen, die zu uns kommen, gleich ob als Asylsuchende oder als Arbeitsmigrant:innen, mit einer Flut von Forderungen und Prüfaufträgen konfrontiert. Oft dauert es Jahre, bis sie beruflich dort wieder ansetzen können, wo sie in ihrem Herkunftsland aufgehört haben.

Langwierige Anerkennungsverfahren

Tausende mexikanische Krankenschwestern, syrische Lehrerinnen und ukrainische Ärztinnen üben ihre Berufe in Deutschland nicht aus, sondern warten auf den Ausgang ihres Anerkennungsverfahrens. Selbst wenn das Deutsch nicht lupenrein ist, selbst wenn die syrische Lehrerin vielleicht nur ein Lehrfach und nicht zwei studiert hat, selbst wenn der irakische Lackierer keinen Gesellenbrief mitbringt, dafür aber 20 Jahre Berufserfahrung, könnten sich diese Menschen viel unmittelbarer in den Arbeitsmarkt einbringen.

Sie sollten dabei flexibel und individuell unterstützt werden. Stattdessen wird ihnen der Weg ins Arbeitsleben und in ein selbstbestimmtes Leben mit einer Flut von Auflagen erschwert. Angesichts der besorgniserregenden globalen Sicherheitslage und der großen Herausforderungen der kommenden Jahre ist es umso wichtiger, eine positive gesellschaftliche Transformationsstimmung zu erzeugen, die alle Teile der Gesellschaft einbezieht und eben nicht auf Abwehr, Ausgrenzung und Kontrolle basiert.

Aus diesem Grund haben wir eine Stellungnahme für eine evidenz- und menschenrechtsbasiserte Migrations- und Asylpolitik verfasst.

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10 Kommentare

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  • Warum sollten wir überhaupt ein Interesse daran haben den Bevölkerungsschwund bei uns aufzuhalten? Der in allen westlichen Gesellschaften im 21. Jahrhundert anstehende Bevölkerungsrückgang ist die offensichtlichste Lösung der Klimakrise über Degrowth.



    Für die Wirtschaft wäre das allerdings sehr schlecht. Elon Musk trommelt dagegen schon seit Jahren als eine der größten Gefahren aus seiner Sicht.



    Sollten wir uns nicht lieber darüber Gedanken machen wie wir diesen Bevölkerungsrückgang am besten managen, statt uns einen Bürgerkrieg mit Ansage ins Land zu holen oder die Machtübernahme der Faschisten abzuwarten?



    Jeder Artikel über die wirtschaftliche Verwertbarkeit von Geflüchteten lässt mich in einer linken Zeitung ratlos zurück.

    • @Šarru-kīnu:

      Nicht nur in westlichen Gesellschaften.

      Es gibt wissenschaftliche Schätzungen, nach denen bis Ende dieses Jahrhunderts nur noch 12 Länder ein Bevölkerungswachstum verzeichnen.

      In Staaten, wie Tadschikistan, Somalia, ...

      Wenn die Weltbevölkerung sich wirklich einpendeln, wie wissenschaftlich prognostiziert, kann es auch kaum anders kommen.

      Das bedeutet, über kurz oder lang braucht man ohnehin ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, das ohne Wachstum funktioniert.

      Den Kopf in den Sand zu stecken und das als evidenzbasiert und wissenschaftlich zu verkaufen, beeindruckt mich.

      • @rero:

        Ist den das Wirtschaftswachstum vom Bevölkerungswachstum abhängig? Das bezweifel Ich sehr.

  • Die Bürokratie, die Gleichgültigkeit der Politik, die Erfolge der Hetzkampagnen von Rechts bis tief in die Mitte, zeigen eben Wirkung. Erschreckend ist allerdings auch die allgegenwärtige Schikane, die von Mitarbeiter*innen der Behörden, Wachdiensten und Betreibern der Unterkünfte manchmal genussvoll an den Menschen betrieben wird. Ein Beispiel: ein verheiratetes Paar will sich nach fast einem Jahr der Trennung hier in D wieder zusammenfinden. Sie wird in ein Flüchtlingsheim eingewiesen, er wohnt 80km entfernt in einer kleinen Wohnung, die er selber von seinem Lohn bezahlt - und sie darf nicht zu ihm ziehen, auch nicht mit dem Kleinkind. Der Staat zahlt jedoch etwa €300 pro Tag für die Unterbringung im Heim - total nach der langen Zeit etwa €70000.- . Sehr gute Organisation ist das, sehr menschlich, sehr sparsam und überhaupt nicht schikanös....

  • Mexikanische Krankenschwestern, auch noch “tausende”, und zwar unter den Menschen, die in Deutschland um Asyl bitten?

    Dazu hätte ich ja mal gerne harte Zahlen.

  • Eine Folge der auf Ausgrenzung und Abwehr fokussierten Strategien sind destruktive Diskurse und die Normalisierung rechter Positionen, ja. Aber wo liegen die Ursachen dafür?

    Ich fürchte, die vermeintlichen Demokratien des angeblich freien Westens sind - wie alle Staatsformen weltweit - noch immer derart martialisch geprägt, dass sie gar nicht anders können. Die Aktuellen Probleme sind eine Folge der Machtverteilung und nicht zu beheben, ohne diese zu gefährden. Ökonomische Argumente ändern daran gar nichts.

    Angenommen, Deutschland würde versuchen, seinen Bedarf an Billigarbeitskräften dadurch zu decken, dass massenhaft Flüchtlinge engagiert würden - was würde geschehen? Es würde sich herausstellen, dass Verträge allein nicht genügen. Auch die Qualifikation muss stimmt. Und die sollte bitte nichts kosten. Leider sind Geflüchtete nicht automatisch geeignete Pflegekräfte, Kindergärtner- oder Sozialarbeiter:innen. Und bezahlt werden müssten sie auch. Wovon, wenn Kriegstauglichkeit und Wirtschaftswachstum Priorität haben?

    Enttäuschungen sind programmiert. Und die Reaktion darauf wäre was? Genau. Abwehr und Ausgrenzung sind Mittel zum Zweck. Der Zweck aber ist: Erhalt der Männermacht.

  • Es muss endlich Schluss damit sein, Asyl und Einwanderung als Synonyme zu betrachten. Nur in Deutschland ist das so.

    Es ist zB keine kluge Einwanderungspolitik, und hat auch nichts mit evidenz zu tun, wenn man hofft, den Fachkräftemangel qua Asyl zu lösen. “Unter dieser Million Menschen werden schon genügend sein, die unsere Alten pflegen wollen” ist Quatsch. Und auch, wenn gut integrierte Flüchtlinge selbstverständlich die Möglichkeit zur Einwanderung bekommen sollten, sind Flucht und Asyl rechtlich - auch völkerrechtlich - nicht dasselbe wie die gezielte Anwerbung, Einwanderung und Ansiedlung von Menschen mit benötigten Qualifikationen.

  • Das kann ich ganz unterschreiben. Vielen Dank für den Artikel!

  • Die Autorin bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt: "Aus Sicht der Fluchtforschung überrascht es nicht, dass aus den durch jahrelange Unsicherheit und Exklusion geprägten Lebensumständen von Asylsuchenden psychische Erkrankungen und potenziell auch Radikalisierungen resultieren."



    Daraus lässt sich ableiten, dass sinnvolle und menschliche Betreuung von Flüchtlingen nur möglich ist, wenn deren Anzahl eine gewisse Größe nicht übersteigt. Schon weil Kapazitäten geschaffen und vorgehalten werden müssen (Deutsch- und Integrationskurse, Wohnungen etc). Wenn es zuviele Flüchtlinge sind, ist dies eben durch das Aufnahmeland nicht zu bewerkstelligen.

  • Eine evidenzbasierte Migrationspolitik muss vor allem die Aufnahmekapazitäzen der Kommunen, die fiskalischen Folgen und die Folgen auf das Sozialsytem näher betrachten.

    Ausschlaggebend muss sein, wie viele wir aufnehmen können und nicht wie viele tatsächlich kommen oder kommen wollen.

    "Brot, Bett und Seife" reichen nicht aus und führen zu immer mehr Frustation. Wichtig sind Anzahl freie Wohnungen, Schul-, Therapie-, Arbeitsplätze usw.

    Eine weitere ungesteuerte Armutsmigration können wir uns nicht leisten.