: Investitionen für die langfristige Verteidigung
Kreditfinanzierte Investitionen erhöhen die Staatsschulden nur temporär. Absehbar steigen die Finanzierungsspielräume –auch für neue Waffensysteme
Von Sebastian Dullien
Wer bis zu den Wahlen nur den deutschen Wahlkampf beobachtet hat, muss sich ob der Themen der vergangenen Wochen die Augen reiben: Lag bis zum 23. Februar der Fokus noch vor allem auf Migration, so geht es plötzlich um das massive Aufstocken des Kreditspielraums des Staates. Hieß es über Jahre von bürgerlicher Seite, Mehrausgaben zur Sanierung von Schienen, Brücken und Schulen im Land dürfe man wegen der Schuldenbremse und künftiger Generationen nicht über Kredite finanzieren, so sind schuldenfinanzierte Mehrausgaben plötzlich richtig und unproblematisch und das Grundgesetz kann gar nicht schnell genug dafür geändert werden.
Mehr noch: Neue Kredite soll es plötzlich nicht nur für Infrastrukturinvestitionen geben, sondern vor allem für Verteidigung – nach oben praktisch unbegrenzt. Ebenfalls zum Augenreiben: Die Grünen, die im Wahlkampf noch für mehr kreditfinanzierte Investitionen für Klimaschutz und Schulen eingetreten sind, treten beim angedachten Sondervermögen Infrastruktur plötzlich auf die Bremse und bringen stattdessen eine eigene Variante der Schuldenbremsenreform nur für höhere Verteidigungsausgaben ins Gespräch.
Für viele progressive Menschen ist der Ruf nach mehr Verteidigungsausgaben schwer zu ertragen – liegt doch im Zentrum ihres Wertekanons oft der Glaube an friedliche Konfliktlösungen. Auch ist nicht von der Hand zu weisen, dass Verteidigungsausgaben zwar reale Kosten, aber wenig direkten Nutzen darstellen. Eine Welt, in der alle Länder Geld nicht in die Rüstung, sondern in bessere Bildung, bessere Infrastruktur oder das Erfüllen der direkten Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung fließen lassen, wäre klar die bessere Welt mit dem höheren Wohlstand.
Und dennoch: An der Schlussfolgerung, dass Deutschland mehr Geld für die Verteidigung ausgeben muss, lässt sich nur schwer rütteln. Keine tausend Kilometer östlich von Deutschland schlagen regelmäßig Raketen in ziviler Infrastruktur nieder. Gerade drei Jahre ist es her, dass russische Truppen in den Vororten der ukrainischen Hauptstadt standen und Massaker unter der Zivilbevölkerung anrichteten. Das erste Sondervermögen Bundeswehr, 2022 ins Grundgesetz geschrieben, würde nicht einmal bis zum Ende der neuen Legislaturperiode erlauben, das bisherige Nato-Ziel von Verteidigungsausgaben in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erreichen.
Es wäre grob fahrlässig, sich darauf zu verlassen, dass der russische Präsident Wladimir Putin seine aktuelle Aufrüstung nur dazu betreibt, um einen Waffenstillstand in der Ukraine zu erreichen und danach friedlich seine Soldaten auf Dauer in die Kasernen zurückzuziehen. Ebenso fahrlässig wäre es, sich darauf zu verlassen, dass die USA im Krisenfall den EU-Staaten zur Hilfe eilen. Im Gegenteil: Jedem sollte nach sechs Wochen der zweiten Amtszeit von Donald Trump klar sein, dass die jetzige US-Regierung die Europäische Union und ihre Werte eher als Bedrohung denn als Verbündete ansieht.
Das Verteidigungskonzept Deutschlands war bisher darauf gebaut, dass zum einen die USA mit der Nato potenzielle Angreifer abschrecken würden, zum anderen, dass die Feinde so weit von der Landesgrenze entfernt seien, dass eine traditionelle Verteidigung des Staatsgebiets überflüssig sei. Beide Annahmen lassen sich nicht mehr halten. Zwischen Deutschland und einer gefährdeten EU-Außengrenze liegt Polen, aber auch ein Angriff auf die baltischen Staaten würde die EU in ihren Grundfesten erschüttern.
Gelegentlich wird darauf verwiesen, dass die EU schon heute mehr Geld für Verteidigung ausgäbe als Russland. Das stimmt allerdings nur, wenn man außer Acht lässt, dass die Preisniveaus in den Ländern unterschiedlich sind. Berücksichtigt man dies, so liegen nach aktueller Schätzung die Verteidigungsausgaben der EU hinter jenen von Russland. Hinzu kommt, dass Deutschland über Jahre seine Waffensysteme mindestens ebenso vernachlässigt hat wie die öffentliche Infrastruktur. In den 2010er Jahren lagen die Rüstungsausgaben nur knapp über einem Prozent des BIP, bei wenig mehr als der Hälfte dessen, was die Nato eigentlich vereinbart hatte.
Trotzdem muss man deshalb nicht gleich in ungebremste und unkritische Ausgabefreude verfallen. Verteidigungsausgaben sollten immer an den Anforderungen begründet sein. Es geht um den Aufbau von Verteidigungskapazitäten, etwa einer funktionierenden Luftabwehr oder einer bestimmten Anzahl Panzer. Die Militärausgaben haben effizient zu erfolgen. 2021, dem letzten Jahr vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, gab Frankreich in Euro gerechnet nach Nato-Zahlen etwa 10 Prozent weniger für Verteidigung aus als Deutschland. Trotzdem scheint die französische Armee einsatzfähiger als die deutsche Bundeswehr zu sein.
Die Frage der Effizienz ist eng verbunden mit der Frage der europäischen Kooperation. In Europa geht viel Geld verloren, weil jedes Land Waffensysteme in Kleinserie bei heimischen Anbietern produzieren lässt. Gleichzeitig sind es die EU-Außengrenzen, die in denkbaren Konfliktfällen verteidigt werden müssen. Deshalb sollte jede Rüstungsausgabe im europäischen Kontext gedacht werden und durch Kooperation und gemeinsame Beschaffung möglichst viele Effizienzreserven gehoben werden.
Die höheren Verteidigungsausgaben dürfen zudem nicht gegen anstehende Zukunftsinvestitionen ausgespielt werden. Gelegentlich hört man, dass Deutschland nun Investitionen zurückstellen müsse, wenn mehr Geld für Verteidigung benötigt würde. So logisch das klingt, so falsch ist diese These: Simulationen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung zeigen, dass ein kreditfinanziertes Investitionsprogramm in Verkehrswege, Energienetze und Bildungsinfrastruktur von 600 Milliarden Euro über zehn Jahre die Wirtschaftsleistung mittel- und langfristig massiv erhöhen würde, weil private Investitionen angeregt und die Produktivität erhöht wird. Bis 2050 würde dadurch die aggregierte Wirtschaftsleistung um mindestens 2.100 Milliarden Euro steigen. Wenn davon nur knapp die Hälfte zurück an den Staat an Steuern und Abgaben fließt, ist das eine Summe, mit der man sehr viele Waffensysteme beschaffen kann. Weil die kreditfinanzierten Investitionen sich so selbst finanzieren, erhöhen sie die Schuldenquote Deutschlands auch nur vorübergehend. Wer also wirklich an einer langfristigen Verteidigungsfähigkeit des Landes interessiert ist, darf keinesfalls öffentliche Investitionen für höhere Verteidigungsausgaben zurückstellen.
Gefährlich ist deshalb jetzt auch ein Taktieren um mögliche Grundgesetzänderungen, an deren Ende möglicherweise eine massive Ausweitung des Kreditspielraums für Verteidigung, nicht aber für Infrastrukturinvestitionen stehen würde. Das ginge zu Lasten künftiger Generationen. Außerdem könnte man den Zuspruch in der Bevölkerung für Unterstützung der Ukraine zerstören, wenn der Eindruck entsteht, massive Summen flössen nach Kyjiw, aber für das Flicken der Schuldächer zu Hause sei kein Geld da.
Ehrlichkeit ist gefragt. Man konnte sich zuletzt schwer des Eindrucks erwehren, dass einige der Sondierer von Union und SPD die Schuldenbremse gleich so gestalten wollen, dass nicht nur Geld für Verteidigung und Investitionen da ist, sondern auch noch paar Dutzend Milliarden Neuverschuldung für Lieblingsprojekte wie Mütterrente, Agrardieselsubventionen oder Steuerfreiheit von Überstundenzuschlägen abfallen. Das ist gefährlich, denn auch die Notwendigkeit größerer Verschuldung bedeutet nicht, dass sich der Staat unbegrenzt Geld leihen kann.
Schließlich muss jenseits einer Kreditfinanzierung darauf geachtet werden, dass die Lasten höherer Verteidigungsausgaben fair in der Gesellschaft verteilt werden. Für eine Übergangszeit von einigen Jahren lassen sich auch deutlich höhere Rüstungsbeschaffungen kreditfinanzieren, ohne dass es zu Problemen mit der Schuldentragfähigkeit kommt. Sollte sich herausstellen, dass Deutschland dauerhaft höhere Verteidigungsausgaben braucht, so müssen diese am Ende doch entweder mit Kürzungen an anderer Stelle oder mit höheren Steuern und Abgaben finanziert werden. Hier geht es dann aus progressiver Sicht darum, diese Lasten gerecht zu verteilen.
Schon heute kursieren so Vorschläge, zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben den Bundeszuschuss zur Renten- und Krankenversicherung zu kürzen und die Umsatzsteuer zu erhöhen. Solche Vorschläge sind gefährlich, denn sie belasten überproportional die Schwächeren und die Durchschnittsverdienenden in unserer Gesellschaft. Eine solche ungleiche Lastenverteilung steht ebenfalls einer langfristigen Verteidigungsfähigkeit des Landes entgegen, weil damit populistische Argumente Vorschub bekommen, die Elite wälze die Last einseitig auf die großen Massen ab. So drängt sich der Verdacht auf, dass zumindest einige der Vertreter solcher Finanzierungsideen den Vorwand höherer Verteidigungsausgaben nutzen, um Einschnitte am Sozialsystem vorzunehmen, die sie ohnehin schon immer durchsetzen wollten. Dem sollte man sich entschieden entgegenstellen.
Wenn es Finanzierungsnotwendigkeiten für mehr Verteidigung jenseits des Kreditspielraums gibt, sollte man auch die Reichen im Land in die Pflicht nehmen. Eine Option wäre die im Grundgesetz vorgesehene Vermögensabgabe, wie sie etwa auch nach dem Zweiten Weltkrieg zur Finanzierung des Lastenausgleichs eingesetzt wurde. Sie könnte einmalig auf große Vermögen erhoben werden und ihre Zahlung – wie auch schon in den 1950ern – über mehrere Jahre gestreckt werden.
Höhere Verteidigungsausgaben sind alles andere als schön. Zumindest kann man aber dafür sorgen, dass über sie nicht unsere Gesellschaft weiter gespalten wird. Das ist jetzt die Aufgabe der Stunde.
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