: Wie der Kampf weitergeht
Instagram-Pranger, Catcalling, klassische Rollenbilder: Was beschäftigt junge Feministinnen in ihrem Alltag? Zu Besuch in einem Mädchentreff, wo rote Nelken noch immer wichtig sind
Aus Berlin Anna Klöpper
Manchmal, sagt Molly, da spüre sie einfach nur „sehr viel Wut“. Sie sagt das eher leise und sehr nüchtern. Der Klassiker, konstatiert Molly: „Wenn dir ein Typ auf der Straße irgendetwas hinterherruft, und dann kann man sich entscheiden, schreie ich die Person jetzt an?“ Denn das sei doch echt zum Verrücktwerden, dieser mangelnde Respekt gegenüber ihr als Person, als Mensch, der da zum Ausdruck komme. Sie habe, sagt die zierliche Abiturientin inzwischen aber eine andere Strategie: „Solidarität ist besser.“
Ein Abend Anfang März im Mädchentreff Mädea in Berlin-Gesundbrunnen, einem Ortsteil im Bezirk Mitte. Hier trifft sich regelmäßig die Frauenkommune, ein loser Zirkel junger Frauen. Man trinkt Tee, liest feministische Texte, heute zum Beispiel, warum im Kapitalismus auch der „Krieg gegen Frauen“ angelegt sei. An diesem Montag geht es nicht nur theoretisch zu: Molly und etwa zehn andere Frauen malen rote Nelken – das Symbol der Frauenbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts – auf Pappschilder, während sie dem etwas schwer verdaulichen Text lauschen, den eine der Frauen von ihrem Handy abliest. Die Nelken wollen sie bei den Frauentagsaktionen tragen, die am Samstag auch in Berlin stattfinden. Deshalb will Molly, statt die ausbeuterischen Qualitäten des Patriarchats zu diskutieren, um kurz nach halb sieben vor allem eines wissen: „Ich frag’mich, ob wir nicht mal langsam anfangen sollen zu cutten, ich glaube, wir haben genug gemalt.“
Das Zusammenkommen gebe Energie, findet Molly, für all die Kämpfe, die man als junge Frau auszufechten habe im Alltag. Welche das seien? Catcalling. Das Gefühl, in der Klasse viel mehr als die Jungs in Diskussionen darum kämpfen zu müssen, gehört zu werden. Das Gefühl, dass es für Jungs eher akzeptiert sei, laut zu sein.
Der übergriffige Fahrlehrer, der ihr die Hand aufs Bein gelegt habe, ergänzt Lea, die neben Molly auf dem Boden sitzt und an den Umrissen einer Nelke schneidet. Es sei wichtig, über diese Gewalterfahrungen zu reden, sagt Lea – und zwar nicht nur auf Social Media: „Ich glaube, man kann sich auf Instagram und so sehr alleine fühlen.“ Zum Beispiel eine Freundin, erzählt sie, die jobbe im Café. Manchmal seien die Gäste ziemlich übergriffig mit Kommentaren, „sie hat sich dann mit einer anderen Kollegin zusammengetan und sich überlegt, wie sie damit umgehen.“ Verbale Selbstverteidigung im Alltag.
Ein Nachmittag einige Tage zuvor im Mädchentreff. Vier noch etwas jüngere Mädchen, alle von einer benachbarten Schule, sitzen im Kreis am Maltisch. Konzentriert pinseln sie glänzende Acrylfarbe auf kleine rechteckige Leinwände, das Programm heute ist freies Arbeiten. Ein Mädchen zeichnet die Palästina-Flagge. Sie habe Verwandte im Libanon, sagt sie. Ob ihnen der Frauentag etwas sagt? Nicken. Ja, klar. Gehen sie auch mit auf die feministische Demo, hier im Stadtteil? Zögern. Mal sehen, wenn die Eltern es erlauben.
Lina, die eigentlich anders heißt, zwölf Jahre alt, blonde Haare, sanfter Blick, sagt, sie wisse, warum dort demonstriert werde: „Keine Gewalt an Frauen.“ Was das für sie bedeute, Gewalt? Lina schaut von ihrer Malerei auf und dann erzählt sie, sehr sachlich, über eine ihrer Freundinnen aus der Schule. Die habe einen Freund gehabt. „Der hat sie einmal geschlagen. Und ein anderes Mal gewürgt.“ Sozialarbeiterin Sophie schaut erschrocken und will wissen, was Lina daraufhin gemacht habe? „Ich habe sie getröstet“, sagt das Mädchen schlicht. Die Freundin habe sich dann getrennt. „Das war richtig“, findet Lina.
Müssen die Mädchen heute dieselben Kämpfe ausfechten wie früher ihre Mütter? Oder haben sich Gewalterfahrungen verändert?
Sozialpädagogin Eylem Bozkaya arbeitet schon seit 17 Jahren bei Mädea, inzwischen betreut sie dort die zweite Generation Mädchen. Heute wie damals gehe es „um Selbstbehauptung“, sagt sie. Die Themen im Einzelnen mögen sich geändert haben, aber im Kern bleibe dieses: sich als Mädchen, als Frau zu behaupten. Social Media, sagt Bozkaya, sei ein wahnsinniger Faktor in diesem Kampf geworden: „Auf Instagram werden irgendwelche Fotos eines Mädchens hochgeladen, die sie bloßstellen sollen“, sagt sie. So ein Instagram-Pranger hat Wucht. Der Online-Mob, der auf ein Mädchen los geht, das vielleicht doch einen Jungen geküsst hat, obwohl zu Hause die Devise lautet, dass sie eigentlich noch keinen Freund haben darf, ist im Zweifel sehr viel größer als zu früheren Zeiten. Damals musste man sich vielleicht einer Handvoll Jungs auf dem Schulhof erwehren – die Eltern bekamen mangels Social Media oft nichts mit. Jungs würden das machen, dieses Instagram-Mobbing, „aber Mädchen machen mit“, erzählt Bozkaya. Mädchen seien durchaus nicht immer solidarisch untereinander, sagt auch Jenny Fengler, die das Mädea-Team leitet. Gesundbrunnen, der Berliner Ortsteil, in dem der Mädchentreff liegt, gilt nicht gerade als leichtes Terrain. Viele Familien hier sind arm, knapp die Hälfte der Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahre lebt in Haushalten, die auf Jobcenter-Leistungen angewiesen sind. Rund 64 Prozent der Einwohner*innen haben einen Migrationshintergrund.
Es gebe äußerst unterschiedliche Rollenbilder in den Elternhäusern, sagt Fengler: liberale Familien, in denen es kein Problem ist, wenn die Tochter einen Freund nach Hause bringt. In anderen Familien sei das Rollenbild traditioneller: „Du musst gut kochen, du musst eine gute Hausfrau sein. Das ist schon auch sehr verbreitet“, berichtet Fengler. Dennoch, sagt die Sozialpädagogin: „Manche der Mädchen hier sind sehr selbstbewusst. Sie fragen: Warum geht mein Vater fremd und meine Mutter soll das nicht dürfen und leidet?“ Es gebe Mädchen, die rundheraus sagten: „Slutshaming ist scheiße.“ Für die einen ist bauchfrei in der Schule okay, für die anderen ein Fall für Instagram. Dazwischen erlaubten sich die Mädchen auch untereinander nicht viel. „Die Mädchen shamen sich sehr oft – obwohl viele die gleichen Struggles haben“, sagt die Mädea-Leiterin.
Ihre Arbeit sei es dann, erklärt Fengler, „dieses strikte Entweder-oder zu relativieren. Wir sagen auf keinen Fall: Ihr dürft so nicht leben. Das ist Quatsch. Aber wir fragen: Bist du damit glücklich, wie du lebst? Möchtest du andere Optionen haben?“ Es gehe darum, zu vermitteln: Die eine Art zu leben ist nicht besser als die andere. Es geht um Toleranz, um Freiheit. Und um die Fähigkeit, sich diese Freiheit selbst nehmen zu können. Nur, wie macht man das, so ganz praktisch, wenn der Theorie-Workshop oder das „Mädchenparlament“, das einmal im Monat bei Mädea veranstaltet wird, zu Ende ist?
Sich abgrenzen können, „das ist wichtig“, sagt Tugba Scherfner. Die Mathelehrerin hat fünf Jahre lang an einer Sekundarschule in Kreuzberg gearbeitet, jetzt unterrichtet sie in einem Schulersatzprojekt Jugendliche, die von der regulären Schule nicht mehr erreicht werden. Scherfner sagt, sie werde von ihren Schülern vor dem Fastenmonat Ramadan manchmal neugierig gefragt, „weshalb ich nicht auch faste“.
Bei der Gelegenheit geht sie mit den Jugendlichen dann gerne durch, was man unter einer übergriffigen Frage verstehen könnte. Und sie sagt: „Ich begründe mein Nein zum Fasten nicht.“ Abgrenzung, sagt Scherfner, darum gehe es. Und das müssten Mädchen mitunter wirklich dringend lernen: Halt, Stopp, das ist meine Entscheidung, ich erkläre mich dazu jetzt nicht. Scherfner, die sich auch im Berliner Frauensprecherinnen-Rat der Bildungsgewerkschaft GEW engagiert, sagt, sie versuche, da ein Vorbild zu sein: „Abgrenzung ist eine ganz wichtige Voraussetzung für Emanzipation. Wenn ich mich immer erkläre, dann rechtfertige ich mich.“
Tatsächlich sind die Rollenbilder bei Jugendlichen oft genauso klassisch wie in der Generation zuvor, das legt auch die aktuelle Shell-Jugendstudie aus dem vorigen Jahr nahe, eine umfangreiche Datenerhebung unter den 12- bis 25-Jährigen, die alle fünf Jahre erscheint. Rund die Hälfte der jungen Menschen, heißt es dort, wünsche sich „nach wie vor eine eher traditionelle Aufteilung der Erwerbsarbeit mit dem Mann als Hauptverdiener“. Immerhin: Einen Vater in Teilzeit können sich mehr vorstellen als noch fünf Jahre zuvor.
Im Mädchentreff ist gleich Aufräumzeit. Mehr als 100 Jahre nach den ersten Frauenprotesten malen junge Frauen immer noch Nelken auf Pappschilder. Sie würde sich, sagt Lea, „aber gerne eine andere Welt vorstellen“.
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