: „Ich gehe zur Tafel, und ich schäme mich nicht dafür“
Vor 20 Jahren beschloss Deutschland einen Zuwanderungsstopp für Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion. Bis dahin waren 220.000 Menschen ins Land gekommen. Viele von ihnen leben heute in Altersarmut und sind auf Unterstützung angewiesen. Die Geschichte dreier Frauen
Aus Potsdam Erica Zingher
Jeder kennt das Stereotyp vom reichen Juden, von einem, der gerne Geschäfte macht. Das Gerücht einer privilegierten Minderheit, im Mittelalter entstanden, hält sich bis heute, ist Teil von Verschwörungsmythen und antisemitischen Weltbildern. Mit der Realität hat es nichts zu tun, besonders in Deutschland nicht. Hier sind die meisten Jüdinnen und Juden arm.
Elvira Sukhomlinova, 75, ist eine davon. 2004 wanderte sie mit ihrem Mann aus der Ukraine nach Deutschland ein. „In einem der letzten Züge“, wie sie sagt. Sie meint damit das Ende einer jüdischen Migrationsbewegung aus der ehemaligen Sowjetunion. 1991 beschloss das wiedervereinigte Deutschland, in großer Zahl jüdische Migrantinnen und Migranten aufzunehmen. Erst im Jahr 2005 trat eine neue Regelung in Kraft, die praktisch zum Zuwanderungsstopp führte.
Etwa 220.000 Menschen kamen in diesem Zeitraum, rund 70.000 davon leben heute in Altersarmut. Ihre Berufsjahre in der Sowjetunion wurden bei der Rentenberechnung nicht angerechnet. 93 Prozent der jüdischen Seniorinnen und Senioren in Deutschland sind auf Grundsicherung angewiesen – im Vergleich zu 2,4 Prozent der deutschen Rentnerinnen und Rentner.
Ein Freitag im Februar. In der Jüdischen Gemeinde in Potsdam hat Sukhomlinova gerade die Probe des Chors, den sie leitet, beendet. „Macht’s gut, Mädels“, ruft sie den alten Damen im Vorbeigehen noch zu.
Im Veranstaltungsraum der Gemeinde, unter der Fensterfront, hängen zwei Luftballons in den Farben der ukrainischen Flagge. Dort sitzt Elvira Sukhomlinova – roter Pferdeschwanz, grauer Pullunder – mit zwei weiteren Frauen im Stuhlkreis: Faina Michailowna – braune Locken, rote Lippen –, 86, aus Weliki Nowgorod, Russland, Swetlana Bratislavaskaja – Plüschhut im Tigermuster, pinke Lippen –, 74, aus dem ukrainischen Czernowitz. „Drüben“, sagen alle drei Frauen auf Russisch, in ihrem früheren Leben, vor Deutschland, hatten sie angesehene Berufe. Michailowna arbeitete als Lehrerin, Bratislavaskaja war Bauingenieurin und Sukhomlinova Musikpädagogin. Keine der Frauen hat in ihren alten Beruf zurückgefunden, das gilt auch für die meisten anderen jüdischen Zuwandererinnen und Zuwanderer. Viele von ihnen kamen gut ausgebildet – doch ein Großteil der Abschlüsse wurde in Deutschland nicht anerkannt. „Nach unserer Ankunft hat uns eine Lehrerin im Deutschkurs gesagt: ‚Ihr werdet alle Putzfrauen‘ “, erzählt Bratislavaskaja. Dass es hart werden würde anzukommen, sich etwas aufzubauen, habe Sukhomlinova erwartet, sagt sie. „Deshalb konnte ich nicht enttäuscht werden.“
Als arm oder bedürftig will sich aber keine der Frauen sehen. Bratislavaskaja, mit erhobenem Kinn, durchdringendem Blick: „Ich gehe zur Tafel, und ich schäme mich nicht dafür.“
Sukhomlinova: „Richtig so.“ Bratislavaskaja: „Die Tafel ist eine große Hilfe. Ich spare dadurch 200 bis 300 Euro im Monat. Sie trägt dazu bei, dass wir uns wie normale Menschen fühlen.“
Sukhomlinova: „Zur Tafel kann ich nicht gehen – aber ich finde es auch nicht schlimm, dass du gehst.“
Bratislavaskaja: „Unsere Leute, die sowjetischen Juden, gehen alle da hin, schon immer.“
Vielleicht ist es der Stolz, der aus ihnen spricht, vielleicht auch das Gefühl, dass ein Leben in Deutschland mit wenig Geld immer noch besser ist als eines mit mehr Geld in der Ukraine oder in Russland. Sie hätten ihre Auswanderung nie bereut, sagen Michailowna und Bratislavskaja. Und Sukhomlinova erinnert an den Krieg in ihrer Heimat, der Ukraine: In Deutschland sei wenigstens Frieden.
Das Bild, das die drei Frauen von ihrem Leben zeichnen, wie sie über den erlebten Abstieg sprechen, ohne Verbitterung, Wut oder Selbstmitleid, widerspricht auf den ersten Blick allem, das jüdische Institutionen und Nachkommen der Betroffenen seit Jahrzehnten anprangern. Diese erzählen von Brüchen in Biografien, die die Menschen nicht überwunden hätten, von einem schweren Leben im Alter, von einem politischen Versagen, da jede Bundesregierung das Problem über Jahrzehnte vernachlässigt habe. Bis 2023 ein Härtefallfonds eingerichtet und den Betroffenen einmalig 2.500 Euro ausgezahlt wurde – für Jahrzehnte der Arbeit, die in Deutschland nie anerkannt wurden.
Michailowna, Bratislavaskaja und Sukhomlinova wollen sich mit diesem Bild nicht identifizieren. „Wir haben nicht viel und trotzdem ein reiches Leben. Wir sind glücklich“, sagt Sukhomlinova. Die anderen nicken zustimmend.
Elvira Sukhomlinova
Ob sie damit nicht die Realität beschönigen? Denjenigen in den Rücken fallen, die die Emigration als Abstieg erlebt haben? Es gebe solche, die sich in Deutschland verloren hätten, dem stimmen die Frauen zu. Verantwortlich dafür sei aber jeder Einzelne selbst. Charaktersache, sagen sie.
Zufrieden zu sein mit einem Leben an der Armutsgrenze, den Einzelnen und nicht die Strukturen, den Staat in die Verantwortung zu nehmen, ihre Abwehr, das alles lässt sich besser verstehen, blickt man auf ihre Sozialisation im Sozialismus.
Michailowna, Bratislavaskaja und Sukhomlinova teilen die Erfahrung eines Lebens, das von Mangel geprägt war. Eines, in dem man vom Staat nichts zu erwarten hatte, weil sich dort die Eliten die Taschen vollstopften und jeder für sich selbst kämpfen musste. Dieses Leben, da sind sich die drei sicher, habe sie auf das Überleben in Deutschland vorbereitet. Sie seien erprobt darin, mit wenig auszukommen – besonders als Frauen.
Bratislavaskaja: „Die Frau ist an das harte Leben gewöhnt.“
Sukhomlinova: „So war das schon immer!“
Michailowna: „Wir Frauen haben gelernt, uns anzupassen.“
Großes Gelächter bricht aus.
Bratislavaskaja: „Gerade wir sowjetischen Frauen kennen es nicht anders.“
Sukhomlinova: „Uns durchzuschlagen, mit wenig auskommen, das haben wir alles schon durch. Uns kann nichts mehr schockieren.“
Offizielle Gleichberechtigung – das wurde in der Sowjetunion propagiert. Frauen wurden massenhaft in den Arbeitsmarkt eingebunden. Gleichzeitig herrschten Berufsverbote für mehr als 450 Berufe, die mit dem Schutz der Fortpflanzungsfähigkeit begründet wurden. Frauen hatten Zugang zu Bildung, durften wählen, Schwangerschaftsabbrüche waren legal. Die Sowjetunion blieb dennoch ein von Männern geführter Laden, auch wenn die Ideologie anderes versprach.
Doch während Frauen in Westdeutschland noch ihren Ehemann um Erlaubnis bitten mussten, arbeiten gehen zu dürfen, flog eine sowjetische Frau ins All, waren die Frauen selbstverständlich Teil der Arbeiterschaft – und erzogen nebenbei noch Kinder, kochten für den Ehemann und putzten die Wohnung.
Das ist es, was die drei Frauen meinen, wenn sie davon sprechen, dass die Sowjetbürgerin gelernt habe, ein schwieriges Leben zu bewältigen. „Vielleicht sind wir nicht das beste Beispiel für arme Juden“, sagt Sukhomlinova und grinst. Sie wisse, dass sie und ihre Freundinnen Glück gehabt hätten. Weil sie sich und eine Gemeinschaft in jüdischen Strukturen gefunden, sich einen Sinn im Leben gesucht hätten. Den Chor zum Beispiel, mit dem die Frauen seit Jahren erfolgreich durch Deutschland touren. Einen jüdischen Frauenklub, den Michailowna vor 25 Jahren gegründet und aufgebaut hat. Um ja keine Zeit zu haben, dem alten Leben nachzutrauern, sagt sie.
Das Bild der bedürftigen Juden einerseits, die mit der Entwertung ihrer Lebensleistung nie fertigwurden, und andererseits das derer, die leichtfertiger mit dieser Erfahrung umgegangen sind, vielleicht sogar ihren Frieden damit gefunden haben, müssen sich nicht widersprechen. Im Gegenteil. Sie veranschaulichen, wie unterschiedlich der Mensch auf Systemwechsel, auf Migration und Armut reagiert. Die politische Forderung, Altersarmut unter den jüdischen Zugewanderten zu bekämpfen, verliert dadurch nicht an Wert.
Neben der Eingangstür sitzt Michailownas Mann David, 92, geduldig wartend, er schläft. „Er hat keine Lust mehr, den alten Geschichten zuzuhören“, sagt Sukhomlinova und lächelt. „Aber wir“, sagt sie dann noch, „wir sind froh, wenn jemand zuhört.“
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