: „Das Werkzeug für eine politische Agenda“
Warum weiß man wenig über eine Architektur der Moderne in Syrien, fragten sich Mirma AlWareh und Ahmad Salah aus Damaskus und begannen 2023, sie in einem Online-Archiv zu dokumentieren. Dabei stießen sie auf das perfide Kontrollsystem des gefallenen Assad-Regimes. Ein Gespräch über die Grenzen von Wissen
Interview Sophie Jung
taz: Frau AlWareh, Herr Salah, während des Kriegs in Syrien sorgte man sich hierzulande auch um die gefährdeten antiken Stätten in Ihrem Land, aber kaum um eine Architektur der Moderne. Warum?
Ahmad Salah: Ein Land wie Syrien mit seiner antiken Geschichte ist ein zweischneidiges Schwert. Man hat all diese jahrtausendealten Bauten, im Vergleich dazu erscheint die moderne Architektur nebensächlich. Dass man sich so wenig für sie interessiert, hat aber auch mit der zentralen Stellung der europäischen und amerikanischen Moderne im Architekturdiskurs zu tun. Obwohl man aufmerksamer für die verschiedenen lokalen Modernen geworden ist – es gibt immer mehr Literatur über den Libanon oder Marokko zum Beispiel –, scheint der Diskurs noch immer von einem gewissen Orientalismus geprägt zu sein, als ob man im Osten nur die Antike und im Westen die Moderne vorfände.
taz: Liegt es nicht eher an einem fehlenden Zugang zu Informationen, den Sie ja jetzt erst mit Ihrem Online-Archiv auf eigene Initiative beschaffen?
Mirma AlWareh: Ein Grund für ihre geringe Erforschung mag auch sein, dass die syrische Architekturmoderne in einem anderen Kontext entstanden ist als in Europa oder in den USA. Als diese Art des sachlichen Bauens Ende des 19. Jahrhunderts in Syrien auftrat, war das Land noch Teil des Osmanischen Reiches. Dann war es ab 1920 französisches Mandatsgebiet, 1946 wurde es unabhängig. Architektur aus der Zeit des Mandats gilt als französisch, auch wenn sie von syrischen Architekten entworfen wurde. Über diese frühen Phasen versuchen wir mehr herauszufinden. Wie der Übergang hin zur Modernität stattgefunden hat. Den sieht man etwa am Parlamentsgebäude in Damaskus aus den 1930ern. Dass man heute noch nicht einmal die Namen der beteiligten Architekten weiß, wäre in Europa wohl nicht passiert.
Salah: Es gibt von öffentlicher Seite in Syrien keine systematische Dokumentation einer Architektur der Moderne. Zudem waren Forschung und Vermittlung allgemein seit 1970, als die Baath-Partei und die Assads an die Macht kamen, einem starken Druck ausgesetzt. Das wurde nach Kriegsausbruch 2011 noch schlimmer.
taz: Was wäre unter Assad das Risiko gewesen, über moderne Architektur zu forschen?
Salah: Nur im Entferntesten zu kritisieren, was vom Regime gebaut wurde. Nach 1970 entstanden viele öffentliche Bauten, Universitäten, etwa die von Damaskus, Aleppo und in Homs, kommunale und nationale Regierungsgebäude.
taz: Gab es ein Rechercheverbot?
AlWareh: Nein. Aber alleine Fragen zu stellen, was ja zum Forschen dazugehört, konnte als Bedrohung für die Regierung angesehen werden. Alle Institutionen, die sich mit Architektur oder Ingenieurwesen befassten – Universitäten, Gewerkschaften, Verbände – waren irgendwie an die Baath-Partei gebunden, man kontrollierte sich gegenseitig. Das schuf eine Struktur des Argwohns. Im Regime war es leicht, jemanden wegen irgendetwas zu beschuldigen. Einige unserer Kollegen kamen ins Gefängnis wegen einfacher Recherchen. Daher haben wir auch immer versucht, so diskret wie möglich zu sein.
taz: War die Erforschung antiker Bauten sicherer, weil sie weit vor der Zeit des Assad-Regimes entstanden? Und mag das der Grund sein, warum man auch hierzulande mehr über die antiken Stätten Syriens weiß?
Salah: Es ist anders. Die Dokumentation des kulturellen Erbes wurde von einigen wenigen Nichtregierungsorganisationen kontrolliert, die ganz offen mit Assads Regierung zusammenarbeiteten. Das Regime hatte ein Interesse an den antiken Stätten, auch da sie den ausländischen Tourismus anzogen.
taz: Wie arbeiten Sie jetzt, zwei Monate nach Assads Flucht?
AlWareh: Wir Syrer befinden uns jetzt auf einem Weg der Erholung. Da dieses umwälzende Ereignis erst kürzlich stattgefunden hat, ist es zu früh, um seine Auswirkungen gänzlich zu beurteilen. Viele öffentliche Institutionen arbeiten auf einem minimalen Level weiter. In Damaskus ist nun alles leichter zugänglich. Es gibt etwa kaum Beschränkungen mehr beim Fotografieren. Wir planen sogar, an öffentlichen Diskussionsveranstaltungen teilzunehmen, das wäre noch vor zwei Monaten unvorstellbar gewesen.
taz: Wie konnten Sie die Arbeit an Ihrem Online-Architekturachiv 2023 unter so schwierigen Bedingungen überhaupt beginnen?
Salah: Wir haben häufig Kontakt mit den Architekten oder ihren Familien aufgenommen. Zum Beispiel mit der Tochter von Nizar Al-Farra, die uns seinen künstlerischen Nachlass zur Verfügung gestellt hat. Nizar Al-Farra ist 2020 gestorben. Ein Pionier. Er hat viel gebaut – Kinos im Damaskus der 1960er während des Booms der arabischen Filmindustrie, in den 1970ern öffentliche Projekte wie einen Fakultätsbau an der Universität Damaskus.
Ahmad Salah, Jahrgang 1999, ist Architekt und Kurator aus Damaskus, er lebt derzeit in Großbritannien. Gemeinsam mit AlWarah gründete er das Online-Architekturarchiv amasyria.com
taz: Wie sind Sie auf Bourhan Tayara gestoßen? Sein Zentrum für Meeresforschung in Latakia aus den 1970er Jahren ist wirklich beeindruckend, eine brutalistische Pyramide.
AlWareh: Die ungewöhnliche Gebäudeform ist auch funktional, die angewinkelten Außenwände vermitteln Stabilität am stürmischen Meer. Bourhan Tayara ist eine bedeutende Figur für die Moderne Syriens, wir konnten über ihn auch viel in Architekturmagazinen finden, die eine weitere Quelle für uns sind. Bis in den 1960er Jahren die erste Ingenieurschule in Syrien gegründet wurde, studierten die meisten Architekten an einer École des Beaux-Arts im Libanon oder in Frankreich. Tayara aber studierte in den USA, arbeitete eine Zeit lang in Texas. Das merkt man seiner Architektur an. Einer seiner wichtigsten Bauten war die Architekturhochschule in Damaskus. Er kehrte kurz in die USA zurück, war dann auch in Saudi-Arabien und den Emiraten tätig.
taz: Wo sind die Architektinnen?
AlWareh: Das fragen wir uns auch. Dass man in den frühen Phasen der Moderne für eine Architektur- und Ingenieursausbildung ins Ausland gehen musste, mag dazu beigetragen haben, dass Frauen zunächst nur in geringem Maße beteiligt waren. Unter den ersten Absolventen der syrischen Ingenieurhochschulen gab es aber viele Frauen. Dennoch haben wir die Werke von Architektinnen in Syrien bislang nicht identifizieren können. Das wollen wir noch tun.
taz: Was haben Architekten für Strategien entwickelt, um der Kontrolle des Regimes zu entgehen?
Salah: Nizar Al-Farra bereitete manchmal zwei verschiedene Entwürfe für Architekturwettbewerbe vor: einen, der den angegebenen Anforderungen entsprach, und einen nach seinen eigenen architektonischen Vorstellungen, um die Behörden zu überzeugen. In Zeiten des Einfuhrverbots war es auch nützlich, gute Beziehungen zu Regierungsbeamten zu haben, um Baumaterialien zu beziehen. Man sollte aber wissen, Architektur in Syrien nach 1970 wurde nicht ausschließlich von Assads Regime diktiert.
Mirma AlWareh, Jahrgang 1999, ist Architektin, Fotografin und Filmemacherin in Damaskus.
taz: Eines der wenigen hier bekannten modernen Gebäude in Syrien wurde – zumindest anfangs – vom japanischen Pritzker-Preisträger Kenzō Tange entworfen: der Präsidentenpalast für Hafis al-Assad. War es ein Versuch Assads, Syrien ein internationales Antlitz zu verschaffen?
AlWarah: Diese Frage können wir so nicht beantworten. Wir erforschen die Arbeit von Architekten hier vor Ort. Aber wir können sagen, dass Tanges Entwurf eine Ausnahme darstellt. Die Politik Hafis al-Assads war von einer Annäherung an den Ostblock gekennzeichnet, und das spiegelte sich auch in der Architektur wider. Viele Projekte aus dieser Zeit sind von Architekten des kommunistischen Lagers geplant worden. Das betraf einzelne Gebäude, aber auch den Städtebau und die Infrastruktur.
taz: Zur Geschichte der architektonischen Moderne zählen auch utopische Entwürfe, die sich nicht realisieren lassen. Ihr Land ist im Umbruch, die Zukunft ungewiss. Sind Sie eventuell auf visionäre Ideen gestoßen, die in dieser Lage ein Vorbild sein könnten?
Salah: Der Architekt als Künstler, der persönliche Visionen und Ideologien in seine Entwürfe einspeist, das entspricht doch einer westlichen Auffassung von einer Moderne. Nach unseren Erkenntnissen war die moderne Architektur Syriens stets an einen realen Kontext gebunden. Ohnehin kann für uns, angesichts von Krieg und gewaltsamer Besatzung in Syrien, Architektur nicht als utopische Kraft fungieren; vielmehr ist sie oft bloßes Werkzeug für eine politische Agenda.
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