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Amerikasehnsucht, Amerikasorge

Seit 30 Jahren lebt unser Autor in den USA, ausgerechnet jetzt lässt er sich einbürgern. Mit gemischten Gefühlen, denn was bleibt unter Donald Trump vom Versprechen einer großen Gemeinschaft?

Treueeid und Fähnchen dürfen nie fehlen: Einbürgerung in Washington D.C., 2019 Foto: Amanda Andrade-Rhoades/NYT/laif

Aus New York Sebastian Moll

Endlose Reihen fest verschraubter Sitze, Rücken an Rücken, frisch gewienerter Linoleumfußboden – der Raum 310 der New Yorker Einwanderungsbehörde gleicht einem überdimensionalen Flughafen-Gate. Zwischen den Sitzreihen läuft ein Beamter auf und ab und verkündet streng Anweisungen. An den Wänden hängen sepiafarbene Fotos von der Quarantäneinsel Ellis Island im New Yorker Hafen, Fotos aus der Zeit der großen Masseneinwanderung in die USA zwischen 1860 und 1920. Es sind Familien aus Italien, Deutschland oder Irland, die ihr Hab und Gut in ein paar Koffern mit sich tragen und mit ebenso ängstlichen wie hoffnungsvollen Augen dem entgegenblicken, was sie wohl in der Neuen Welt erwarten mag.

Die paar hundert Menschen, die heute früh den Raum 310 bevölkern, sind so etwas wie die Nachfolger der Ellis-Island-Ankömmlinge, auch wenn sie nicht gerade frisch mit dem Schiff den Atlantik überquert haben. Es sind Menschen aus Ghana und Burkina Faso, aus Kroatien und Jamaika, aus China, aus Deutschland und vielen weiteren Ländern, die hier heute warten. In der Luft liegt eine freudige Aufgeregtheit, die auch mich ergreift. Heute ist der Tag der Vereidigung zum Staatsbürger der USA, für viele das Ende eines langen Weges, gepflastert mit endlosen Interviews, beträchtlichen Gebühren, Bergen von Formularen, dem mühsamen Beschaffen von Bescheinigungen über Lebensweg, Arbeits- und Familienverhältnisse und Finanzen.

Mein eigener Weg hierher war vergleichsweise einfach. Ich bin seit 1997 stolzer Inhaber einer Green Card, einer unbefristeten Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung. Und als die deutsche Bundesregierung im Frühjahr 2024 die doppelte Staatsbürgerschaft erleichterte, packte ich die Gelegenheit beim Schopf und stellte meinen Antrag auf Einbürgerung.

Das erschien mir damals eine ganz pragmatische Entscheidung: Die doppelte Staatsbürgerschaft erleichtert zahllose bürokratische Vorgänge, von Wohnsitz über Versteuerung bis hin zu Sozialversicherung. Ich hatte keine Erwartung, dass mich ein gestempeltes blaues Büchlein US-amerikanischer macht, als ich das ohnehin bin. Schließlich kam ich schon vor über 30 Jahren als Student nach New York und bin seither, mit Unterbrechungen, bisweilen kritischer, oft aber auch enthusiastischer Teilnehmer an Leben und Kultur dieses Landes.

Doch hier, im Raum 310 der Einwanderungsbehörde, in einem modernen Zweckbau gegenüber des neoklassizistischen New Yorker Gerichts, wird der Verwaltungsakt plötzlich doch emotional aufgeladen. Umso mehr, da der Amtsantritt von Donald Trump keine zehn Tage zurückliegt.

Ich muss unweigerlich daran denken, welche Dramen sich in den Räumen des gleichen Gebäudes täglich abspielen und sich in den kommenden Jahren wohl noch viel häufiger abspielen werden. Wie Asylbewerber nach Monaten, vielleicht Jahren, zu ihrer zweiten oder dritten Anhörung kommen und auf der Stelle deportiert oder interniert werden. Wie die Einwanderungsbehörde vornehmlich zur Abschiebebehörde umfunktioniert wird.

Als wir alle nach dem Em­pfang unserer Einbürgerungsurkunde in einem großen Festsaal Platz genommen haben, überkommt mich jedoch das Gefühl, das zumindest hier, zumindest jetzt, das Einwanderungsland USA noch lebt. Der Beamte, der mit seinem miserabel sitzenden Anzug ans Mikrofon tritt, begrüßt mit spürbarer Freude alle seine neuen Mitbürger*innen.

„E pluribus unum“, das Motto im Siegel der USA – „Aus vielen eines“ – erfüllt sich hier spürbar mit Sinn. Wir alle hier, die Frau aus Bogotá, der Familienvater aus der Elfenbeinküste, der mexikanische Bauarbeiter und der deutsche Journalist werden heute hier durch einen Sprechakt eins. Dabei fühlt es sich eben nicht so an, als ob wir als Bittsteller, als Fremde von Außen kommen, um eingelassen zu werden. In diesem Raum, in diesem Moment sind wir Amerika.

Es ist ein Ideal, das mich immer noch sentimental werden lässt. Auch wenn sich mein Verhältnis zu den USA selbstredend um einiges verkompliziert hat, seit ich als 16-Jähriger mit offenem Verdeck und den Bee Gees im Autoradio den Sunset Boulevard von Los Angeles heruntergefahren bin, berauscht von einem ozeanischen Freiheitsgefühl.

Im Studium hat sich meine Amerikasehnsucht dann konkretisiert, hat ein Vokabular erhalten. Begierig lasen wir die amerikanische Romantik, Emerson, Whitman, Thoreau, die von radikalen Neuanfängen, von einer Wiedergeburt auf dem neuen Kontinent geschwärmt haben, vom Abschütteln von der Last der Traditionen, von einem mutigen Nach-vorne-Schreiten ins Ungewisse, erfüllt von Optimismus und dem Glauben an eine bessere Zukunft für die Menschheit.

Natürlich wurden wir gleichzeitig der Kehrseite des US-amerikanischen Experiments gewahr: der Durchsetzung der Interessen mit extremer Gewalt, des Völkermords an den Ureinwohnern, der Barbarei, der Sklaverei, des fortgesetzten systematischen Rassismus. Und doch hielt der Glaube daran, dass Amerika es besser hat. Der Glaube, dass das Land die Fähigkeit hat, sich zu reformieren und seinen eigenen Idealen immer mehr anzunähern, einer „more perfect union“ entgegenzustreben, wie Barack Obama es immer wieder ausdrückte.

Es fühlt sich nicht so an, als ob wir als Bittsteller von außen kommen. In diesem Raum, in diesem Moment sind wir Amerika

Das Auf und Ab meiner ersten Jahre hier als Journalist bestätigte den Glauben an diese Fähigkeit. Zuerst war da 2004 die niederschmetternde Wiederwahl George W. Bushs und seiner neokonservativen Kamarilla, die man damals als Zeichen für die totale Korruption der US-amerikanischen Politik hielt, nicht ahnend, dass es noch viel schlimmer kommen kann. Dann ein Jahr später das totale Staatsversagen während des Hurrikans „Katrina“, das eine zynische Gleichgültigkeit gegenüber den Schwächsten der Gesellschaft offenbarte. Aber gleichzeitig war da auch die ekstatische Nacht der Wahl Obamas, die wir auf den Straßen von Harlem durchtanzten und die einem wie der Beginn einer neuen Zeit vorkam.

Natürlich ist es schwer geworden, im Zeitalter von Donald Trump noch an das Gelingen des US-amerikanischen Projektes zu glauben. Aber der gelebte Alltag hier macht einem dennoch immer wieder Mut. Es mag vielleicht an New York liegen, aber die Mehrheit der Menschen, mit denen ich zu tun habe, haben die Werte von Demokratie und Pluralismus, die Hoffnung auf die Erschaffung eines funktionierenden Gemeinwesens aus einer grenzenlosen Vielfalt zutiefst verinnerlicht. So muss ich, wenn ich etwa aus Deutschland gefragt werde, wie man es hier noch aushalten kann, an einen Reportagetrip nach Florida denken, bei dem ich mit demokratischen Aktivisten im Widerstand gegen den radikalen Gouverneur Ron DeSantis gesprochen habe. „Bitte gebt uns nicht auf. Bitte vergesst uns nicht“, haben sie den Nordostler aus New York angefleht.

Frisch gebackener Amerikaner: Unser Autor Sebastian Moll Foto: privat

Als wir im Festsaal der Einwanderungsbehörde schließlich gemeinsam den Eid auf die Verfassung sprechen, kann sich keiner im Saal der Bewegtheit des Moments entziehen. Viele Umarmungen, herzliches Händeschütteln. Die gemeinsame Wiedergeburt als Amerikaner bringt uns nahe, und bedeutet trotz aller politischen Realitäten noch Aufbruch und Möglichkeit.

Das Gefühl der Wiedergeburt hält noch ein wenig vor. Als ich nach der Vereidigung durch die vertrauten Straßen des unteren Manhattan, durch Tribeca und Soho laufe, fühle ich mich den Menschen und der Stadt so verbunden wie noch nie. Ich komme mir vor wie Walt Whitman, den 1856 beim Überqueren des East River auf der Brooklyn Ferry eine Ekstase der Gemeinschaft überwältigt hat.

Am Abend feiern wir im Red Eye Grill, einem durch und durch amerikanischen Klassiker am Broadway, standesgemäß mit einem New York Strip Steak. Das Smartphone lasse ich bis zum nächsten Morgen aus. An diesem Tag will ich nicht mehr wissen, mit welchem Unsinn Donald Trump wieder versucht hat, die amerikanischen Demokratie zu torpedieren.

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