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Es klingelt in Neukölln

Gerade ziehen tausend Aktivisten in Berlin-Neukölln von Haus zu Haus. Es ist die größte Haustürwahlkampfkampagne zur Bundestagswahl. Das Ziel: das Direktmandat für den Linken-Kandidaten Ferat Koçak

Immer zusammen: Der Kandidat Ferat Koçak inmitten der ihn unter­stützenden Aktivist:innen

Aus Berlin Erik Peter und Uta Schleiermacher (Text) und Steve Braun (Fotos)

Die erste Person läuft Melina Carls direkt vors Klemmbrett: eine etwa 50-jährige Frau, die gerade ihr Wohnhaus in der Neuköllner Weserstraße verlässt. „Hi, ich bin Melina, von der Linken-Neukölln. Wir wollen Politik anders machen und fragen gerade alle hier in der Nachbarschaft, was euch wichtig ist“, sagt Carls. Die Frau winkt ab, ist in Eile. „Ich interessiere mich nicht für Politik“, sagt sie. Carls hakt nach: „Was würdest du ändern, wenn du in Neukölln das Sagen hättest? Hier vor deiner Tür?“, fragt sie.

Die Frau zögert kurz und legt dann los. Sie redet vom Müll auf der Straße, nachlässig entsorgter Hausmüll, der Ratten und Mäuse anlockt. Kurz winkt sie zu einer Jugendlichen, die am Auto auf sie wartet, es dauere noch. Sie schimpft über die Mieten und generell die Wohnungsnot, sie beschwert sich über die neuen Poller, die den Verkehr begrenzen sollen, aber zu mehr Konflikten mit Rad­fah­re­r*in­nen geführt hätten. „Es gibt so viel, was sich ändern müsste, ich weiß gar nicht, wo man anfangen soll“, sagt sie. Und auch, dass sie zwar seit Jahrzehnten im Kiez lebe und hier geboren sei, aber nicht als „richtige Deutsche“ angesehen werde.

Carls nickt, hört zu, fragt ein-, zweimal nach. „Mit deinem Eindruck bist du nicht allein – wir haben schon vorher mit Tausenden Leuten im Kiez gesprochen. Und Mieten, steigende Preise, Dreck und der Nahverkehr, das waren tatsächlich die Themen, die die meisten angesprochen haben“, sagt Carls schließlich. „Wir glauben: Das muss nicht so bleiben. Und Ferat Koçak von den Linken will genau an diesen Themen etwas ändern. Er kommt selbst aus Neukölln und will mit euch zusammen eure Anliegen umsetzen.“ Sie kramt in ihrer Tasche nach den Flyern und setzt dann zur entscheidenden Frage an: „Könntest du dir vorstellen, Ferat am 23. Februar deine Stimme zu geben?“

Die Frau guckt auf den Flyer. Das Gespräch hat vielleicht zehn Minuten gedauert. Carls weist sie auch auf ein Kiezfest hin, zu dem die Linke-Mitte im Februar einladen wird. „Ja, ich kann mir vorstellen, ihn zu wählen“, sagt die Frau. „Wäre ja gut, wenn jemand mal etwas ändert.“ Und sie erklärt sich auch dazu bereit, Freundinnen davon zu erzählen und Flyer weiterzugeben. Dann geht sie zum Auto.

Carls dreht sich um zur Haustür eines fünfstöckigen Mietshauses. Die Tür ist noch offen, sie geht in den Flur und klingelt an der nächsten Haustür. „Wenn jemand so wie eben sagt, sie interessiert sich nicht für Politik, da freue ich mich eigentlich immer. Denn das sind oft Leute, die ihren Alltag nicht mit Politik verbinden. Sie sind gefrustet, und am Ende erzählen sie richtig viel“, sagt Carls. Bei der nächsten Bewohnerin hat sie weniger Glück: „Nicht meine Partei“, sagt diese nur und schlägt die Tür zu. Carls zuckt die Schultern und geht die Treppe hoch.

Melina Carls ist eine von mehr als tausend Menschen, die sich in Neukölln in einer vom Bezirksverband der Linken ausgerufenen Aktionswoche am Haustürwahlkampf beteiligen. Sie ist dafür extra aus Hannover angereist, wo sie sich seit Kurzem in der Linken engagiert. Und sie kam nicht allein: Für die rund 40 Personen aus ihrer Gruppe hatten sie einen eigenen Reisebus gemietet. Dabei sind auch parteiferne Freun­d*in­nen, die sich in der Klimabewegung oder bei Studis gegen rechts engagieren.

Die Methode, mit möglichst vielen Menschen massenhaft an die Haustüren zu gehen, ist noch neu in deutschen Wahlkämpfen. Und Neukölln setzt hierbei neue Maßstäbe. Noch nie sollten mehr Gespräche geführt werden, niemals zuvor beteiligten sich mehr Menschen. Ferat Koçak, der seit 2021 im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt und sich als „Aktivist im Parlament“ begreift, sagt voller Stolz: „Das ist kein Wahlkampf mehr, das ist eine Bewegung.“

Die erste vergleichbare Massenaktion fand im Vorfeld der sächsischen Landtagswahl im vergangenen Herbst statt – ebenfalls für einen Kandidaten der Linken. Damals warben bis zu 200 Menschen gleichzeitig an den Haustüren im Leipziger Osten für Nam Duy Nguyen. Sie klingelten an 50.000 Türen und steigerten das Erststimmenergebnis der Linken von 22 auf 40 Prozent. Nguyen holte das Direktmandat.

Was damals half, war aber auch ein Aufruf der Kampagnenplattform Campact an alle Haushalte, taktisch für die Linke zu stimmen. Vergleichbare Unterstützung fehlt in Neukölln. Auch ist die Linke hier nur im Norden vergleichsweise verankert, im stark migrantisch geprägten, aber auch gentrifzierten Hipster-Stadtteil. Der Süden des Bezirks mit insgesamt 330.000 Ein­woh­ne­r:in­nen ist dagegen mit seinen Einfamilienhaussiedlungen kein natürliches Linken-Reservat. Für 13 Prozent der Erststimmen reichte es für die Partei bezirksweit bei der letzten Bundestagswahl, halb so viel, wie der siegreiche SPD-Kandidat Hakan Demir einfuhr, und deutlich weniger als Grüne und CDU. Die Vorstellung, als Linke diesen Wahlkreis gewinnen zu können, ist eine Anmaßung.

Die Rechnung: 80.000 Türen, 8.000 Zusagen

Doch das Wahlkampfteam von Koçak hat durchgerechnet, wie über Massenmobilisierung der Erfolg möglich werden soll. Die Formel: An 80.000 Türen müsse geklopft, 8.000 Wahlzusagen eingeholt werden. Die Hoffnung: 12.000 zusätzliche Stimmen bringen Koçak auf 20 Prozent, was angesichts der ähnlichen Stärke der anderen Parteien für das Direktmandat reichen könnte. So erzählen es Annika Hombücher und Antonia Heinrich, die den Haustürwahlkampf im „Team Ferat“ koordinieren.

Grundlage ihres Wahlkampfs ist ein „Mapping“ aus der Parteizentrale, sagt Hombücher, das in Neukölln 86 Stimmbezirke mit je etwa 1.000 Ein­woh­ne­r:in­nen ermittelt hat, in denen sich die Linke aufgrund der Sozialstruktur die höchsten Stimmenzuwächse erhofft. Hier wollen sie an jede Tür. Gesteuert wird alles über die Linke-Aktivisti-App. Mit dieser markieren die Haus­tür­wer­be­r:in­nen, an wie vielen Türen sie geklopft, wie viele Gespräche sie geführt und wie viele Wahlzusagen sie gesammelt haben.

Beim Landtagswahlkampf in Leipzig hatte Melina Carls ihre ersten Erfahrungen mit Haustürwahlkampf gemacht. Schon ihre zweite Tür damals habe sie beeindruckt. Dort war sie auf einen Mann aus Afghanistan getroffen, der auf ihre Frage, was er ändern würde, gesagt hatte: Die Bürgergeldempfänger seien ein Problem und die Flüchtlinge aus der Ukraine, die alle dorthin zurück in den Urlaub fahren würden. Sie habe geschluckt – und „dann habe ich mir das zum ersten Mal unkommentiert angehört“, sagt sie. „Es geht in diesen Gesprächen darum, herauszufinden, was das Anliegen der Leute ist“, sagt sie. „Oft erleben die Menschen etwas als Ungerechtigkeit – und wir wollen erst mal zuhören.“

Im Gespräch mit dem Mann wurde klar, dass auch er sich wünschte, sein Heimatland zu besuchen, das aber nicht könne. „Wir haben uns am Ende darauf geeinigt, dass es allen Menschen möglich sein soll, Urlaub zu machen. Und dass es ungerecht ist, dass manche viel weniger arbeiten als er und trotzdem ein Vielfaches verdienen.“ Der Mann habe sie mit großen Augen angesehen, als sie am Ende fragte, ob er die Linke wählen würde. „Na klar, worüber reden wir denn die ganze Zeit?“, habe er gesagt.

„Das ist jemand, den haben wir bisher nicht erreicht – und das ist ein tolles Gefühl von Selbstwirksamkeit“, sagt Carls. Die 27-Jährige arbeitet in einem Bürojob, den sie auch aus dem Homeoffice machen kann. Sie bleibt die ganze Woche in Neukölln, um hier abends und an den Wochenenden die Türen abzuklappern. Neukölln ist für sie „der Ort, an dem wir die AfD konkret schwächen können“. Auch Koçak wirbt damit: Der Einzug der Linken würde die AfD nach derzeitigem Stand sechs Sitze im Bundestag kosten – Diäten und Gelder für Mit­ar­bei­te­r:in­nen zusammengerechnet bedeute dies elf Millionen Euro weniger für die AfD.

Wahlkampf der Linken

Mit drei Direktmandaten den Einzug in den Bundestag sichern – diesen Plan entwickelte die Linke, als Anfang November die Ampelregierung platzte und die Partei in Umfragen bei nur 3 Prozent stand. Die Altvorderen Gregor Gysi, Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch riefen die Aktion Silberlocke ins Leben. Ihr Ziel: Ihre Wahlkreise in Berlin Treptow-Köpenick, Erfurt und Rostock direkt zu gewinnen. Ebenso hofft die Partei auf Direktmandate in Berlin-Lichtenberg, wo Parteichefin Ines Schwerdtner kandidiert, und in Leipzig, wo der Abgeordnete Sören Pellmann wiedergewählt werden will.

Aktuelle Umfragen sehen die Linke mittlerweile im Aufwind. Es kann auch damit gerechnet werden, dass die Linken bei der Bundestagswahl am 23. Februar die 5-Prozent-Hürde überspringen und damit die Absicherung über drei Direktmandate gar nicht mehr nötig ist.

15.000 neue Mitglieder hat die Partei seit ihrem Außerordentlichen Parteitag Mitte Januar hinzugewonnen, insbesondere seitdem Friedrich Merz im Bundestag mit der AfD paktiert hat, strömen immer mehr Menschen in die Partei. Mit nunmehr 75.000 Mitgliedern ist sie fast wieder so groß wie nach ihrer Gründung im Jahr 2007.

Einige Stunden zuvor steht Carls mit mehreren Hundert anderen Freiwilligen im Veranstaltungssaal Refugio und spürt „ein Kribbeln“, sagt sie. Hier ist das Zentrum des Wahlkampfs für die Woche.

Kurz vor Beginn des Auftaktstreffens geht es emsig zu. Eine Handvoll Freiwilliger packt die letzten Beutel für die Wahlkämpfer:innen, mit Klemmbrett und Gesprächsleitfaden, Koçak-Flyern und Türhängern, einer Kontaktliste und einer Gaza-Petition, die den Stopp von Waffenlieferungen an Israel fordert. In dem mit Plakaten und Fahnen geschmückten Saal ist schon alles vorbereitet: Kaffee ist gekocht, an den Wänden hängen Hinweise für das Awarenessteam und der Plan für die Woche, der neben den Aktionszeiten auch Filmvorführungen und Podiusmsdiskussionen beinhaltet. An der Anmeldung am Eingang sitzen zwei junge Frauen und sorgen dafür, dass sich alle in Listen eintragen, die notwendigen Apps herunterladen und bei Bedarf über die extra eingerichtete Bettenbörse verteilt werden.

Niemals allein, immer zusammen

Kaum einer, der ankommt, ist älter als 25, maximal 30 Jahre, einige haben große Wanderrucksäcke geschultert, kommen aus Leipzig, Freiburg oder Köln, sind aktiv beim Studierendenverband SDS, in Klima- und Antifagruppen. Als die etwa 150 Sitze im Raum fast alle besetzt sind, beginnt Koçak mit seinem Ritual: „Niemals“, ruft er ins Mikrofon, „allein“, schallt es zurück. „Immer“ ruft Koçak, „zusammen“ antwortet das Publikum. Angesichts der etwa 1.000 Anmeldungen, die Zahl ist laut den Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen nach dem Merz-Eklat im Bundestag noch einmal in die Höhe geschnellt, ruft Koçak: „Wir werden das Ding hier gewinnen.“

Der 45-Jährige, aufgewachsen in Kreuzberg an der Grenze zu Neukölln, erzählt von seinem Großvater, der einst als Gastarbeiter aus Anatolien kam und in Deutschland als Asphaltbauer arbeitete. „Während er das Land aufbaute, blieb er für viele ein Fremder“, das ist die Erfahrung, an die Ferat Koçak anknüpft. Er selbst erlangte überregionale Bekanntheit durch einen Anschlag 2018, bei dem zwei mittlerweile verurteilte Neonazis sein Auto direkt neben dem Haus, das er mit seinen Eltern bewohnt, angezündet hatten. Das Feuer hätte fast auf die Gasleitung übergegriffen. Koçak hat das viel Angst gemacht, bis heute. Sein Politaktivismus ist seine Art, damit umzugehen. Kein Berliner Politiker ist häufiger als Redner auf Demos, kaum einer ist auf seinen Online-Kanälen so präsent. Fast 70.000 Menschen folgen seinen täglichen Posts auf Instagram, mehr als 85.000 auf Tiktok,

„Wir müssen weg von hier“, habe er seiner Mutter nach dem Anschlag gesagt, erzählt Koçak dem Publikum. Sie antwortete ihm: „Wir sind doch schon einmal geflohen. Neukölln ist unser Zuhause.“

Mit dieser Art der persönlichen Ansprache kann Koçak ein Publikum für sich gewinnen. Später wird er der taz erzählen, dass ihm sein Großvater nach seinem Einzug ins Abgeordnetenhaus 2021 gesagt habe: „Vergiss nicht, wo du herkommst.“ Auch daraus zog er die Konsequenz, sein Gehalt zu begrenzen. Das, so sein Versprechen, soll auch wieder so sein, sollte er in den Bundestag einziehen. 2.500 Euro im Monat für ihn, der Rest geht in einen Fonds und wird über die Sozialsprechstunde in seinem Büro umverteilt.

Ich bin ein taz-Blindtext. Von Geburt an. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text

In der Wahlkampfzentrale Refugio wird derweil der Druck auf die Wahl­kämp­fe­r:in­nen erhöht. Sie mögen sich überlegen, wie oft sie bereit sind, an die Türen zu gehen, und wie oft sie das „zusätzlich“ zu ihrem bisherigen Vorhaben machen wollen, sagt Wahlkampfmanagerin Hombücher. „Nur einmal gehen, kann uns das Genick brechen.“ Wenn alle im Schnitt drei Tage mehr investieren würden, könnten 40.000 Türen mehr erreicht werden, so die Argumentation.

Die jungen Wahl­kämp­fe­r:in­nen reagieren gelassen, die Stellwand, an der man mit Klebepunkten seine zusätzlichen Tage – 1, 4 oder 7 – markieren soll, bleibt später fast unberührt. Der Motivation für die Schulung im Haustürwahlkampf tut das keinen Abbruch. Gebannt folgt der Saal einem Crashkurs über Neukölln, die Gegenkandidaten, alle mit sicheren Listenplätzen, und über das richtige Auftreten an der Tür.

Der Antrieb zum Engagement ist der Linken in Neukölln eingeschrieben, der Bezirksverband ist Hort des trotzkistischen Netzwerks Marx 21, das die Revolution über andauernden Aktivismus erzwingen will. Von hier operierte man stets gegen die Regierungsbeteiligungen der Linken im Berliner Senat und setzte unabhängig von der Partei auf eigene Themen, zuletzt auf den Schulterschluss mit der propalästinensischen Protestszene. Dass ihr Basismitglied Ramsis Kilani wegen Antisemitismus aus der Partei geworfen wurde, stößt hier auf wenig Verständnis. Auch deshalb gucken viele in der Partei, die sich Ämter vor ihre Vornamen klemmen können, eher mit Befremden nach Neukölln. Dort sieht man sich dagegen als einen der erfolgreichsten Kreisverbände des Landes mit mehr als 1.000 Mitgliedern und einem der besten Wahlergebnisse im Westen.

16 Haustüren, 8 Gespräche, 5 Wahlzusagen trägt Melina Carls am Samstagmittag nach ihrem ersten Haus in die App ein. Eine Frau hatte direkt gesagt, dass sie Mitglied in der Linken sei. Eine andere, dass sie eh die Linke wähle. Ein türkeistämmiger Mann nennt Mieten, Preise und Müll als Anliegen, erkennt dann Ferat Koçak auf dem Flyer und ist fast begeistert, als er hört, dass er ihn wählen kann.

Eine Anwohnerin hat nicht die deutsche Staatsbürgerschaft und darf nicht wählen, ein anderer ist in Brandenburg gemeldet. Ein Mann gibt sich als SPDler zu erkennen, stimmt aber zu, dass die Linke im Bundestag wichtig sei. Als Carls argumentiert, dass der Neuköllner SPD-Kandidat über die Liste eh einziehen wird, lacht er nur und sagt: „Guter Versuch.“ Das Gespräch ist beendet, Carls ärgert sich. „Ich habe nicht nach seinen Anliegen gefragt. Daher war das schwierig“, bedauert sie. „Ich glaube, den hätten wir kriegen können.“

An der Tür: Ferat Koçak macht für sich Werbung und lässt sich dabei gerne helfen

Bundesweit will die Linke ihren Einzug in den Bundestag durch den Gewinn von drei Direktmandaten sichern. Sie setzt in Berlin auf Gregor Gysi in Treptow-Köpenick und Ines Schwerdtner in Lichtenberg, auf Sören Pellmann in Leipzig und Bodo Ramelow in Erfurt. Auf der Partei-Website werden noch drei weitere „aussichtsreiche Wahlkreise“ genannt. Von Neukölln: keine Rede. Von Spitzenpersonal der Linken an der Seite von Koçak: keine Spur.

Zieht Koçak Wahlkämpfende ab, die dann in Bezirken mit besseren Aussichten fehlen, wie etwa Berlin-Lichtenberg, wo ebenso ein ambitionierter Haustürwahlkampf läuft? Er weist das zurück: „Es gibt hier sehr viele Menschen, die für mich auf die Straße gehen, das für die Linke aber nicht tun würden“, sagt er. Migrant:innen, parteiferne Bewegungsaktivist:innen, sehr junge Leute, die über Social Media zu ihm gestoßen sind.

Viel Engagement aus dem Kiez

Der mangelnden Unterstützung für Koçak aus der Bundespartei steht viel Engagement aus dem Kiez gegenüber, etwa von der Filmproduktion Jünglinge, die zuletzt die Serie „Schwarze Früchte“ für die ARD produzierte. Ein ganzes Wochenende lang drehen die jungen Filmschaffenden ein Werbevideo für Koçaks Erststimmenwahlkampf, das am Dienstag erscheinen soll. Zum Abschlussdreh sind etwa 80 Menschen an der Kindl-Treppe zusammengekommen, ein mehrfach gewendeter Aufgang, der sich zwischen mit Graffiti übersäten Betonwänden zu dem ehemaligen Brauerei-Areal hochwindet.

Mit Nachdruck: Aktivisten markieren mit Aufklebern, wie oft sie beim Haustürwahlkampf teilnehmen

Während ein feministischer Chor auf der Treppe Aufstellung genommen hat, zwei Dutzend Sta­tis­t:in­nen an ihrem Fuße warten und aus dem Pulk von Produzent:innen, Kamera- und Tonleuten die Anweisungen gebrüllt werden, läuft Koçak etwas abseits die Straße rauf und runter. Immer wieder hört man ihn sagen: „Neukölln hat Hoffnung!“ Fast wirkt es so, als wolle er sich Mut zusprechen. Kurz zuvor noch hatte er erzählt, dass sein Gegenkandidat der SPD mit einer aus seiner Sicht wenig repräsentativen Umfrage und der Erzählung „Entweder ich – oder die CDU“ hausieren geht. Doch in diesem Moment übt Koçak den Text, den er gleich in die Kamera sprechen wird, während hinter ihm der Chor die Hoffnung des Bezirks besingen wird.

Kontakt zwischen Koçak und den Pro­du­zen­t:in­nen gab es vorher keinen. Das Produktionsteam sei auf ihn zugegangen, die viele Arbeit machen sie „for free“, sagt Produzentin Paulina Lorenz: „Uns ist es wichtig, Solidarität zu zeigen.“ Mit der Linken? „Nein, wir machen das für ihn, für seine Arbeit, seinen Antifaschismus.“ Mitproduzentin Raquel Dukpa ergänzt: „Wenn die Revolution beginnt, dann in Neukölln.“ Es ist ein Satz von Koçak. Dieser Hoffnung auf eine Community, die sich gegen Rassismus und Abschiebungen wehrt, für bezahlbare Mieten und einen besseren Nahverkehr einsetzt, wollen sie mit dem Video Ausdruck verleihen.

Am Tag danach macht die Haustür-Gruppe noch mal andere Erfahrungen, da sind sie im Neuköllner Süden unterwegs. „Vor dem ersten Haus haben uns Leute auf der Straße einfach angeschrien, und der Mann an der ersten Tür hat uns AfD-Flyer hingehalten und gesagt, niemand anderes im Haus spricht Deutsch, ihr könnt gleich wieder gehen“, erzählt Melina Carls. Weiter oben im Haus dann eine Mieterin, deren Familie seit vier Generationen in Deutschland sei, und die ihr erzählt habe, dass sie seit Tagen darüber sprechen würden, ob sie zurück in die Türkei müssten. „Der Tag hat uns nachdenklicher gemacht, aber auch gezeigt: Wir machen hier das Richtige“, sagt Carls.

„In der Partei ist so eine Aufbruchstimmung, viele Menschen politisieren sich gerade, vor allem auch migrantische“, sagt Koçak.

Die Erfolgsmeldungen verbreitet er täglich. Bis zum Freitag haben die Neuköllner bereits an 72.929 Türen geklopft. 7.064 Menschen haben versprochen, Koçak zu wählen.

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