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„WaszurHöllemachtihrmiteuremLeben?“

Der niederländische Intellektuelle Rutger Bregman will eine hochqualifizierte Elite dazu bringen, die entscheidenden Probleme auf der Welt zu lösen: Krankheiten, Klimawandel, Armut. Dafür legt er sich mit Progressiven und Linken an. Kann das gut gehen?

Einst mit Forderungen wie einem globalen bedingungslosen Grundeinkommen bei Linken populär, stellt er nun sein Ansehen mit einem Hilferuf an die Elite auf Probe: Rutger Bregman Foto: Marlena Waldthausen/Agentur Focus

Interview Peter Unfried

taz: Rutger Bregman, Sie haben eine „Schule für moralische Ambition“ gegründet und kritisieren als erstes junge Leute, die zu moralistisch seien. Wie geht das zusammen?

Rutger Bregman: Ich sehe zwei Pro­bleme. Auf der einen Seite haben wir die ganzen Leute in der Klimabewegung, die von ihrem eigenen ökologischen Fußabdruck besessen sind. Da gibt es eine Reihe von Regeln: kein Fleisch essen, nicht fliegen, keine Plastikstrohhalme verwenden, und für manche ist es sogar verboten, Kinder in die Welt zu setzen, denn das verursacht CO2.

taz: Es ist okay, kein Fleisch zu essen.

Bregman: Auf jeden Fall. Ich selbst lebe weitgehend vegan. Aber ich glaube nicht, dass das mein großer Beitrag für die Welt ist. Es ist eine komplette Illusion, seinen eigenen Beitrag im Konsum oder Nichtkonsum zu suchen. Im bestmöglichen Szenario haben die Leute ihren Fußabdruck weitestgehend minimalisiert oder sogar auf Null reduziert und hätten damit genauso nie existieren können.

taz: Was ist das zweite Problem in der Klimabewegung?

Bregman: Das wären die sogenannten „Woken“. Auf Deutsch beginnt es mit all dem Gerede über die Geschlechtersprache – das ist eine ganz neue Welt für mich…

taz: …weil es das in der Form weder im Niederländischen, noch im Englischen gibt?

Rutger Bregman: Ich verstehe, wie wichtig es ist, eine inklusive Sprache zu verwenden. Aber ich verstehe nicht, warum wir all diese Energie und Zeit darauf verwenden, wenn gleichzeitig fünf Millionen Kinder an leicht vermeidbaren Krankheiten sterben, die nächste und möglicherweise noch schlimmere Pandemie vor der Tür steht, Demokratien auseinanderfallen und die USA einen Autokraten zum Präsidenten gewählt haben.

taz: Es wird Ihnen als Whataboutismus ausgelegt werden, wenn Sie Bemühungen um gerechte Sprache mit sterbenden Kindern relativieren.

Bregman: Ich denke, es ist tatsächlich wichtig, Prioritäten zu setzen. Ich habe jedenfalls ein paar Tage gebraucht, um zu verstehen, worum es in dieser deutschen Sprechdebatte geht, und dann habe ich gedacht: Das ist moralisch wirklich nicht sehr ambitioniert. Wir sollten uns gut überlegen, wo wir unsere Zeit investieren.

taz: Was schwebt Ihnen vor?

Bregman: Lassen Sie mich das konkretisieren: Ein Leben hat durchschnittlich etwa 4.000 Wochen, eine Berufskarriere 2.000. Die Idee von moralischer Ambition ist es, sehr sorgfältig darüber nachzudenken, wie man seine begrenzte Zeit auf diesem wundervollen Planeten verbringt und wie man so vielen Menschen und Tieren wie möglich helfen kann. Wenn es stimmt, dass wir einige wirklich große Probleme haben, dann können die Lösungen definitiv nicht klein sein. Deshalb will ich weg von dieser Erzählung, dass Wandel im Kleinen geschehen müsse und weniger mehr sei.

taz: Weniger ist mehr, wird gesagt, um Verzicht als Qualitätsgewinn zu propagieren.

Bregman: Weniger ist aber nicht mehr. Wenn Sie wirklich Mathematik anwenden, dann ist es so: Wenn sie einem Menschen helfen, helfen sie einem Menschen, wenn sie zweien helfen, sind es schon doppelt so viele. Mehr ist mehr! Aber ich kritisiere die jungen Progressiven nicht nur, ich möchte diejenigen gewinnen, in denen sehr viel Energie steckt, die aber zu viel ihrer Zeit auf Instagram, Facebook oder Twitter verbringen, statt in der echten Welt Dinge zu verändern.

taz: Worum geht es bei Ihrem Ansatz im Kern?

Bregman: Ich bin beeinflusst von einem Zitat von Margaret Mead, die – ins Deutsche übersetzt – gesagt hat: „Zweifeln Sie nie daran, dass eine kleine Gruppe aufmerksamer und engagierter Menschen die Welt verändern kann. Tatsächlich ist es das Einzige, das jemals dazu geführt hat.“ Für mich bedeutet das: Ich muss nicht alle überzeugen. Das Wichtigste ist, dass einige Menschen von der Idee der School for Moral Ambition so inspiriert sind, dass sie Lust haben, sie mit aufzubauen und dafür ihre berufliche Laufbahn ändern.

taz: Leute sollen ihren Beruf oder Arbeitgeber wechseln, um bei Ihnen mitzumachen?

Bregman: Ja. Wir haben mittlerweile 5.000 Mitglieder und 183 Gruppen, die an unseren „Moralische Ambition“-Programmen teilnehmen. Sie beantworten für sich folgende Fragen: Was sind meine Supertalente? Was sind die größten vernachlässigten Probleme der Welt? Wo ist die Verbindung zwischen den beiden? Und: Was ist der erste Schritt, den ich tun kann, um zur Lösung dieses Problems beizutragen? Das Programm endet mit dem Versprechen, ein konkretes Problem wirklich anzugehen. Dies erfordert oft die Kündigung eines Jobs. Als zweites Programm haben wir dann unsere Moralische Ambition-Fellowships ins Leben gerufen.

taz: Wie bekommt man das Stipendium?

Bregman: Es ist sehr, sehr schwer, da reinzukommen. Diese Stipendien sind wirklich für die Besten der Besten. Die Stipendiaten erhalten ein durchschnittliches niederländisches Gehalt von 3.600 Euro brutto pro Monat, werden einen Monat lang intensiv geschult und haben dann sechs Monate Zeit, sich ganztägig ihrer Mission zu widmen. Wir haben 653 Bewerbungen aus der gesamten Europäischen Union erhalten. Daraus haben wir zwei Gruppen von einmal zehn und einmal zwölf äußerst talentierten Menschen gebildet, denen wir eine Mission zuweisen. Wir folgen hier dem Gandalf-Frodo-Prinzip.

taz: Der Zauberer und der Hobbit aus dem Fantasyroman Herr der Ringe?

Bregman: Ja. Gandalf hat Frodo nie gefragt: „Frodo, was ist deine Leidenschaft?“ Er sagte: „Du musst den Ring ins Feuer des Mount Doom werfen, sonst werden alle sterben.“ So machen wir das auch. Wir haben Wissenschaftler gefragt, was die größten vernachlässigten Probleme der Menschheit sind.

taz: Warum „vernachlässigte“ Pro­bleme?

Bregman: Das Wort vernachlässigt“ ist wichtig. Die eine Gruppe nimmt den Kampf gegen die Tabakindustrie auf. Das hat mich auch überrascht, aber Tabak ist das tödlichste Produkt in der Geschichte der Menschheit und es ist eine fortlaufende moralische Katastrophe, gegen die nur noch sehr, sehr wenig getan wird. Rauchen führt zu acht Millionen Toten jedes Jahr, 80 Prozent der Konsumenten fangen als Jugendliche an zu rauchen. Die zweite Gruppe kämpft für einen Wandel in unserem Ernährungssystem hin zu nachhaltigen Proteinen. Dies ist die am meisten vernachlässigte Lösung im Kampf gegen den Klimawandel. Wir wollen einige der besten Lobbyisten, Anwälte und Vermarkter aus ihren Top-Jobs herausholen und für das Stipendium gewinnen.

taz: Sie wollen wirklich eine professionelle Superelite mobilisieren?

Bregman: Klar. Manchmal nennen wir uns die Robin Hoods des Talents. Robin Hood nahm den Reichen das Geld weg, wir nehmen ihnen die Talente weg. Die besten und ehrgeizigsten Leute sollten an den wichtigsten Projekten unserer Zeit arbeiten. Im Moment arbeiten sie daran, Produkte zu verkaufen, die wir wirklich nicht brauchen, schauen sich hässliche Powerpoints an und schreiben Reporte, die niemals jemand lesen wird. Das ist eine enorme Verschwendung von Talent. Zu diesen Leuten sagen wir: Was zur Hölle macht ihr mit eurem Leben?

taz: Nun kritisieren Sie nicht nur die 45 Prozent der Harvard-Absolventen, die in die Finanzbranche gehen, weil sie dort viel Geld verdienen wollen. Sie kritisieren auch einige Käufer Ihrer Bücher, denen das richtige Bewusstsein wichtiger ist als aktives Handeln.

Bregman: Mein letztes Buch war sehr erfolgreich in Deutschland…

taz: …„Im Grunde gut“, ein Lob des Menschen…

Bregman: …vielen hat es gefallen und ich dachte: Das ist Kapital, das ich einsetzen werde. Ich werde meinen Ruf für etwas wirklich Wichtiges verbrennen. Zum Beispiel den Kampf für Tierrechte, eines der wichtigsten Themen unserer Zeit. Die Art und Weise, wie bestimmte Tiere behandelt werden, etwa Hühner, ist eine der großen moralischen ­Katastrophen unserer Zeit. Aber wenn man im Fernsehen darüber spricht, mögen die Leute einen plötzlich nicht mehr.

taz: Sie sprechen selbst sehr moralisch, kritisieren aber Progressive, die dasselbe tun. Können Sie genau sagen, wen Sie meinen und was der Unterschied ist?

Bregman: Es geht darum, dass diese Leute das, was sie predigen, auch in die Tat umsetzen. Ich denke, die Leute haben es satt, dass Progressive ihren Worten keine Taten folgen lassen. Moralische Ambition ist als Medizin gegen diese Heuchelei gedacht. Wir verschwenden unsere Zeit nicht damit, „dem System“ die Schuld zu geben, wir versuchen, das System selbst zu ändern.

taz: Ich habe ganz grundsätzlich den Eindruck, dass uns im Moment die Anti-Zukunftsstrategen meilenweit voraus sind.

Rutger Bregman

Die Person

Geboren 1988 in Renesse, Niederlande. Mitbegründer der gemeinnützigen Stiftung „The School of Moral Ambition“, deren Ziel es ist, nicht nur zu reden, sondern tatsächlich Gutes zu tun.

Der Autor

Verkaufte weltweit über 2 Millionen Bücher, die bekanntesten sind „Utopien für Realisten“ und „Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit“. Sein neues Buch „Moralische Ambition. Wie man aufhört, sein Talent zu vergeuden und etwas schafft, das wirklich zählt“ ist 2024 im Rowohlt Verlag erschienen.

Bregman: Ja, auch das gehört dazu: Wir können vom Feind lernen. Es gibt eine Bewegung, die ich sehr bewundere, nicht für ihre Ziele, sondern für das, was sie mit ihren Methoden erreicht. Das ist die Anti-Abtreibungsbewegung in den USA.

taz: Was kann man von denen lernen?

Bregman: Sie haben ein riesiges Netzwerk aus 5.000 engagierten Anwälten und Beamten aufgebaut. Diese Menschen haben Hunderte von strategischen Klagen eingereicht, um das Recht auf Abtreibung zu zersplittern, und sie haben schließlich diesen großen Sieg errungen, als der Oberste Gerichtshof im Jahr 2022 Roe vs. Wade aufhob, das Recht auf Abtreibung für Frauen in allen Bundesstaaten. Diese Art von Ausdauer braucht es, um am Ende zu gewinnen. Wir sprechen hier mitunter von der Arbeit eines ganzen Lebens.

taz: Das ist hart.

Bregman: Womöglich sogar darüber hinaus, weil man selbst den Erfolg vielleicht gar nicht mehr erlebt. Von den 68 Frauen, die in Seneca Falls die Frauenwahlrechtsbewegung gründeten, lebten 67 nicht mehr, als Frauen 1920 in den USA erstmals wählen durften. Und die 68ste war krank und konnte nicht wählen gehen. Das sind die Menschen, die ich bewundere.

taz: Was halten Sie eigentlich von Elon Musk? Ich habe mal laut nachgedacht: Warum nicht als genial-besessener Unternehmer sozialökologische Ziele vorantreiben? Die Empörung war groß. Musk sei böse und solche Unternehmer dürfe es gar nicht geben.

Bregman: Dies berührt etwas, das Progressiven oft Unbehagen bereitet und das sie nur schwer akzeptieren können. Nämlich, dass manche Menschen viel einflussreicher und effektiver sind als andere. Statistiker sprechen von „Machtgesetzen“, und sie sind überall: Manche Erdbeben sind massiver als alle anderen zusammen, und einige Fußballspieler schießen mehr Tore als der Rest der Mannschaft. So ist es auch mit Unternehmern oder Aktivisten: Manche sind nicht nur zwei- oder dreimal so erfolgreich wie andere, sondern tausend- oder zehntausendmal erfolgreicher.

taz: Was heißt das im Fall von Musk?

Bregman: Es ist töricht zu leugnen, dass Elon Musk ein außerordentlich erfolgreicher Unternehmer ist. Mit Tesla hat er ein Unternehmen aus dem Nichts geschaffen, das den Umstieg auf Elektroautos massiv beschleunigt hat – und dafür gebührt ihm enorme Anerkennung. Aber die Sache mit Musk ist, dass Macht korrumpiert. Irgendwann dachte er, er könnte auch Politik machen, so wie er Geschäfte macht. Jetzt ist er eine der Hauptbedrohungen der Demokratie.

taz: Was folgt daraus?

Bregman: Was die Progressiven und Linken lernen müssen: Wir brauchen diese unternehmerische Energie, um die Dinge nach vorne zu bewegen. Und wir müssen mit der Welt arbeiten, wie sie ist und nicht, wie wir möchten, dass sie ist. Das ist der einzige Weg, um eine große Wirkung zu erzielen. Wenn wir uns aber selbst etwas vormachen und glauben, jeden Tag online allen die richtigen Ratschläge zu geben, sei der Weg – und dann frustriert sind, wenn wir die Wahlen wieder verloren haben – dann ist das einfach abgrundtief unseriös. Gewinnen ist eine moralische Pflicht.

„Die Idee von moralischer Ambition ist es, sorgfältig darüber nachzudenken, wie man seine begrenzte Zeit auf diesem wundervollen Planeten verbringt“

taz: Ihre Kritik an handlungsschwachen Linksemanzipatorischen kommt bei denen nicht gut an. Sie sagen, es sei eine „neoliberale Ökonomisierung der Moral“, die Dinge mit einer kleinen Elite von High Performern ändern zu wollen.

Bregman: Selbsthilfebücher werden oft kritisiert, weil sie sich auf das Individuum konzentrieren, besonders wenn wohlhabende Gurus „Verantwortung“ predigen und dabei Armut, Ungleichheit oder das eigene Glück ignorieren – klassischer rechter Unsinn. Aber könnte es auch eine linke Ausrede geben? Privilegierte Leute, die „dem System“ die Schuld geben – Kapitalismus, Konzerne, Algorithmen – können sich genauso leicht der persönlichen Verantwortung entziehen. Wie Nelson Mandela es ausdrückte: „Eines der schwierigsten Dinge ist nicht, die Gesellschaft zu verändern, sondern sich selbst.“

taz: Sie kritisieren auch Mahatma Gandhi in Ihrem Buch, der keine engen Freundschaften wollte, sein Essen nicht würzte und Sex nur für die Fortpflanzung vorsah, um sich ganz seiner Pflicht widmen zu können. Dass ist Ihnen zu viel Moral?

Bregman: Ich bin Pluralist. Im Leben geht es um viele Dinge, um Liebe, um Freundschaft, um Schönheit, um Kunst, um Langeweile und auch mal darum, seine Zeit zu verschwenden.

taz: Ach, doch?

Bregman: Ich will ein reiches Leben führen, und nicht, dass alles von Moral diktiert wird. Das passiert bei Heiligen wie Gandhi und das ist der falsche Weg. Wenn ich mit meinem dreijährigen Kind spiele, dann denke ich nicht an die Katastrophen dieser Welt. Dann will ich einfach nur ein guter Vater sein. Und das ist okay. Aber andererseits spielt Moral in einem reichen Leben eben auch eine wichtige Rolle. Und das betrifft eben besonders die Arbeitskarriere. Die hat eine große moralische Dimension. Da könnten einige Leute eine starke Dosis moralische Ambition gebrauchen, einen Tritt in den Arsch. Ich schätze, viele von uns haben das noch nicht annähernd ausgereizt.

taz: Ich fasse zusammen: Sie fordern eine Konzentration auf die großen Probleme, dabei keine moralischen Appelle, sondern möglichst viel konkrete Umsetzung. Und dafür müssen nun mal die Besten ran. So?

Bregman: Ich habe selbst zehn Jahre im Bewusstseinsgeschäft gearbeitet. Das war einfach nicht genug. Auch nicht, wenn ich über die Steuervermeidung von Milliardären gesprochen habe. Wir haben bereits einen Ozean an Bewusstsein. Die meisten Leute denken, dass wir eine Milliardärssteuer brauchen – aber bisher sind die richtigen Leute nicht zur richtigen Zeit an den richtigen Orten, um sie durchzusetzen. Deswegen bin ich nach New York gezogen. Im Mai planen wir hier eine Kampagne mit Werbetafeln an der Wall Street mit der Aufschrift: „Wenn Sie so talentiert sind, warum arbeiten Sie dann hier?“ und „Wir bezahlen Sie dafür, dass Sie Ihren Job kündigen“. Dann stellen wir ein kleines Team aus Steueranwälten, Bankern und Rechtsanwälten zusammen, das uns dabei hilft, eine Milliardärssteuer tatsächlich umzusetzen. Das ist auch Teil unseres Stipendien-Programms.

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