: Nun sag, wie hältst du es mit Gaza?
In Berlin-Neukölln lebt die größte palästinensische Diaspora Europas. Für linke Parteien ist der Haustürwahlkampf dort eine kommunikative Herausforderung: Man wirbt um eine Klientel, die sich politisch heimatlos fühlt
Aus Berlin-Neukölln Cem-Odos Güler und Frederik Eikmanns
Es dauert wenige Minuten, bis der alte Mann zum Thema kommt: „Deutschland liefert immer weiter Waffen an Israel“, bricht es aus ihm heraus. „So“, sagt Hakan Demir, als habe er es geahnt, dass dieser Satz jetzt kommen würde. Der SPD-Politiker zieht im Haustürwahlkampf durch Berlin-Neukölln, vor ein paar Minuten hat er an die Tür des Mannes geklopft. Was als Gespräch über einen zu teuren Rundfunkbeitrag und die Unzuverlässigkeit der Deutschen Bahn begann, hat sich innerhalb weniger Minuten zu einer Diskussion über den Krieg in Gaza entwickelt.
Das Gespräch findet statt wenige Tage bevor am vergangenen Sonntag ein vorläufiger Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas in Kraft treten wird. Doch die Kriegsruhe in Gaza ist eine fragile, dass der Krieg nach einer ersten sechswöchigen Phase des Geiselaustauschs und Truppenrückzugs wieder aufflammen könnte, ist möglich. Eine wirkliche politische Lösung für die Palästinenserfrage in Nahost ist nicht in Sicht.
Es gibt wohl kaum einen anderen Ort in Deutschland als Berlin-Neukölln wo sich die Nahost-Diskussion so gut wie unter einem Brennglas verfolgen lässt. Mehr als 330.000 Menschen wohnen in Berlin-Neukölln, dem Bezirk im Süden der Hauptstadt. Fast jeder Zweite hier hat eine Migrationsgeschichte, auch die größte palästinensische Diaspora Europas lebt in dem Stadtteil. Viele Menschen in Neukölln haben Angehörige in den palästinensischen Gebieten, gerade für junge Menschen ist die Lage in Nahost oft der erste explizite Berührungspunkt mit Politik.
Seit dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel und dem darauf folgenden erbarmungslosen Krieg in Gaza wird bundesweit auch immer wieder über Neukölln berichtet. Kurz nach dem Hamas-Angriff verteilten mutmaßliche Islamist*innen hier Baklava und feierten den Überfall am 7. Oktober 2023 als „palästinensischen Widerstand“.
Eine massive Repressionswelle folgt: Palästina-solidarische Proteste werden in Neukölln damals teilweise pauschal untersagt, an Schulen kann das Tragen von Pali-Tüchern verboten werden. Die Polizei geht massiv gegen Demonstrierende vor, es kommt zu brutalen Festnahmen und Gewalt. Menschen, die auf Demos ihre Sorge über den Krieg in Gaza ausdrücken wollen, trauen sich nicht auf die Straße.
Andere fordern auf Demos eine „Befreiung Palästinas vom Jordan bis zum Mittelmeer“ oder heroisieren die Hamas, ohne dass es die restlichen Protestierenden zu stören scheint. Juden und Jüdinnen fühlen sich massiv bedroht.
Hakan Demir erinnert sich an diese Tage in Neukölln. „Ich habe mir auch überlegt, was ich machen kann“, erzählt er. Der SPD-Politiker startete dann eine Initiative, die Imam Mohamed Taha Sabri von der palästinensisch geprägten Dar-as-Salam-Moschee mit dem orthodoxen Rabbiner Jeremy Borowitz, der ebenfalls in Neukölln lebt, zusammenbringt. Heute sind die beiden Geistlichen befreundet und schlendern regelmäßig zusammen durch den Stadtteil. „Die sind zusammen mit Borowitz’Kinderwagen unterwegs“, erzählt Demir und lacht.
Wie stolz Demir auf diese Verbindung ist, zeigt sich an dem Flyer, den er im Haustürwahlkampf verteilt: Gleich im ersten Absatz berichtet er da von dem Rabbi und dem Imam. Miteinander im Gespräch bleiben, um so zumindest im Lokalen den Hass einzudämmen, so lässt sich die Haltung des SPD-Kandidaten wohl am besten beschreiben.
Bei dem alten Mann, an dessen Tür Demir geklopft hat, kommt er damit gut an. Der Mann macht einen Schritt in das Treppenhaus und lehnt die Wohnungstüre hinter sich an, damit die Heizluft nicht aus der Wohnung weicht, wie er sagt. Dann ringt er einen Moment nach Worten und legt beide Hände aufs Herz, als würde er dort etwas verwahren. „Meine Nachbarn, die über und unter mir wohnen, sind Juden“, sagt er. „Es geht doch darum, Menschen als Menschen zu sehen.“
Später erzählt Demir, etwa an jeder zehnten Haustüre werde er auf die Situation in Nahost angesprochen. Immer wieder treffe er auf Israelis oder deutsche Jüdinnen und Juden, die sich mehr Unterstützung wünschten. „Die haben Angst um ihr Leben.“ Mehr Unterstützung wünschten sich auch Neuköllner*innen mit arabischen Wurzeln. „Ich begegne Menschen, deren Angehörige in Gaza getötet wurden“, berichtet er. „Die haben das Gefühl, dass ihr Leid nicht anerkannt wird, und ich teile das.“
Demir sagt heute, auch die SPD habe teilweise nicht die Ansprache gefunden, der es bei dem Thema bedurft hätte. „Unsere Herzen sind groß genug, um mit beiden Seiten mitzufühlen.“ Er hat genau so etwas vor einem Jahr auch schon einmal in einer Bundestagsrede gesagt, doch er findet, dieser Satz hätte nicht von ihm kommen sollen, sondern vom Kanzler oder von der Außenministerin.
Muslimische Mütter erzählten ihm, dass ihr Sohn nun pauschal als Antisemit verdächtigt werde. Manche fragten aber auch, warum er überhaupt das Leid der Israelis thematisiere. Da halte er dann dagegen, sagt er. Feindselige Stimmung erlebe er bei dem Thema kaum, eher Entfremdung. Einige fühlten sich nicht abgeholt bei dem Thema. „Das bekomme ich schon mit“, sagt Demir.
Eine Analyse der Forschungsgruppe Wahlen aus dem März 2024 ist eine der wenigen Umfragen, die dieser Entfremdung empirisch nachgegangen ist. Demnach hielten 70 Prozent der Wähler*innen in Deutschland das Vorgehen des israelischen Militärs angesichts der vielen zivilen Toten in Gaza für nicht gerechtfertigt. Mit 82 Prozent war diese Haltung bei Linkspartei-Anhänger*innen am stärksten ausgeprägt, gefolgt von Grünen-Wähler*innen (78 Prozent) und denen der SPD (75 Prozent).
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Laut der Forschungsgruppe wünschten sich außerdem 52 Prozent der Wähler*innen mehr Druck von Deutschland auf die israelische Regierung, um den Krieg in Gaza zu beenden. Das sahen am stärksten Grünen-Anhänger*innen so (69 Prozent), gefolgt von Linken (67 Prozent), FDP-Wähler*innen lagen mit 60 Prozent noch vor denen von SPD und BSW (jeweils 59 Prozent).
Doch auf diese Erwartungen sind die Parteien in den vergangenen Monaten kaum eingegangen. Olaf Scholz bekräftigte zuletzt im Oktober den Export deutscher Rüstungsgüter nach Israel. „Es gibt Lieferungen und es wird auch immer weitere Lieferungen geben“, hatte der SPD-Politiker in einer Rede im Bundestag gesagt. Für Diskussionen sorgte dabei vor allem, dass der Kanzler nicht einmal rhetorisch die Lieferung von Waffen an Israels Kriegsführung knüpfte.
„Es gibt eine wahnsinnige Enttäuschung bei dem Thema“, sagt der Politikwissenschaftler Jannis Grimm. Er arbeitet an der Freien Universität in Berlin in der Friedens- und Konfliktforschung und hat dort im vergangenen Jahr die Palästina-Demos in Deutschland kartografiert und hinsichtlich antisemitischer Vorfälle, Polizeirepression und Gewalt analysiert. Das Schweigen der Bundesregierung zu möglichen Menschen- und Völkerrechtsverstößen des israelischen Militärs in Gaza habe dazu geführt, dass mehr und mehr Menschen das Vertrauen in die moralischen Maßstäbe der Regierung verloren und sich von der deutschen Politik abgewendet hätten.
„Der Umgang mit dem Krieg in Gaza wird als Ausdruck einer Weltordnung gelesen, in der mit zweierlei Maß gemessen wird“, sagt Grimm. Dieser Vorwurf treffe vor allem die Grünen, etwa Außenministerin Annalena Baerbock. „Bei den Demos heißt es dann, warum redet sie von feministischer Außenpolitik, spricht aber kein Tacheles, wenn es um Gaza geht.“ Dies werde auch bei der Union und bei der SPD so gesehen. „Man ist aber vor allem von denen enttäuscht, von denen man mehr erwartet hat.“
Auch Ursula Münch, Direktorin der Akademie für politische Bildung, erkennt „ein größeres Problem“, darin, dass sich ein Teil der Bevölkerung nicht gehört fühlt. In der deutschen Geschichte sieht sie gute Gründe für die Unterstützung Israels. Aber: „Man muss die deutsche Haltung gegenüber Israel besser begründen und den Leuten nicht nur vor den Latz knallen.“ Solidarität mit Israel bedeute außerdem nicht, gegenüber dem Leid der Menschen in Gaza gleichgültig zu sein.
Münch denkt auch: „Ich glaube nicht, dass die Lage in Gaza für besonders viele Menschen wahlentscheidend ist.“ Auch andere Positionen seien in der Bevölkerung weit verbreitet, ohne dass die Parteien sie aufgriffen. „Man könnte das im aktuellen Wahlkampf sogar über den Klimaschutz sagen.“
SPD und Grüne lassen die Frage, ob sie wegen ihrer zurückhaltenden Kritik gegenüber der israelischen Kriegsführung Vertrauen im linken Spektrum verspielt haben könnten, unbeantwortet. Auch zu der Frage, ob die beiden Regierungsparteien Defizite darin sehen, wie sie den Krieg in Gaza thematisieren, ist keine Antwort zu bekommen. Zu der Frage, wie die SPD zu Waffenlieferungen nach Israel steht, heißt es aus der Partei: „Obwohl wir uns mit Waffenlieferungen in Krisengebiete immer schwer tun, umfasst das auch Waffenlieferungen an Israel – eine Haltung, die unserer historischen Verantwortung entspricht.“ Diese Exporte müssten „mit den Prinzipien des Völkerrechts“ im Einklang stehen.
Die Grünen argumentieren auf Nachfrage ähnlich: Es gebe keinen Blankoscheck für Waffenexporte nach Israel, heißt es aus der Partei. „Wenn dem Schutz der Zivilbevölkerung im Einzelfall nicht genug Rechnung getragen ist, dürfen Waffen nicht exportiert werden.“
Ferat Koçak könnte von der Uneindeutigkeit, mit der SPD und Grüne dem Thema gegenübertreten, profitieren. Der 45-Jährige tritt in Neukölln als Direktkandidat für die Linke an, die unter anderem einen Exportstopp von Waffen an Israel fordert. Bislang saß er im Berliner Abgeordnetenhaus, nun will er Hakan Demir das Direktmandat im Bundestag abnehmen. Auch Koçak setzt voll auf den Haustürwahlkampf – nur, dass er dabei weitaus systematischer vorgeht, als sein Konkurrent.
Zu beobachten ist das an einem Donnerstagabend im Linken-Büro im Norden von Neukölln. Eine Handvoll junger Menschen übt hier Gesprächsstrategien. Es geht um steigende Mieten, explodierende Lebenshaltungskosten und darum, wie man an der Haustür dem Argument begegnet, dass Migration die Ursache dieser Probleme sei. „Wir sind Linke und wir glauben an das Gute im Menschen“, sagt einer der Campaigner aus Koçaks Team. Es gehe darum, die wirtschaftlichen Ursachen der Probleme zu sehen und den Menschen im Gespräch entgegenzuhalten – idealerweise mit einem Angebot, das die Linke dann vorzuweisen habe.
Anwohner in Neukölln
Koçaks Kampagnenteam hat sich vorgenommen, an 80.000 Türen in Neukölln zu klopfen – die SPD peilt nur 20.000 an. Dafür hat die Neuköllner Linkspartei nach eigenen Angaben hunderte Helfer*innen mobilisiert, die auch aus zivilgesellschaftlichen Initiativen wie den Studis gegen Rechts kommen.
Koçak und seine Leute setzen auf strategische Argumente: Wem linke Inhalte wichtig seien, könne nicht allein auf SPD und Grüne vertrauen. Für die Haustürgespräche bekommen die Wahlkämpfer*innen auch ein Mathe-Spiel als Argumentationshilfe an die Hand: Wenn es die Linkspartei in den Bundestag schaffe, bedeute dies etwa fünf bis sieben Sitze weniger für die AfD, etwa 11 Millionen Euro staatlicher Zuwendung weniger. Außerdem stünden SPD-Kandidat Demir und sein Pendant bei den Grünen, Andreas Audretsch, auf ihren Landeslisten auf aussichtsreichen Plätzen für einen Einzug in den Bundestag.
Der Umgang mit dem Krieg in Gaza hatte die Berliner Linkspartei im Herbst vor eine existenzielle Krise gestellt. Im Oktober waren mehrere prominente Mitglieder, darunter der ehemalige Berliner Kultursenator Klaus Lederer, aus der Partei ausgetreten. Die Gruppe hatte kritisiert, dass sie im Landesverband immer seltener mit ihren Positionen durchgedrungen seien und nannten dabei Diskussionen um Antisemitismus als Problem. Anlass für den Streit war auch der Umgang mit einem ehemaligen linken Parteimitglied aus Neukölln, Ramsis Kilani, der in einem Chat unter anderem davon geschrieben hatte, dass der „antikoloniale Befreiungskampf“ der Palästinenser*innen noch mehr brauche als „einen Mord an Israelis“.
Kilani wurde aus der Partei geschmissen, auf dem Landesparteitag einigten sich die Delegierten außerdem darauf, „gegen jede Form des Antisemitismus, unabhängig davon, von welcher politischen und weltanschaulichen Richtung er ausgeht“ vorzugehen. Koçak würde die Debatte um Kilani deshalb gerne hinter sich lassen.
Seine eigene Position zum Nahostkonflikt beschreibt er so: „Wir stehen an der Seite des Völkerrechts und der Menschenrechte.“ In ihren Jutebeuteln tragen die Linken-Wahlkämpfer*innen dabei nicht nur Flyer zum eigenen Wahlprogramm sondern auch eine Petition mehrerer deutscher Hilfsorganisationen wie Pax Christi und Medico für einen dauerhaften Frieden in Gaza. „Wenn Leute an der Tür Kufiya tragen, steige ich direkt mit dem Thema ein“, sagt Koçak.
Und die antisemitischen Parolen auf den Demonstrationen? „Natürlich sind wir gegen Antisemitismus“, sagt Koçak. Er sagt, es sei absurd, dass er sich als Alevit und Kurde mitunter gegen den Vorwurf verteidigen müsse, er habe Verständnis für die Haltungen von Islamisten.
Als es in Neukölln einen Brandanschlag auf die proisraelische Bar Bajszel gab, habe er diesen verurteilt. Aber er stehe zu seiner Kritik an der israelischen Politik in Gaza.
An den Haustüren merkt man schnell, dass diese Haltung gut ankommt. In einem Haus einige hundert Meter von der S-Bahn-Station Neukölln öffnet eine junge Frau die Tür. Lange dunkle Locken, Adiletten an den Füßen. Erst ist sie zurückhaltend: „Ich hab gerade gekocht, das Essen wird kalt.“ Aber als Koçak sie fragt, ob sie die Gaza-Petition unterschreiben will, taut sie merklich auf. Wie sie die deutsche Nahost-Politik finde? „Sehr schlecht“, kommt es aus ihr herausgeschossen, „meine Eltern sind aus Palästina“. Und dann: „Man darf ja nichts mehr sagen.“ Auf die Frage, was sie sonst noch umtreibe, sagt sie: „Polizeigewalt, und dass das Recht eingeschränkt wird, frei zu sprechen.“ Koçak selbst sagt eher wenig, lässt die junge Frau einfach reden, bei ihr scheint sich etwas angestaut zu haben. Nach etwa 15 Minuten verabschiedet sich die Frau. Das Essen ist in der Zwischenzeit kalt geworden.
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