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Geisterhafte Entgleisungen

Die Philosophin Susan Taubes erzählt in „Klage um Julia“ von einem „interessanten Phänomen“

Von Fokke Joel

Susan Taubes war ein äußerlich und innerlich zerrissener Mensch. 1928 in Budapest geboren und aufgewachsen floh sie 1939 mit ihrem Vater, einem bekannten jüdischen Psychoanalytiker, nach New York. Sie studierte in Harvard, Jerusalem und Paris Philosophie und promovierte mit einer Arbeit über Simone Weil. 1949 heiratete sie den Religionsphilosophen Jacob Taubes, bekam Kinder, trennte sich aber 1961 wieder von ihm. Nach einer Lehrtätigkeit an der Columbia University in New York wandte sie sich mehr und mehr dem Schreiben und der Theaterarbeit zu und beteiligt sich am literarischen Zirkel ihrer Freundin Susan Sontag. 1969, kurz nach dem Erscheinen ihres ersten Romans, „Nach Amerika und zurück im Sarg“, nahm sie sich das Leben.

Der nachgelassene Roman, „Klage um Julia“, sowie die mit ihm jetzt veröffentlichten Erzählungen sind Texte, die eng mit dem Leben von Taubes verbunden sind. Während sie in den Erzählungen in mehr oder weniger klassischer Form Probleme thematisiert, die auch mit ihrer Biografie verbunden sind, erzählt sie in „Klage um Julia“ mithilfe eines der Avantgarde verpflichteten Ich-Erzählers, dessen Rolle bis zum Ende nicht genau geklärt wird. Er selbst bezeichnet sich als „Berater“ Julias; gleichzeitig weiß er alles über sie, kann ihr überallhin folgen. Manchmal, könnte man sagen, erscheint er als eine Art freudsches Ich-Ideal, während Julia selbst emotionale Entscheidungen fällt, die dem Es zuzuordnen wären. Manchmal entgleitet ihm Julia; oft sind beide nicht zu trennen. Gleichbleibend ist nur, dass der Erzähler immer die Realität im Auge behält. Und versucht, Julia auf ein Leben in dieser Realität vorzubereiten.

Von ihren Eltern ist in dieser Hinsicht nicht viel zu erwarten. Für sie ist ihre Tochter ein interessantes Phänomen, nicht ein Kind, für das sie Verantwortung tragen. Weil sie ihr – zum Unmut des Erzählers – alles durchgehen lassen, liegt die Vermutung nahe, dass darin die Ursache für Julias Unfähigkeit besteht, eine eigene stabile Identität herauszubilden. Auch in Liebesdingen konstatiert der Erzähler ihr Sprunghaftigkeit und Narzissmus. Die Heirat mit Peter Brody, einem reichen älteren Mann, beschreibt er als Versuch, sich durch die Anerkennung einer Autorität Grenzen zu setzen.

Daraufhin scheint Julia auch für einen Moment lang den Forderungen des Ich-Ideals, das der Erzähler repräsentiert, zu entsprechen. „Wie ein Schauspieler, der sich von seiner Rolle hinreißen lässt, ging ich in manchen Augenblicken tatsächlich in Julia auf; dies war meine eheliche Lagerstatt, dies meine Elfenbeinkämme und Fläschchen mit Duftwassern, die weiße Stirn, die Brüste, die sich einer Liebkosung darboten, die sich öffnenden Lippen waren die meinen. Schiere Entgleisungen. In Wirklichkeit erreichte unsere Beziehung zu dieser Zeit ihre maximale Distanz.“

Susan Taubes: „Klage um Julia und andere Geschichten“. Aus dem Englischen von Nadine Miller. Friedenauer Presse, Berlin 2024, 333 Seiten, 28 Euro

Widersprüche

In „Klage um Julia“ ging es Susan Taubes darum, die Widersprüche und Komplexität zwischen Körper und Geist, zwischen Ich und Es, zwischen den Forderungen der Realität und den spontanen individuellen Wünschen einer Frau zu erzählen. „Von Kindheit an“, schreibt die Schriftstellerin Francesca Wade in ihrem instruktiven Vorwort, hatte Taubes „die alltägliche Annahme, dass der Mensch ein Selbst, eine Seele oder irgendeine Art von Kern besitzt, mit dem er geboren wird und den er von der Wiege bis zur Bahre mit sich trägt, infrage gestellt.“ Taubes’ Zerrissenheit zwischen ihrer ungarischen Kindheit, der Flucht und dem Leben mit ihrem Vater in New York, ihren Wünschen und den äußeren Ansprüchen an sie als Frau, all das ging in „Klage um Julia“ ein. Auch ihre Affinität zur Religion spielt eine Rolle (Susan Taubes’ Großvater war Großrabbiner in Budapest, ihr Mann Jacob Taubes tief religiös). Sie stand im Widerspruch zu ihrer säkularen Intellektualität.

All diese Widersprüche sind in ihren Roman und ihre Erzählungen eingegangen. Ihre Protagonistinnen sind zwar Opfer der patriarchalen Gesellschaft, lassen sich aber nicht darauf reduzieren. Die universellen, über die Geschlechterrollen hinausgehenden Eigenschaften ihrer Figuren, die gleichzeitig die individuelle Situation der Frau nicht verraten, machen ihren Roman und ihre Erzählungen dabei so interessant.

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