„Menschen der Erde“ von Michael Wein: Ein Buch auf der Suche nach der verlorenen Identität
Der Versuch, Indigenen ihre Würde wiederzugeben: Michael Weins zeichnet im Roman „Menschen der Erde“ Adoption und Rückkehr einer Mapuche nach.
Sie weiß, was sie zu tun hat: die fremde Frau, die ihre Mutter werden wird, auch wenn sie schon eine Mutter hat, fest an die Hand nehmen. Ihr dann das Kinderheim zeigen, in dem sie noch wohnt; das Kinderheim für 'unbrauchbare Kinder’, wie sie es selbst für sich nennt.
'Wingka’, so bezeichnen die Mapuche diese blassen, hellhäutigen und oftmals blonden Frauen, die alles richtig machen wollen, woran sie selbst am meisten zweifeln. Flora ist gerade mal fünf Jahre alt, ihr schwarzes, dichtes Haar haben die Erzieherinnen zu Zöpfen geflochten. Man hat sie zur Feier des Tages in ein rotes Kleid gesteckt.
Bald wird sie auf der anderen Seite des Ozeans in einem großen Haus wohnen, mit einem großen Garten. Dicke Wolken drücken oftmals auf das Land. Sie hat Fotos davon gesehen, auch von dem groß gewachsenen, dünnen Mann, der nicht mitgekommen ist und der in einer Stadt namens Hamburg auf sie wartet: auf seine Frau Lena und auf Flora, die seine Tochter werden soll.
Eines aber weiß er nicht und wissen all die anderen Erwachsenen ebenso wenig: Nicht die Frau hat sich Flora ausgesucht, sondern Flora hat sich die Frau ausgesucht. Es ist überhaupt oft alles anders, als man denkt, und das hat jeweils Folgen.
Michael Weins: Menschen der Erde. Minimal Trash Art Verlag, 362 S., 22 Euro. Lesung am 16. 1., 19.30 Uhr, Hamburg, Buchhandlung Blattgold, Wexstr. 28
„Menschen der Erde“ ist der neue Roman des Hamburger Schriftstellers Michael Weins. Es ist das Jahr 2003, als wir dazukommen, es ist das Jahr 2015, als wir dabei sind, wenn Flora, noch keine 18 Jahre alt, nach Chile zurückkehrt, und sich auf die Suche nach ihren Wurzeln macht, und dazwischen öffnet sich mehr als eine Welt.
„Ich wurde Zeuge einer Adoptionsgeschichte, mich hat zugleich generell Elternschaft interessiert; allein, von welchen Zufällen es abhängt, ob man Eltern werden kann oder nicht“, erzählt Michael Weins. „Und ich kam in Berührung mit einem Mapuche-Kind, ich kannte das nicht – und ich fand das interessant.“
Er liest sich ein, er hört sich um. Erfährt mehr und mehr über die Mapuche, die größte indigene Gruppe Chiles, die bis heute im mittleren Süden des Landes leben und die immer wieder neu um ihre Souveränität ringen. „Es ist ein Volk, das von den Spaniern nicht zu kolonialisieren war, weil es sich lokal organisierte und daher keine Anführer hatte, die man ausschalten konnte. Nicht mal eine Hauptstadt, die man hätte niederbrennen können, gab es, wie das bei den Inkas oder den Azteken so folgenreich geschehen ist“, sagt Weins. „In meinem Comic-Gehirn war das so eine Asterix-Geschichte, und ich dachte an ein trotziges, widerspenstiges Mädchen, und damit hatte ich meine Protagonistin.“
In Fahrt kommt der Roman, als Weins in einem halb öffentlichen Rahmen aus dem entstehenden Manuskript vorliest. Es öffnen sich Kontakte in das Mapuche-Netzwerk und damit nach Chile. Bald hat er AnsprechpartnerInnen, er reist nach Chile und schaut sich die Mapuche-Region an. „Manche Beobachtungen sind relativ direkt eingeflossen“, erzählt er. Etwa ein Besuch in der ehemaligen 'Colonia Dignidad’, immer wieder wurden dorthin auch Mapuche-Kinder geraubt.
Zugleich führt uns sein Roman mit ebenso viel Verve und tiefer Kenntnis in unsere deutsche Gegenwärtigkeit: Da ist Floras Mutter Lena, die sich so sehr ein Kind gewünscht hat, das nun ganz anders ist und noch mehr anders werden wird als gedacht, dabei hat sie von Anfang an mit dem Schlimmsten gerechnet und ist doch überrascht, als das eintrifft.
Da ist auch die Kindertherapeutin Frau Doktor Korthe, die erleben wird, wie sehr sich eigene Bedürftigkeit und professionelle Distanz im Wege stehen können; da ist Bodo, der lange so verhuschte wie verunsicherte Adoptivvater, der im entscheidenden Moment vielleicht deswegen genau das Richtige tut.
Althippie als wichtige Stütze
Und da ist vor allem der Nachbar Monti, der vordergründig verlorene, prekär lebende und schamanistisch-herumspukende sowie verwitwete Althippie mit seinem „Shamanic House of Wisdom“, der sich selbst einen Indigenen des Herzens nennt und der zugleich ob seiner robusten Menschenfreundlichkeit für die suchende Flora ein echter Halt werden wird. „Menschen sind ja komplex, und wenn ich mich als Autor ihnen öffnen kann, dann öffnen sie sich über die Zeit auch mir“, sagt Weins.
Ganz wunderbar kraftvoll wird das erzählt; mal getragen von punktgenauem, auch mal beißendem Spott, mal mit poetischer Eleganz, sodass sich von den verschiedenen Perspektiven her ein immer dichteres Netz spannt, in das man sich lesend gerne fallen lässt.
Michael Weins sagt: „Es ist ein Mix aus verschiedenen Strängen, die immer wieder zu dem zentralen Thema der Identität führen, und es ist übrigens auch eine Auseinandersetzung mit dem, was man früher einen 'Indianerroman’ genannt hätte.“ Auf dem Stand von heute und mit der Entschlossenheit, den anwesenden Personen je ihr Eigenleben zu gönnen.
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