: „Man erwartet von einer deutschen Regierung doch mehr“
Polen und Deutschland haben ihre gemeinsame Sprache verloren, sagt Krzysztof Ruchniewicz, Polens Beauftragter für die deutsch-polnischen Beziehungen. Mit Geld für die letzten NS-Opfer ließe sich das ändern
Interview Gabriele Lesser
taz: Herr Ruchniewicz, Sie sind seit Juni in Polen für die deutsch-polnische Beziehungen zuständig. Löschen Sie da überall Feuer? Ruft Premier Donald Tusk Sie an und bittet darum, dass Sie den Streit mit Kanzler Olaf Scholz schlichten?
Krzysztof Ruchniewicz: Nein, ich bin zwar sehr nah am politischen Geschehen, aber was Kanzler Scholz und Premier Tusk am Telefon besprechen, etwa nach dem Anruf von Scholz beim russischen Diktator Wladimir Putin, weiß ich natürlich auch nicht. Für uns ist es unverständlich, dass Scholz sich vor seinem Gespräch über den russischen Vernichtungskrieg in der Ukraine mit Verbündeten im Westen berät, Tusk aber erst im Nachhinein informiert. Wir sind Nachbarn der Ukraine. Hier sind schon mehrere fehlgeleitete Raketen reingeflogen. Wir sind Frontstaat.
taz: Dafür giftete Tusk nach der verheerenden Attacke auf ukrainische Strom- und Heizkraftwerke nur einen Tag nach dem Scholz-Putin-Gespräch, dass Telefondiplomatie Putin nicht stoppen werde.
Ruchniewicz: Ja, und dass Telefondiplomatie die tatsächliche Unterstützung der Ukraine durch den ganzen Westen nicht ersetzen könne. Aber da hat er doch recht, oder?
taz: Ja, natürlich. Aber der Ton macht den Unterschied. Tusk hat ja schon mehrere solcher Tweets auf der Plattform „X“ gepostet. Besser werden die deutsch-polnischen Beziehungen dadurch nicht.
Ruchniewicz: Das Problem liegt tiefer. Wir haben in den letzten acht Jahren, als die Nationalpopulisten in Polen regierten, unsere gemeinsame Sprache verloren. Wir reden aneinander vorbei und verstehen uns nicht mehr.
taz: Als Ende letzten Jahres die liberal-konservative Tusk-Koalition an die Macht kam, hofften viele auf einen Neustart in den Beziehungen der beiden Nachbarländer. Warum hat das nicht geklappt?
Ruchniewicz: Acht Jahre antideutsche Hetze in Polen hinterlassen ihre Spuren. Zumal auch Tusk immer wieder als angeblicher Verräter oder Nazi diffamiert wurde. Erst vor Kurzem hat PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński Premier Tusk wieder als „deutschen Agenten“ verleumdet. Zudem haben wir eine völlig neue Weltlage. Russland hat die Ukraine überfallen. Die sehr lange polnische Ostgrenze ist zugleich die Außengrenze von EU und Nato im Osten. Wir Polen müssen diese Grenze verteidigen. Das ist unsere Verantwortung als Nato-Staat. Denn es geht nicht mehr nur um unsere Sicherheit, sondern auch um die unserer Verbündeten im Westen. Eine Rückkehr zur deutsch-polnischen Diplomatie der Jahre 2007 bis 2015, als Tusk schon einmal Premier Polens war, ist unmöglich. Diese Zeit ist endgültig vorbei.
taz: Aber beide Seiten wollen doch den Neuanfang. Schon im Juli wurden die deutsch-polnischen Regierungskonsultationen mit fast allen deutschen und polnischen Ministern in Warschau abgehalten. Und dann?
Ruchniewicz: Zunächst sah alles gut aus. Der deutsch-polnische Aktionsplan, der da verabschiedet wurde, ist eine Art „To-do-Liste“ für die nächsten Jahre. Wir wollen vor allem in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung enger zusammenarbeiten, aber auch in der Wirtschaft, der Klimapolitik und im grenzüberschreitenden Verkehr. Außerdem sollen die letzten noch lebenden Opfer des NS-Terrors eine symbolische Entschädigung erhalten. Da waren sich alle einig. Aber dann scheiterte das Ganze am Geld.
taz: Den angeblich 200 Millionen Euro für die polnischen Opfer?
Ruchniewicz: Genau. Einen Tag vor dem Besuch der deutschen Regierung in Warschau publizierte eine deutsche Tageszeitung den Betrag. In Polen war man wie vor den Kopf gestoßen. Das war nicht miteinander abgesprochen. Die Summe war wohl von den Deutschen in den Vorgesprächen mal genannt worden, aber wir hatten sie nicht bestätigt.
taz: Weil sie zu klein ist?
Ruchniewicz: Es leben noch rund 60.000 polnische NS-Verfolgte. Das sind alles hochbetagte Menschen um die 90 Jahre. Diesen Menschen ist nicht zu vermitteln, wieso sie eine sehr viel niedrigere humanitäre Hilfe oder Rente bekommen sollen als die deutschen NS-Verfolgten. Polen sind keine Opfer zweiter Klasse.
taz: Was wäre denn aus polnischer Sicht eine akzeptable Summe?
Ruchniewicz: Ich bin kein Verhandlungsführer. Ich werde keine Zahlen nennen. Aber es wäre viel geholfen, wenn die Deutschen in größeren Zusammenhängen und möglichst konkreter denken würden.
taz: Können Sie ein Beispiel nennen?
Ruchniewicz: Ja: Wie viel wollen die Deutschen in welchem Zeitraum in die deutsch-polnische Sicherheit investieren? Wie viel Geld ist den Deutschen der Schutz der polnischen und damit der EU- und Nato-Ostgrenze wert? Welcher Betrag kann im Bundeshaushalt für die deutsch-polnische Energie- und Klimapolitik reserviert werden? Und sollte es nicht so sein, dass alle NS-Opfer – egal ob deutsche oder polnische – eine gleich hohe Opferrente erhalten?
taz: Da kommt ein sehr hoher Betrag zusammen. Ist das realistisch?
Ruchniewicz: Ja, aber wenn das auf EU-Ebene geht, dann erst recht bilateral. Nur müssten die Deutschen ein bisschen Tempo machen. Immerhin würde mit diesem großen Finanzpaket auch das leidige Reparations- und Entschädigungsthema abgeschlossen. Durch die langfristig angelegten Investitionen in die Sicherheit Polens und Deutschlands – ich meine jetzt Energie und Militär – kommt eine hohe Summe zusammen, die wir psychologisch brauchen. Nur eine hohe Summe ist in der Lage, die Bevölkerung auf beiden Seiten davon zu überzeugen, dass das Thema Reparationen und Entschädigungen über 80 Jahre nach Kriegsende endlich abgeschlossen ist.
57, ist Historiker und seit Juni 2024 Beauftragter des polnischen Außenministeriums für die deutsch-polnische Zusammenarbeit. Sein Partner auf deutscher Seite ist der SPD-Politiker Dietmar Nietan. Zuvor leitete Ruchniewicz zwanzig Jahre lang das Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien an der Universität Breslau in Niederschlesien.
taz: Aber ob das in Deutschland zu vermitteln ist? Was hat Energie- und Sicherheitspolitik mit Renten für NS-Opfer zu tun?
Ruchniewicz: Das große Finanzpaket würde Vergangenheit und Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen miteinander verschnüren. Man darf nicht vergessen, dass in Polen die von der PiS geforderte Reparationssumme in Höhe von 1,3 Billionen Euro sehr präsent ist. Auch die Mär von den Schecks in Höhe von jeweils 43.000 Euro, die der Bundeskanzler an jeden Polen und jede Polin verschicken würde (verbreitet in sozialen Medien in Polen; Anm. d.Red.), kursiert noch immer in der Gesellschaft. Was wir brauchen, ist nicht nur die Lösung dieses alten Konflikts, sondern auch ein neues Narrativ.
taz: Wie würde denn ein Narrativ für die Zukunft lauten?
Ruchniewicz: Wenn sich die Überzeugung durchsetzen würde, dass die Deutschen zwar nicht die von der PiS geforderten 1,3 Billionen Euro an Reparationen gezahlt haben, aber doch den noch lebenden NS-Opfern in Polen einen guten Lebensabend sichern und sehr viel in unsere gemeinsame Sicherheit investieren, hätten wir den Durchbruch geschafft. Dann könnten die Polen erneut Vertrauen zu den Deutschen fassen. Die hohe Summe würde zeigen, dass es den Deutschen wirklich ernst ist.
taz: Das klingt einleuchtend, aber genau dieser Neuanfang ist ja im Juli gescheitert. Und im Februar stehen in Deutschland Neuwahlen an. Macht es überhaupt Sinn, die Gespräche jetzt fortzusetzen?
Ruchniewicz: Ja, denn die Aufgaben, denen die Politiker sich stellen müssen, bleiben ja die gleichen. In den Ministerien befassen sich Beamte mit dem deutsch-polnischen Aktionsplan. Die können auch in der Zeit des Wahlkampfes konkrete Maßnahmen vorbereiten, die dann die neuen Minister umsetzen können. Der Neuanfang in den deutsch-polnischen Beziehungen muss kommen, egal ob das eine SPD- oder CDU-geführte Regierung sein wird. Die polnischen NS-Opfer sind hochbetagt. Sie können nicht länger warten.
taz: Was belastet die deutsch-polnischen Beziehungen derzeit am meisten?
Krzysztof Ruchniewicz, Beauftragter für deutsch-polnische Beziehungen
Ruchniewicz: Die Sicherheit, auch gerade im Zusammenhang mit dem russischen Krieg in der Ukraine. Da hat Deutschland durch seine zögerliche Haltung seit 2022 sehr viel Vertrauen verspielt. Auch wenn Kanzler Scholz immer wieder behauptet, dass Deutschland nach den USA an zweiter Stelle unter den Ukraine-Unterstützern steht, erwartet man von einer deutschen Regierung doch mehr. Da bricht mitten in Europa ein Krieg aus, und Berlin will 3.000 Helme schicken. Gut, da sind wir inzwischen weiter. Aber nur eine deutsche Brigade in Litauen aufzubauen ist für unsere Region zu wenig.
taz: Was ist mit der Asyl- und Migrationspolitik? Dass Tusk den EU-Migrationspakt unterlaufen will, hat in Berlin für ziemliche Aufregung gesorgt.
Ruchniewicz: Das stimmt. Das ist ein weiteres schwieriges Thema zwischen unseren Ländern. Allerdings war es Deutschland, das als Erstes Kontrollen an den EU-Binnengrenzen eingeführt und damit einseitig das EU-Grundrecht auf Freizügigkeit für polnische Bürger eingeschränkt hat. Das dauert nun schon über ein Jahr.
taz: Was hat in dieser verfahrenen Situation Priorität für die deutsch-polnischen Beziehungen?
Ruchniewicz: Es wird an allen Themen gleichzeitig gearbeitet – zumindest unterhalb der Ministerebene. Aber für mich persönlich hat die humanitäre Hilfe für die letzten noch lebenden NS-Opfer Priorität. Die könnte auch eine deutsche Minderheitsregierung mit den Stimmen der CDU/CSU durch den Bundestag bringen. Außerdem sollte das „Polen-Denkmal“ im Zentrum von Berlin, also das Denkmal für die im Zweiten Weltkriegs von NS-Deutschland ermordeten polnischen Staatsbürger, so schnell wie möglich fertig werden. Dann könnten dort noch einige polnische Zeitzeugen einen Kranz für ihre Angehörigen niederlegen, bevor die nächste Generation das Gedenken übernimmt.
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