Türkei und Israel nach Assad-Sturz: Begehrlichkeiten von Norden und Süden
Israel und die Türkei nutzen die Übergangszeit in Syrien, um ihr eigenes Staatsgebiet zu schützen – oder sogar zu erweitern.
Auch in Jerusalem war man von dem plötzlichen Fall des Regimes in Damaskus zunächst überrascht worden. Nun soll militärisch möglichst viel aus der Übergangsperiode herausgeholt werden, während die siegreiche Rebellenallianz mit einer geordneten Machtübergabe beschäftigt ist. Dazu zählt laut Israel die Vernichtung von Chemiewaffeneinrichtungen und Raketen, aber offenbar auch die Einnahme syrischen Gebietes in der seit 1974 demilitarisierten Pufferzone zwischen den beiden Ländern und darüber hinaus. Verteidigungsminister Israel Katz sprach von einer „sterilen Verteidigungszone“ im Süden Syriens.
Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete unter Berufung auf eine syrische Quelle am Dienstag, dass israelische Panzer bis zum Ort Qatana 25 Kilometer vor Damaskus vorgerückt seien. Die israelische Armee dementierte das, teilte aber mit, neben der Pufferzone „mehrere andere strategisch relevante Orte“ einzunehmen. Israelische Soldaten besetzten unter anderem die syrische Seite des Hermon-Berges. Das Massiv ist mit 2.814 Metern der höchste Punkt in der Region und strategisch bedeutend. Der Gipfel liegt etwa 50 Kilometer von Damaskus entfernt zwischen Syrien, dem Libanon und den israelisch besetzten Golanhöhen.
Am Montagabend hatte Netanjahu angekündigt, Israel sei dabei, „das Gesicht des Nahen Ostens zu verändern“. Tatsächlich wäre der Erfolg der syrischen Rebellen ohne die massive Schwächung der libanesischen Hisbollah-Miliz durch den Krieg mit Israel kaum möglich gewesen. Deren Kämpfer hatten das Assad-Regime seit Jahren gestützt.
Ein Name, der Angst macht
Dennoch ist offen, was eine möglicherweise islamistisch dominierte neue Regierung in Damaskus für Israel bedeuten könnte. Bereits der Kampfname des wichtigsten Rebellenführers Ahmad Hussein asch-Schara, genannt al-Jolani, verweist auf seine Herkunft von den Golanhöhen und lässt künftige Konflikte erahnen.
Israel hatte die syrischen Golanhöhen 1967 erobert und 1981 völkerrechtswidrig annektiert. Der Golan werde „auf ewig“ zu Israel gehören, bekräftigte Netanjahu am Montag. Bedrohungen an der Grenze werde er nicht akzeptieren. Die Einnahme syrischen Staatsgebietes nannte er eine vorübergehende Maßnahme, doch „vorübergehend“ war im Nahostkonflikt schon immer ein dehnbarer Begriff.
Jahrzehntelang galt die Besetzung des Westjordanlandes als vorübergehend, heute leben dort rund 700.000 israelische Siedler. Zudem ist noch nicht absehbar, wann die Lage in Syrien wieder berechenbar wird. Vertreter der an der Regierung beteiligten rechtsreligiösen Siedlerbewegung haben bereits ihre Unterstützung für eine neue Pufferzone auf syrischer Seite signalisiert.
International wurde das israelische Vorgehen scharf kritisiert, unter anderem von den Vereinten Nationen, Katar und Saudi-Arabien. Ändern dürfte dies kaum etwas. Diplomatischer Druck hat in dem seit 14 Monaten dauernden Gaza-Krieg wenig mehr bewirkt, als dass sich die israelische Führung zunehmend abgeschottet hat. Zudem dürften nicht wenige in der Regierung die Kontrolle über syrisches Gebiet als willkommene Verhandlungsmasse in der von Netanjahu angekündigten künftigen „guten Nachbarschaft“ betrachten.
Erdoğan, das Unschuldslamm
Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat in einer Rede vor der AKP-Fraktion im Parlament Israels Vorgehen scharf. verurteilt. Israel verletzte die bestehende Waffenstillstandslinie mit Syrien und habe offenbar vor, syrisches Territorium zu besetzen. Im Gegensatz dazu strebe die Türkei keine Ausweitung ihres Staatsgebietes nach Syrien an, versicherte Erdoğan. „Wir haben kein Auge auf das Gebiet eines anderen Landes geworfen“, sagte er. „Das Ziel unserer grenzüberschreitenden Militäreinsätze ist es lediglich, uns vor Terroranschlägen zu schützen.“
Bereits am Montag hatten türkische Fernsehsender gemeldet, dass die von der Türkei unterstützte „Syrische Nationale Armee“ (SNA) den strategisch wichtigen Ort Manbidsch in Nordsyrien eingenommen habe. Am Dienstag wurde das von der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte aus London bestätigt. Nach schweren Gefechten eroberten protürkische Milizen den 70.000 Einwohner Ort Manbidsch. Die kurdischen YPG-Milizen zogen sich aus der Stadt zurück.
Nach Angaben eines Sprechers der kurdischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien, würde die SNA-Miliz jetzt nachsetzen und versuchen eine Brücke über den Euphrat einzunehmen, von wo aus sie weiter auf die kurdische Stadt Kobane marschieren könnte. Die SNA würde aus der Luft von der türkischen Armee unterstützt. Kampfflugzeuge hätten mehrfach Kobane bombardiert.
Türkischer Präsident Erdogan
Manbidsch war die größte Stadt, die die kurdische YPG Miliz noch westlich des Euphrats kontrolliert hat. Seit Jahren hatte die türkische Armee und ihre verbündeten syrischen Milizen versucht, die von Kurden westlich des Euphrats kontrollierten Orte Tal Rifaat und Manbidsch zu erobern. Nach der Eroberung von Aleppo durch die HTS-Miliz flohen zunächst viele Kurden in Richtung östlich des Euphrats, so dass es der SNA-Miliz schnell gelang, Tal Rifaat einzunehmen – und nun auch Manbidsch.
Auch die Türkei will Puffer
Manbidsch war über Jahre der wichtigste Brückenkopf der kurdischen YPG Miliz auf der westlichen Seite des Euphrats. Ursprünglich wollten die Kurden von Manbidsch eine Verbindung zur westlichsten kurdischen Enklave Afrin herstelle. Nachdem die türkische Armee 2018 in Afrin einmarschiert war und praktisch die gesamte kurdische Bevölkerung vertrieben hatte, blieben nur noch ein paar kurdische Stadtteile in Aleppo und die Orte Tal Rifaat und Manbidsch. Erdoğan hat die Situation des Vormarschs der HTS nun erfolgreich genutzt, um alle kurdischen Siedlungen westlich des Euphrats einzunehmen.
Damit ist ein wichtiger Schritt, für das erklärte Ziel der türkischen Regierung erreicht, entlang der syrischen Grenze eine Pufferzone zur autonomen Zone der syrischen Kurden einzurichten. Ankara hält die syrische YPG-Miliz für einen Ableger der türkisch-kurdischen PKK, die vom Nordirak und Nordsyrien aus für einen unabhängigen kurdischen Staat kämpft.
Da im Nordirak in der kurdischen Autonomiezone die Barsani-Regierung eng mit der türkischen Regierung kooperiert und es selbst gerne sehen würde, wenn die PKK ihr Territorium verlassen würde, befürchtet die türkische Regierung, dass in Nordostsyrien ein so genannter „PKK-Staat“ entstehen könnte, was sie unbedingt verhindern will. Auch östlich des Euphrats hat die Türkei bereits einen Grenzstreifen besetzt. Ziel ist es jetzt, die gesamte Strecke entlang der Grenze bis zum Nordirak als 30 Kilometer tiefe Pufferzone zu errichten.
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