: Der vergessene Marktplatz der Sierra Nevada
Vier Tage durch den kolumbianischen Dschungel: Die „verlorene Stadt“ Ciudad Perdida ist nur mit der Hilfe Einheimischer zu erreichen. Auf dem Weg dorthin sollen TouristInnen nicht nur staunen – sondern die Geschichte einer geschundenen Region begreifen
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Von Karin Gabbert und Stefan Reinecke
Die Cocablätter schmecken muffig, nach alter Wäsche. Gekauft haben wir sie in einem indigenen Dorf, das nur aus ein paar Strohhütten besteht. Nach wenigen Minuten wird die Wange taub, wie beim Zahnarzt. Aber die Blätter helfen gegen die Müdigkeit, die schweren Beine, das Ziehen im Rücken, das Mattsein. Als würde man alle paar Minuten einen Espresso trinken.
Wir laufen seit acht Stunden durch den Dschungel im Norden Kolumbiens, auf dem Weg zu einer alten indigenen Stadt, der Ciudad Perdida. Sie liegt 1.200 Meter hoch. Knapp 60 Kilometer hin und zurück in dreieinhalb Tagen. Dies ist der zweite Tag. Es geht steil bergauf und bergab, heute 18 Kilometer über enge, schlammige Wege. Wir überqueren Bäche, Flüsse, laufen über Baumwurzeln, Geröll, Matsch. Oktober ist Regenzeit. Man muss aufpassen, dass man nicht fällt oder mit den Wanderschuhen im Schlamm stecken bleibt.
Manchmal kommen uns Indigene, Kogi, entgegen, in ihrer trotz des Schlamms meist blütenweißen Tracht. Oft führen sie bepackte Esel. Wir stützen uns auf unsere Wanderstöcke und steigen achtsam auf spitze Steine, versuchen Schlammlöcher und leuchtend grüne Haufen von Eselscheiße zu umgehen. Derweil hüpfen Kogi-Kinder elegant tänzelnd und barfuß an uns vorbei. Sie beachten uns nicht.
Der Weg, auf dem wir uns befinden, ist der einzige zur Ciudad Perdida, der verlorenen Stadt, jahrhundertelang verborgen im dichten Dschungel in der Sierra Nevada. Erst vor 50 Jahren wurde sie entdeckt, als ein Erdrutsch ihre Mauern freilegte. Das lockte zunächst Grabräuber an. Die Tairona, eine indigene Hochkultur, erbauten die Stadt 700 nach Christus. Sie gaben sie nach einem jahrzehntelangen Guerillakampf gegen die Spanier im 17. Jahrhundert auf.
Dann zogen sie tiefer in den Wald – wegen der von Spaniern eingeschleppten Krankheiten. Die Ciudad Perdida gilt neben Machu Picchu in Peru als eines der beeindruckendsten Monumente präkolumbianischer Kultur in Lateinamerika. Aber sie ist eben nur zu Fuß zu erreichen. Und mit Führern. Die Indigenen wollen keine Wanderer, die durch ihre kleinen Dörfer und Gärten laufen.
Der Weg durch den Dschungel ist spektakulär. Von den Höhen der Sierra Nevada stürzt der Buritaca-Fluss ein paar tausend Meter tief in die Karibik. Am Fluss kann hoch oben die weißen Gipfel des Pico Colón und des Pico Bolívar sehen, sie liegen auf fast 5.800 Metern, die einzigen Gletscher in den Tropen. Bei klarem Wetter scheinen sie zum Greifen nah.
Straßen von Blattschneiderameisen, die eher wie Käfer aussehen, kreuzen unseren Weg, die Schmetterlinge sind groß wie Vögel. Leise ist es nie. Irgendwo sind immer krachende Wasserfälle, Donnergrollen, zirpende Grillen oder eine herannahende Regenfront zu hören. In der Ferne brüllen Affen oder es kreischt, auch das, eine Motorsäge. Der Dschungel ist nicht menschenleer. Er ist dünn besiedelt mit kleinen Dörfern, in denen Hunde, Katzen, kleine Schweine und Ziegen durch die Gegend laufen.
Jeden Morgen um 5 Uhr werden wir geweckt, um 6 geht es los. Spätestens um 17 Uhr müssen wir das nächste Lager erreicht haben. Dann wird es stockdunkel im Urwald. Ein Führer erzählt amüsiert von einem deutschen Ehepaar. Nach fünf Stunden Wanderung in extremer Hitze zum ersten Camp sagten sie: „Wir haben eine Million Pesos“ – das sind etwa 350 Euro – „für diese Tour bezahlt. Wir zahlen jedem zwei Millionen, der uns sofort wieder hier rausbringt.“
Abends im Lager prasseln Sturzbäche auf das Wellblechdach des Camps. Urwaldregen. Es gibt eiskalte Duschen, Etagenbetten mit durchgelegenen Matratzen und Moskitonetze. Die Führer haben für unsere Gruppe – ein Dutzend EuropäerInnen, ein paar KolumbianerInnen – Fisch und Reis gekocht. Alle sind müde, aber ein Programmpunkt steht uns noch bevor: Treffen mit einem Kogi. Das ist der Spirit dieser Tour. Wir sollen nicht nur staunen, sondern etwas begreifen über die Region, die Geschichte, ihre BewohnerInnen.
Fermín, ein hagerer Kogi-Anführer, sagt, für die Indigenen sei Ciudad Perdida der falsche Name. Bei ihnen heiße die Stadt Teyuna: Wiege der Völker der Erde. Nur die „jüngeren Geschwister“ hätten den Ort vergessen. So nennen die Kogi alle, die nicht wie sie von den Tairona abstammen.
Die Kogi, die „älteren Geschwister“, so Fermín, sorgten seit jeher für das Gleichgewicht der Welt, zum Beispiel an heiligen Stätten wie Teyuna. Die Gletscher des Pico Colón und des Pico Bolívar schmelzen langsam. Die Klimakrise ist für die Priester, die Mamos, ein Zeichen dafür, dass die Welt aus dem Gleichgewicht geraten ist. Fermín hat eine Botschaft für uns, die „jüngeren Geschwister“: Beutet die Natur nicht aus.
Währenddessen zerreibt er in einem kleinen hohlen Kürbis Muscheln mit einem Stab, den er ab und zu in den Mund nimmt. Das Kalkpulver verstärkt die Wirkung der Cocablätter, die er ohne Unterlass kaut. Es löst die Stoffe aus den Blättern. Mit Kokain aber hat das nichts zu tun. Indigene in der Sierra Nevada streifen schon seit mehr als tausend Jahren mit Cocablättern und dem Poporo, dem ausgehöhlten Kürbis, durch den Dschungel. Der Gebrauch von Coca ist streng geregelt. Nur Männer dürfen die Blätter kauen, die Frauen pflanzen und ernten.
Der Dschungel der Sierra Nevada ist kein unberührtes Land, im Gegenteil. Es ist eine geschundene Region. Nach den Grabräubern in den siebziger Jahren beherrschten Paramilitärs und die Farc-Guerilla die Gegend. Damals wurde im großen Stil Marihuana und Coca für die Kokainproduktion angebaut. Die USA setzten beim Krieg gegen die Drogen Entlaubungsgifte gegen Cocaplantagen ein und ruinierten ganze Landstriche. Die Schäden konnte man in dem feucht-dampfenden Dschungel noch Jahre später sehen.
Pedro Fernández ist 43 Jahre alt und arbeitet als Führer. Wandergruppen leiten darf nur, wer wie er aus der Sierra Nevada stammt. Fernández sagt: „Manche Freunde von mir haben sich früher bewaffneten Gruppen angeschlossen. Einige sind drogenabhängig geworden. Manche sind tot.“ Folgt man seinen Erzählungen, war es eine Mischung aus Zufall, Glück und Willen, dass er einen anderen Weg fand. Seine Familie wurde in der Zeit „der Gewalt“, dem brutalen Bürgerkrieg in den fünfziger Jahren, wie Hunderttausende von ihrem Land vertrieben. Sie floh in die Sierra Nevada. Als Fernández vier Jahre alt war, wurde sein Vater, ein Bauer, von den Farc getötet. Mit zehn verließ er seine Mutter, die eine neue Familie gegründet hatte, und musste arbeiten, um zu überleben. „Es ist schwer, ohne Vater aufzuwachsen. Du hast niemanden, der dich unterstützt. Die Vaterfiguren, die ich fand, wollten mich misshandeln, unterdrücken, demütigen.“
In den achtziger Jahren bekriegten sich zwei Familien beim Kampf um die Beute der Grabräuberei. Ein Mann namens Frankie Rey, ebenfalls Grabräuber, schlug sich auf die Seite der Behörden, half, den Kampf zu beenden und wurde zur Anlauffigur für die Archäologen, die die Ciudad Perdida freilegten.
„Frankie Rey hat mich gerettet“, sagt Pedro Fernández. Er wurde ihm zum Ersatzvater, zum Vorbild. Rey hatte eine Geschäftsidee, die weniger gefährlich schien als Grabräuberei: Tourismus. In gewisser Weise „leben wir heute in dieser Zone von diesem Tourismus“, sagt Fernández. Die Wandergruppen ernähren nicht nur Führer wie ihn. Es gibt Übersetzer, KöchInnen, Helfer, die die drei Camps im Dschungel in Schuss halten, Lebensmittel transportieren und Rucksäcke fußmüder Wanderer durch den Schlamm tragen.
Die Reiseagenturen geben einen – wenn auch kleinen – Beitrag an die indigenen Communitys weiter. Dieser Tourismus ist das Beste, was der Gegend passieren konnte. Auch wenn seit Corona nur noch halb so viele kommen wie vorher. Pedro Fernández und seine Frau haben beschlossen, wieder Reis und Bohnen anzubauen.
Am dritten Tag geht es frühmorgens endlich hinauf zur Ciudad Perdida. 1.200 Stufen führen auf das Plateau. Die glitschige, schräge, mitunter extrem steile Steintreppe ist eine Herausforderung – vor allem beim Abstieg. Aber es regnet nicht, immerhin. Die Ciudad Perdida ist heute eine Reihe von majestätischen ovalen Terrassen mitten im Dschungel. Der Himmel ist um neun Uhr morgens weit, der Blick von hier oben auf die Baumkronen überwältigend.
Pedro Fernández lehnt sich auf seinen Wanderstab und zeigt auf einen gewaltigen, etwa 1,50 Meter großen Stein. Der Stein zeigt ein konfus wirkendes Gewirr von Einkerbungen. „Dieser Stein ist eine Landkarte des Dschungels“, sagt er. Die Einkerbungen markieren Hunderte von Bächen, Wasserfällen, Tümpeln, Flüssen.
Die Älteren, erzählt Fernández, erklärten Jüngeren die Topografie anhand solcher Steine, die auch Siedlungen und Kultstätten verzeichneten. Wegweiser, wie man sich im Dschungel zurechtfindet. Die Tairona kannten keine Schrift. Teyuna war auch ein Ort der Wissensvermittlung. Es war Marktplatz, religiöse Kultstätte, politisches Forum. Bis zu 2.000 Tairona trafen sich hier jahrhundertelang. Ein indigenes Forum Romanum.
Weiter oberhalb der Ciudad Perdida gibt es im Dschungel der Sierra Nevada noch mehr heilige Orte. Aber wir wollen nicht, sagt Fermín, dass diese Orte betreten werden, auch nicht von ArchäologInnen. Der Goldschmuck, die Jade- und Quarzsteine und die rituellen Masken, die es in Teyuna gab, sind in Museen in Bogotá und Berlin oder in Millionärsvillen in Los Angeles oder Shanghai gelandet. Das soll nicht noch mal passieren.
Die Ciudad Perdida ist nicht nur ein Ziel für TouristInnen. Teyuna ist auch ein sakraler Ort. Im September sind die Terrassen für Wanderer gesperrt, weil sich die Indigenen, die hier noch immer halbnomadisch leben, wie in alten Zeiten versammeln. Um den Ort, wie Fermín sagt, von den schlechten Schwingungen zu reinigen, die wir, die „jüngeren Geschwister“, hinterlassen.
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