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ZwischenStilleundKnall

Mykolajiwka ist eine kleine Stadt im Osten der Ukraine. Wie funktioniert das Leben kurz vor der Front? Und wieso sind die, die noch hier sind, geblieben?

Olha Horodynska in ihrem Garten. Wenn keine Raketen fliegen, erntet sie hier ihr Obst

Aus Mykolajiwka Daniel Schulz (Text) und Viktoriia Horodynska (Fotos)

Olha Horodynska hört das Summen über sich, leise nur. Sie schaut nach oben, sucht den Himmel ab, der Mitte November noch immer klar und hell ist. Sie sieht den schwebenden Punkt über einem Haus. Der Punkt fliegt weg.

„Das war eine Kamikaze-Drohne“, sagt sie am Telefon zu ihrer Tochter Viktoriia. Eine davon ist neulich beim Kraftwerk explodiert, ein Feuerball auf dem Beton, eine andere haben Soldaten abgeschossen, mitten in der Stadt. „Die Drohnen sind neu“, sagt Olha Horodynska am Telefon, das Summen ist ein neues Geräusch, eine neue Gefahr.

Das Deuten der Töne, das Interpretieren von Wummern, Zischen, Knallen und nun eben auch Summen – in Mykolajiwka ist das so, als würden die Menschen übers Wetter reden. Sie horchen beim Einkaufen kurz auf oder wenn sie neben ihren Kindern am Klettergerüst stehen und sagen: Das ging raus. Oder: Das kam rein. Je nachdem, ob die ukrai­nische Armee auf die aus Russland geschossen hat oder umgekehrt.

Ohne die Klänge des Krieges ist es still. Zwischen den Häusern hallt ein mittleres Gewitter, wenn man nur mit der Schuhsohle über den Asphalt kratzt. Gehen die Menschen, nehmen sie ihre Gespräche mit, das Klappern des Geschirrs beim Abwasch, die Echos ihrer Schritte.

4.676 Ukrai­ne­r:in­nen leben noch in Mykolajiwka. 14.210 waren es einmal, 2022, vor Russlands Großangriff. Die Zahlen der Stadtverwaltung stimmen vielleicht nicht ganz, aber eines stimmt gewiss: Mykolajiwka in der Ostukrai­ne, Mykolajiwka, wo viele unter den sieben riesigen Schornsteinen eines Kraftwerks arbeiten, Mykolajiwka, die Stadt zwanzig Kilometer vor der Front, ist leer. Die Be­woh­ne­r:in­nen sind geflohen vor Russlands Raketen, Drohnen, Streubomben. Vor der dumpfen Wucht der Artillerie.

Mykolajiwka im Sommer 2024, es ist der vorletzte Sonnabend im August, der ukrainische Unabhängigkeitstag. Heute hat es bereits drei Mal geknallt.

15.12 Uhr

15.19 Uhr

15.27 Uhr

Zwei Stunden ist das her. Wir laufen zum Hund. Olha Horodynska, ihre Tochter Viktoriia und ich. Von Olha Horodynskas Wohnung in der ersten Etage eines Blocks geht es vorbei an einem Haus mit Holzplatten in den Fenstern und Löchern in den Mauern. Die Schule Nummer 3. Viktoriia hat hier gelernt – Lesen, Bruchrechnung, Ukrainisch. Heute lebt sie in Kyjiw. An diesem Tag Ende August ist sie mit mir zurückgekehrt. Wir fragen die Menschen in Mykolajiwka, wie sie hier leben, so nahe der Front. Warum sie noch hier sind.

Die Straße des Friedens. Mit ihren vier Spuren könnte sie durch eine Großstadt führen. Auf der anderen Seite liegen Gärten und darin einstöckige Häuser. Viele wurden, wie Olha Horodynskas Wohnblock und die Schule Nummer 3, in der Sowjetunion aus weißgrauen Steinen gemauert. In einem der Gärten, unter dem Vordach eines Schuppens, wohnt Archer, der Hund. Grau-blond ist er und blind. Oder vielleicht sieht er noch Schatten, das weiß außer ihm keiner. Archer gehört Olha Horodynska nicht. Er gehört gerade niemandem, seine Besitzerin ist weit weg im Westen. „Sie liebt den Hund“, sagt Olha Horodynska. „Aber ihren Mann liebt sie noch mehr, und der hat Krebs und ist deshalb in Deutschland.“

Olha Horodynska hat heute Morgen ein Huhn für Archer gekocht und das Fleisch mit Brot vermengt. Der Hund frisst, sie gibt den Tomaten Wasser, sie hält die Gießkanne wie eine Handtasche, am nach unten abgewinkelten Handgelenk, zwei Finger am Henkel. Es faucht am Himmel. Viktoriia und ich schauen mit Archer nach oben, blinde Hunde wie er. Zivilen Luftverkehr gibt es in der Ukraine nicht mehr. Ist es eine Rakete? Fliegt sie auf uns zu?

„Das ist eine F-16, eine von unseren“, sagt Olha Horodynska und setzt sich auf die Bank neben Archers Schuppen. „Das hört man doch.“ Woran denn, woran hört man das? Olha Horodysnka lacht. „Eine Rakete ist schneller als ein Jagdflugzeug. Wenn du zwei Jahre im Krieg gelebt hast, weißt du, wie das klingt.“

Sie schaut auf ihr Telefon. In die Telegram-Chats, in denen steht, was die Geräusche bedeuten. Zum Fauchen von eben hat noch niemand etwas geschrieben, dafür aber über die drei Explosionen vom Nachmittag: „Heute geriet der Ortsrand von Rajhorodok unter Beschuss: Ein Waldgebiet wurde getroffen, was zu einem Brand führte“, meldet der Chat „Mykolajiwka Online“. Acht bis neun Kilometer sind es von Mykolajiwka nach Rajhorodok. „Das war Streumunition“, kommentiert Din2 321vr. Streumunition – das sind mehrere kleine Sprengsätze in einem großen.

Olha Horodynska erzählt auf der Gartenbank, wie sie 1985 nach Mykolajiwka gekommen ist. 18 Jahre war sie da alt, 57 ist sie heute. Geboren wurde sie in Donezk, etwa 150 Kilometer südlich von hier. Die Großstadt ist seit 2014 von Soldaten aus Russland und mit ihnen verbündeten Milizen besetzt. Der Teil der Region, den die Ukraine kontrolliert, Mykolajiwka gehört dazu, trägt weiter den Namen Donezk. Olha Horodynska wollte gar nicht nach Mykolajiwka damals, „im Vergleich zu Donezk war das hier ein Dorf“. Aber der sowjetische Staat schickte die Menschen dorthin, wo er sie brauchte. Und die Sowjetunion brauchte eine Köchin für die Kantinen des Elektrizitätswerks, in dem hier seit Jahrzehnten die meisten Menschen arbeiten.

Nach 39 Jahren möchte Olha Horodynska nun nicht mehr weg aus Mykolajiwka. Jeden Tag fordern die Regierung und die regionale Verwaltung sie per SMS zum Gehen auf: „Sehr geehrte Einwohner der Region Donezk! Schützen Sie sich und Ihre Lieben! Lassen Sie sich evakuieren!“ Dazu Telefonnummern und Mailadressen, bei denen sich jeder melden soll, der hier noch wohnt. Olha Horodynska sagt: „Ich möchte nicht als Flüchtling mit anderen Leuten in deren Wohnung wohnen. Ich will keine Last sein.“

Sie war ja schon fort. Ein halbes Jahr hat es Olha Horodynska 2022 in Kyjiw ausgehalten. Sie wohnte bei ihren Töchtern, lebte deren Leben mit. Sie musste die Wege neu lernen und die U-Bahn-Stationen, sie fragte oft um Hilfe, fühlte sich an manchen Tagen wie ein Kind. Sie ist zurückgekommen.

In Mykolajiwka gehören vielen Menschen ihre Wohnungen – wie oft im Europa östlich von Deutschland. Hier zahlen sie keine Miete. Für etwas Neues im Westen fehlt ihnen das Geld. Wie Olha Horodynska haben die meisten hier einen Garten, das heißt: Obst und Gemüse. Olha Horodynska träumt davon, ihrer jüngeren Tochter Viktoriia eine Wohnung zu kaufen. So wie sie und ihr Mann es auch für die ältere Tochter Anya getan haben, bevor dieser Mann im Januar 2014 zum Arbeiten nach Russland ging und nicht zurückkam. „Wenn ich nur genug sparen kann“, sagt Olha Horodynska. Viktoriia verdreht die Augen.

1986, ein Jahr nachdem Olha Horodysnka nach Mykolajiwka gehen musste, explodierte Reaktorblock 4 im Atomkraftwerk Tschernobyl. Wieder schickte die Sowjetunion Olha Horodynska fort. In die verstrahlte Zone. Sie kochte für jene, die den Sarkophag um das zerstörte Kraftwerk bauten. Einen Monat nur, aber dieser Monat reicht bis heute. Sie bekam Kopfschmerzen, gegen die keine Tabletten halfen, sie fühlte sich zu schwach zum Arbeiten. Ärz­t:in­nen erkannten nicht, dass sie zu viel Strahlung abbekommen hatte. Oder wollten es nicht erkennen. Olha Horodynska trug Dokumente von Krankenhaus zu Krankenhaus. Als sie im Jahr 2000 als Tschernobyl-Geschädigte anerkannt wurde, existierte die Sowjetunion längst nicht mehr.

Olha Horodynska hustet beim Sprechen, ihre Stimme klingt, als müsste sie vor jedem Wort eine knarzende Holztreppe hinauflaufen. Die Strahlung hat die Schilddrüse geschädigt. Olha Horodynska fällt das Atmen schwer und das Sprechen auch. Sie hat ein offenes Gesicht, einen herausfordernden Blick, sie sieht alles und jeden mit vorgeschobenem Kinn an: Na, was willst du! Fest, aber nicht unfreundlich. Dieser Blick wird weich, wenn sie zu ihrer Tochter schaut, die neben ihr auf der Bank sitzt.

Viktoriia ist 2001 geboren. Anya kam lange vor ihr auf die Welt, 1987, im Jahr nach der Explosion in Tschernobyl. Viktoriia und ich kennen uns seit 2015, damals habe ich Mykolajiwka das erste Mal besucht. Sie ging noch in die Schule Nummer 3. Eltern aus Mykolajiwka hatten das Gebäude zusammen mit Freiwilligen aus Kyjiw wieder aufgebaut, nachdem es 2014 bei Kämpfen zerstört worden war. Seit Februar 2022 hat Russlands Armee die Schule Nummer 3 wieder getroffen. Zwei Mal.

Granate für Granate, Stein um Stein radiert Russlands Artillerie ukrainische Städte aus der Landschaft: Bachmut, Marjinka, Wuhledar. Mykolajiwka könnte es genauso gehen.

Abends blondiert Viktoriia ihrer Mutter im kleinen Badezimmer die Haare, und ein Mann aus Mykolajiwka fährt auf der breiten Straße des Friedens einem geparkten Auto hinten rein. Sein Wagen überschlägt sich, in dem geparkten Auto sitzen Soldaten. Die wohnen ebenfalls in Mykolajiwka, sie sind bei der Zählung der 4.676 aber nicht mitgemeint. Mit Sol­da­t:in­nen dürfen wir nicht sprechen – Verbot der Militärverwaltung, aus „Sicherheitsgründen“. Keine weitere Erklärung.

Manche der Menschen, die bleiben, wollen nicht zur Last fallen. Andere investieren in Mykolajiwka

Der Unfall geschieht kurz vor der Ausgangssperre um 21 Uhr. Die Be­woh­ne­r:in­nen der Stadt sind zu Hause und verhandeln den Crash auf Telegram. Die meisten verwenden Russisch als erste Sprache wie 2015, wenige schrei­ben auf Ukrainisch. „Ein betrunkener be­schissener Zivilist ist ohne Licht gefahren“, schimpft Nastya um 21.05 Uhr. „Die waren auch alle betrunken“, schreibt Anya um 2.25 Uhr über die zwei Soldaten im geparkten Auto. In den Stunden dazwischen streiten die Kom­men­ta­to­r:in­nen über die ukrainische Armee. Wer jetzt Uniform trage, sei bis vor Kurzem auch nur ein normaler Mensch gewesen, schreibt einer, Elektriker oder Mechaniker vielleicht. Sol­da­t:in­nen würden trinken und Zi­vi­lis­t:in­nen schlagen, behauptet eine andere. Die vom Militär und die Menschen, die schon länger in Mykolajiwka leben, führen bisweilen eine Misstrauensbeziehung.

In dieser Nacht feuert Russlands Armee eine Rakete in ein Hotel in Kramatorsk. Ein Mann stirbt. Er ist Brite und hat als Sicherheitsberater für die Nachrichtenagentur Reuters gearbeitet. Internationale Medien werden über diesen Angriff berichten. Wir spüren den Einschlag. Glauben wir. Um 22.36 Uhr wummert es und die Türen in Olha Horodynskas Wohnung wackeln. Kramatorsk ist über 20 Kilometer weit weg.

Danach ist es still. In einem Wohnblock mit so dünnen Wänden sollte das Leben der Nachbarn auch unser Leben sein. Fernsehen, Lachen, Sex – wir hören nichts. Es wohnt kaum noch jemand im Haus. Das macht Olha Horodynska Angst. Wenn niemand schießt, hört sie oft nur sich selbst. Bald darauf geht sie ins Bett. Später als elf wird es bei ihr nie. Dank Tschernobyl ist sie immer müde.

Sonntag. Es ist Sonntag? Habe er gar nicht gemerkt, sagt Serhii Kobernik. Am Sonntag hätte sein Laden nämlich geschlossen. Und der hat offen, also kann eigentlich gar nicht Sonntag sein. Nicht zu wissen, ob man morgen wieder aufwacht, ob das Haus nebenan noch steht, lässt die Zeit in laut und leise zerfallen, in gefährlich und ungefährlich, nicht in Montag und Dienstag, Sonnabend und Sonntag.

45 Jahre ist Serhii Kobernik alt. Er ist schmal geworden, seit wir uns 2015 das letzte Mal gesehen haben. Diabetes seit 2020, von 124 Kilo auf 80. Serhii Kobernik hat blaue Augen, starke helle Brauen und lächelt, als wüsste er ein Geheimnis. Als wir um 11.30 Uhr in seinen Laden kommen, lehnt er an einer Glastheke voller Batterien. In den Regalen türmen sich Kochtöpfe, Lampen, Tupperware. Serhii Kobernik gehören neben diesem Geschäft noch der Schawarma-Stand direkt nebenan, ein Taxi-Unternehmen und eine Werkstatt am Stadtrand. An einer zweiten baut er gerade. Elf Angestellte arbeiten für ihn. Aus einem Lautsprecher kommt russischer Pop, danach singt Louis Armstrong „Wonderful World“. Serhii Kobernik will nicht fotografiert werden. „Keine gute Zeit, um berühmt zu sein.“

Bei ihm kaufen sie alle, aber heute kommen nur Männer in sein Geschäft. Manche sind Freunde, möchten quatschen, einer erklärt Serhii Kobernik, wie er eine Klärgrube für seine neue Werkstatt baut. Andere wollen mehr von ihm, ziehen ihn aus dem Laden, flüstern erregt in sein Gesicht. Wenn einer weiß, was Russlands Großinvasion seit 2022 aus Mykolajiwka gemacht hat, dann er.

Preise und Verbrechen, sagt Serhii Kobernik. Die sind gewachsen. Die Preise steigen seit Russlands Angriff im ganzen Land. So nahe der Front wird es nochmal teurer. Er rechnet das vor: Eine Schachtel Zigaretten kostet in Slowjansk, 16 Kilometer westlich von hier, zwischen 90 und 95 Hrywnja, etwa 2 Euro. In Mykolajiwka sind es 100 Hryw­nja und noch näher an der Front 150 oder sogar 200. „Die letzten zwanzig Kilometer machen den größten Unterschied“, sagt Serhii Kobernik. Diese Unterschiede bedeuten in der Ukrai­ne etwas. Das Durchschnittsgehalt liegt bei etwa 430 Euro, viele verdienen weniger, bekommen kleine Renten.

Und die Verbrechen, ja die Verbrechen – um 13 Uhr öffnen zwei Polizisten die Tür zu Serhii Koberniks Laden. Sie zeigen ihm das Video einer Überwachungskamera. Einbruch in Schwarz-Weiß. Ein Mann steigt in ein Café ein, versucht ein Fass aus dem Weg zu räumen, zieht, hebt, drückt, fällt fast hintenüber. Er zieht seine Maske ab, seine Augen leuchten. „Das war in der vergangenen Nacht. Kennst du den?“ Serhii Kobernik schüttelt den Kopf. „Der hat Flip-Flops an“, sagt er. „Damit kann man doch total schwer laufen. Das war keiner von hier.“ Die Polizisten schicken ihm das Video auf sein Telefon, er soll es anderen zeigen.

„Seit der Invasion wird mehr geklaut und mehr eingebrochen“, sagt Serhii Kobernik. In die verlassenen Wohnungen, Keller und Garagen. Ihm sei Werkzeug im Wert von 700 Euro gestohlen worden. Das traut er nur Leuten aus Kyjiw zu, aus Dnipro, Leuten von weit weg jedenfalls. In Mykolajiwka steht ein graues Häuschen, in dem die zwei Polizisten sitzen, die Serhii Kobernik das Video gezeigt haben, und noch ein weiterer Kollege. Einbrüche habe es 2022 gegeben, sagt dieser Polizist. In diesem Jahr könne er sich an keine Anzeige erinnern. Serhii Kobernik hat kein großes Vertrauen in das, was die Polizei sagt.

Im Juli ist sein alter Laden abgebrannt. Ein paar Meter entfernt von dem Geschäft, in dem er heute arbeitet, stehen die verkohlten Reste. Eine Million Hrywnja, mehr als 20.000 Euro, habe er in jener Nacht verloren, sagt Serhii Kobernik. Ein Gerücht schwirrt durch die Stadt, die Besitzerin des Ladens nebenan habe ihr Schutzgeld nicht bezahlt. „Jeder weiß, wer es war, aber keiner tut etwas“, sagt Serhii Kobernik. Der Polizist, mit dem wir ­reden, sagt, in Mykolajiwka gebe es keine Schutzgelderpressung.

Die ukrainischen Soldaten von der nahen Front und die Leute aus Mykolajiwka, sie reden kaum miteinander

Nur dass hier getrunken wird – da sind sich die Polizei und Serhii Kobernik einig. In Frontnähe ist es verboten, Alkohol zu verkaufen, die Sol­da­t:in­nen sollen nüchtern bleiben. Die Armee kontrolliert die großen Straßen nach Mykolajiwka, aber nicht alle Feldwege. Im Büro des Paketdienstes Nowa Poschta haben Polizisten monatelang Kartons in die Hand genommen und geschüttelt, Bier-, Schnaps- und Weinflaschen beschlagnahmt. Seit einem halben Jahr sind sie nicht mehr genug Leute dafür. Die Armee braucht die Männer.

Ein Mann in Camouflage holt sich eine Speicherkarte für 180 Hrywnja bei Serhii Kobernik, die meisten wollen Batterien. Daran erkennt man die Soldaten, die schon länger hier sind. Die Neuen schaffen sich Lautsprecher, Rasierer, Lampen an. Wer überlebt, kauft Batterien.

70 Prozent seiner Kun­d:in­nen seien vom Militär, sagt Serhii Kobernik. An manchen Tagen macht er 200 Euro Umsatz. Er hat sein Sortiment angepasst. Er verkauft Lampen, die man sich über den Kopf ziehen kann. Ihr rotes Licht sollen die Soldaten auf der anderen Seite der Front mit ihren Nachtsichtgeräten nicht erkennen können.

Auch vor Serhii Koberniks Ladentür, auf dem Basar von Mykolajiwka, sind die meisten Käufer Soldaten. Sie und die Leute aus der Stadt reden kaum miteinander. Ist das immer so? Serhii Kobernik antwortet mit einer Geschichte: „Einmal hat ein Soldat sein Portemonnaie auf dem Basar verloren. Ich bin ihm hinterher, habe es ihm zurückgebracht.“ Ob er aus dem Westen der Ukraine sei, habe ihn der Soldat gefragt. „Er war überrascht, dass ich von hier bin und trotzdem ehrlich.“

Um 14 Uhr macht Serhii Kobernik den Laden zu. Wir fahren in seinem roten Transporter durch Mykolajiwka. Erinnerungsabgleich 2015/2024. Damals konnten Viktoriia und ich die zerstörten Häuser an einer Hand abzählen. Ein Riss ging durch die Mitte des langen Wohnblocks am Eingang zur Stadt. Ein Küchenschrank hing über dem Riss, die weißen Teller darin wollten nicht in die Leere fallen. Die Aussetzung der Schwerkraft, ein Stück Weltall auf der Erde war das, ein Wunder. Ein Ort, zu dem man Fremde führte. Seit 2022 hat Russland dieses Wunder in der ganzen Ukraine zehntausendfach kopiert.

Verbogene Rohre, zerbrochene Fenster, gesplitterte Balken. Wie Schlammspritzer ziehen sich die Spuren der Streumunition über Straßen und Wände. 34 Tote seit Februar 2022. 44 Verletzte. 635 beschädigte Häuser. Die Stadtverwaltung schickt uns Zahlen per Mail. Zahlen, mit denen wir begreifen wollen, welche Gewalt auf Mykolajiwka niedergeht. Wir zählen die Schüsse. Wir schreiben Uhrzeiten auf. Wir notieren, wenn der Donner grollt, ohne dass wir Blitze sehen: „Artillerie“. Wenn es blechern rattert: „Sturmgewehre“ – die ukrainischen Sol­da­t:in­nen trainieren Schießen.

Serhii Kobernik zeigt uns seine Bunker. Einen im Keller unter seinem Haus, eine Matratze, ein Ofen, das Rohr geht zum Kellerfenster raus. Einen anderen unter einem von Kletten bewachsenen Grundstück am Rande der Stadt. Er hat noch weitere solcher Höhlen. Er sagt, sie wären nutzlos. „2014, da konntest du noch in den Keller gehen, wenn geschossen wurde, aber jetzt haben die Russen zu viele und zu starke Waffen, die zerstören einfach alles.“

Warum ist er noch hier? Seine Frau lebt in Deutschland, seine zwei Töchter auch. Die ältere studiert an der Kunsthochschule in Halle an der Saale. Das Geld, um jemanden an der Grenze zu bestechen, hätte Serhii Kobernik doch sicher. Wenigstens in die Westukraine könnte er gehen. Er erzählt noch eine Geschichte. Ein Cafébesitzer im Westen des Landes habe einem Freund zu viel Geld abgeknöpft, weil er Russisch gesprochen habe statt Ukrainisch. Und Deutschland – er könne so viele Geschichten von Menschen erzählen, die dort depressiv würden. „Und warum? Weil sie nicht zu Hause sind.“ Serhii Kobernik will hier nicht nur nicht weg. Er investiert in Mykolajiwka.

Er baut eine neue Werkstatt. Wir gehen­ über das verwilderte Grundstück, unter dem sein zweiter Bunker liegt, auf die andere Straßenseite und stehen vor einem Loch. Das ist die Klärgrube, über die er heute Mittag im Laden mit einem Freund geredet hat. Dahinter Wände, Dach und Stützbalken aus rötlichem Holz, zwei Kuhlen im Boden. Hier werden seine Mechaniker unter die Autos kriechen.

Im Geschäft von Serhii Kobernik kaufen auch viele Soldaten ein

In seiner anderen Werkstatt arbeiten seit acht Uhr morgens zwei Brüder, 23 und 32 Jahre alt. Sie kommen aus der Großstadt Dnipro. 1979 zog ihr Vater aus der Usbekischen Sowjetrepublik dorthin, um in einer Gärtnerei zu arbeiten. Eine Migrationsgeschichte, die vorläufig hier endet, in Mykolajiwka, zwischen sieben grünen Autos der Armee und vier zivilen Wagen. Es knallt laut, Minuten später heult die Sirene. Serhii Kobernik lächelt, die zwei Brüder lächeln. Sie sagen: „In Dnipro ist der Luftalarm meist auch zu spät.“

Sechs Uhr abends. Wir sitzen auf einer Holzbank vor einem Kasten aus Blech. „Das ist der luxuriöseste Laden in Mykolajiwka“, sagt Serhii Kobernik. Drinnen liegen Meeresfrüchte in einer Kühltruhe. An der Theke erklärt die Verkäuferin einem jungen dünnen Soldaten, was der Unterschied zwischen zwei Beuteln mit Pelmeni ist: In einem ist mehr drin. Steht auch drauf. Er wird rot, sie lacht.

Serhii Kobernik beißt in einen Pfirsich und zeigt Fotos auf seinem Telefon. Er ist in den 1990ern aufgewachsen, der Zeit der hohen Arbeitslosigkeit, der Kriminalität, der Morde. Auf der Berufsschule hielt er es nur wenige Tage aus. „Damals musstest du Geld verdienen, sonst hattest du nichts zu essen“, sagt er. Er holte Melonen aus dem Süden und verkauft sie hier. Er hat nie eine Ausbildung gemacht, hat aber eine Menge Jobs. Als es im Frühjahr 2022 in Mykolajiwka kein Fleisch gab, fuhr er mit einem Freund knapp 100 Kilometer nach Nordwesten, holte 200 Hühner aus Isjum und schlachtete sie. „Wir haben in einer halben Stunde 70 Stück verkauft“, sagt Serhii Kobernik. „Wer kein Risiko eingeht, trinkt keinen Champagner.“

Am nächsten Tag schickt Russland 127 Raketen und 109 Drohnen in die Ukraine. Acht Stunden Alarm in Kyjiw. Tote im Norden, Süden, Osten und Westen. Getroffene Kraftwerke, abgeschalteter Strom. Über uns fliegt alles drüber. Um uns brennt die Welt. Der Beschuss der vergangenen Tage hat die Wälder auf allen Seiten der Stadt in Brand gesetzt. Wir sehen den Rauch. Vielleicht leben wir auf einer Insel.

Bei Telegram fragt Asya, ob das ihre Katze sein könnte auf einem der Fotos, die gestern Abend jemand hochgeladen hat. „Worüber sollen die Menschen hier sonst reden, wenn nicht über Katzen“, sagt Olha Horodynska und gießt die Pflanzen vor ihrem Küchenfenster. „Sollen sie verrückt werden?“

Wir fahren mit Oleksandr Sirotkin zur „Allee des Ruhmes“. Dreizehn Tafeln, dreizehn Gesichter, dreizehn tote Männer: Valeriy Ivanovych Kryvo­sheya, 1. 10. 1976 bis 24. 12. 2022, wohnte in Mykolajiwka. Serhiy Romanovych Pyschalka, 30. 7. 1997 bis 23. 4. 2022, ebenso. Die meisten kamen aus Dörfern in der Nähe. Oleksandr Sirotkin hat über dieses Denkmal geschimpft, in einem Video auf Instagram: „Wenn ich sterbe, würde ich mein Gesicht hier nicht sehen wollen.“

Oleksandr Sirotkin hat viele sterben sehen. Er wäre selbst oft fast gestorben, er hat das auf Video. Ein Mal rutscht er gerade noch in ein Erdloch, das sie für einen Generator ausgehoben haben. Die Explosion der Mörsergranate wirbelt Dreck vor seine Helmkamera. Der Krach quetscht sich durch den Lautsprecher des Smartphones, bleibt hängen, endet als Krächzen.

An vielen Stellen in Mykolajiwka hinterlässt der Krieg seine Spuren

Er hat den tödlichsten Job in der ukrainischen Armee: Pichota, Infanterie. Zwei Jahre und zwei Monate Schützengräben einnehmen, Schützengräben verteidigen. Oleksandr Sirotkins Rücken tut weh, weil er die kugelsichere Weste so oft getragen hat.

Wir laufen von seinem Jeep zu den Tafeln mit den dreizehn Gesichtern, ein jedes unterlegt mit der ukrainischen Flagge. Was regt ihn so auf? Dass das Denkmal neben dem großen Platz steht und nicht in der Mitte. Dass es keine große Statue gibt. Oleksandr Sirotkin redet laut: „Wenn die Leute in Mykolajiwka könnten, würden sie das Denkmal irgendwo hinter dem Krankenhaus verstecken.“ Das steht am Ende der Stadt.

Oleksandr Sirotkin ist 46 Jahre alt, wurde in Mykolajiwka geboren und wuchs hier auf. Schweißer hat er mal gelernt. Er sagt: „Ich kann dir ein Haus bauen, vom Fundament bis zum Dach.“ Über Oleksandr Sirotkins Gesicht laufen vier tiefe Furchen von Stirn und Kinn auf seine Nase zu. Falten haben sich in Stirn und Mund gegraben.

Bis 2022 hat Oleksandr Sirotkin mit seiner Familie in Mykolajiwka gelebt. Seitdem kämpft er im Osten der Ukraine. Seine Frau ist nach Deutschland geflohen, nach Ulm. Sie verkauft Kuchen in einer Bäckerei. Die drei minderjährigen Kinder leben bei ihr, 10 Jahre alt das eine, die Zwillinge sind 14. Mykolajiwka ist ihm fremd geworden. „Auf dem Basar wollen die Leute Geld verdienen, da sagen sie nichts Schlechtes über uns“, sagt Oleksandr Sirotkin. „Aber hinter deinem Rücken spucken sie aus, wenn du in Uniform unterwegs bist.“

Er ist noch hier, weil er Dokumente braucht, er verlässt die Armee für eine Weile. Wegen seiner Kinder darf er das, er will die Familie in Deutschland besuchen. Als er mit uns spricht, ist er kein Soldat mehr, oder jedenfalls nicht so richtig. So wie er das sieht, warten viele Leute in Mykolajiwka nur darauf, dass die Stadt besetzt wird. „Sie glauben nicht, dass sie gefoltert werden, wenn Russland kommt. Sie glauben, dass sie dann mehr Geld verdienen.“

Bevor Russland 2014 seinen Krieg mit der Ukraine begann, haben viele Männer aus Mykolajiwka Jobs in Russland angenommen – die Löhne waren dort höher. Der Mann von Olha Horodynska gehört dazu, viele von Vikto­riias Freun­d:in­nen wuchsen wie sie praktisch ohne Väter auf.„Ich habe dort auch acht oder neun Jahre lang gearbeitet“, sagt Oleksandr Sirotkin. „Lange Zeit war ich prorussisch.“ Dann habe er seine Frau kennen gelernt, ihre Familie, „intelligente Menschen“.

Oleksandr Sirotkin war bei der Infanterie. Jetzt verlässt er die Armee für eine Weile

Zwischen seinen Einsätzen im Schützengraben hat er die Accounts von Soldaten aus Russland im Internet gesucht und angerufen. Manchmal ist jemand rangegangen und sie haben geredet. Warum hat er das getan? „Ich wollte über sie lachen“, sagt er. „Sie sind dumm.“

Oleksandr Sirotkin sagt, er plane, sechs Monate in Deutschland zu bleiben und danach zurückzugehen, an die Front. Er sagt: „Ich kann meine Jungs nicht allein lassen.“

Mykolajiwka ist keine Insel.

Rakete am 8. September. Zwei Männer sterben.

Rakete am 23. September. Die Fenster in Serhii Koberniks Wohnung splittern, die Uhr fällt von der Wand. Er fängt sie auf.

Drohnen und Raketen am 7., am 13. und am 15. November. Eine Rakete trifft das Haus von Serhii Kobernik und verwandelt die Zimmer in kalte Müll­halden. Er zieht zu den Eltern seiner Frau und schläft dort auf dem Sofa, auf dem er im Februar 2022 das letzte Mal gemeinsam mit seiner Familie übernachtet hat. Mykolajiwka will Serhii Kobernik immer noch nicht verlassen. Er sagt, Sol­da­t:in­nen könnten ihn an einem Checkpoint anhalten und direkt an die Front schicken.

Olha Horodynska kümmert sich um ein weiteres Tier. Eine alte Frau ist in die Westukraine geflohen. Ihre Hündin hat sie dagelassen. Sie heißt Masha.

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