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Im Theater der Überschreitung

Die britische Performancegruppe Coum rührte an Tabus, die aus ihr entstandenen Throbbing Gristle erfanden Industrial Music. Ein Festival im Jugendwiderstandsmuseum in der Galiläakirche in Kreuzberg widmete sich ihrer Geschichte

Von Robert Mießner

„Zur Rinderauktionshalle“ heißt der kurze Abzweig am Wegesrand. Andere Seitenarme hinter der Storkower Straße werden wie aus einem Brecht’schen Lehrstück gerufen: „Zur Börse“, „Zur Marktflagge“. An der Grenze zu Friedrichshain liegt mitten in einer am Reißbrett modellierten Shopping- und Wohnanlage das Stahlskelett einer Schlachthofhalle. Die Straßennamen und das Relikt werden sich noch als passend erweisen, an diesem Freitagabend in Berlin, der ein Musik- und Filmfestival im Jugendwiderstandsmuseum in der Galiläakirche zu den Performance- und Musikgruppen Coum Transmissions und Throbbing Gristle beschließt.

Coum Transmissions inszenierten von Ende der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre ein Theater der Grausamkeit und Überschreitung, initiiert von einem Hippie, dem die Blumenseligkeit abhandengekommen war: Genesis P-Orridge, bürgerlich Neil Andrew Megson. Throbbing Gristle waren ein Trieb von Coum und erfanden Industrial Music, die böse große Schwester von Punk. In beiden Gruppen manifestierte sich jahrzehntelang das Verlangen, zwischen Kunst und Leben ein Gleichheitszeichen zu setzen.

Die Umsetzung machte dann die Differenzen kenntlich. Zumindest erahnen lassen sie „Other, Like Me“ von Marcus Werner Hed und Dan Fox und „S/He Is Still Her/e“ von David Charles Rodrigues, die beiden Filme, die am Freitagabend ein anfangs überzeugend minimalistisches, später geräuschhaltiges Konzert des Trios Contagious rahmen.

War der erste Abend der Throbbing-Gristle-Mitbegründerin Cosey Fanny Tutti gewidmet, steht der zweite unter dem Gottstern von Genesis P-Orridge, Stimme des Ganzen. Mit den Elektroniktüftlern Chris Carter und Peter „Sleazy“ Christopherson waren die „Zerstörer der Zivilisation“, wie die britische Boulevardpresse titelte, schon mal zu viert.

„Other, Like Me“ geht weiter und holt Mitstreiter in das Rampenlicht, die vorher dort weniger häufig zu sehen waren. Dann erzählt der Film noch einmal die Geschichte, wie Throbbing Gristle Ende der Siebzigerjahre in eine der am meisten abgeglittenen Ecken Londons zogen, nach Hackney, wo sie sich in der Portobello Road am Rande eines ehemaligen Pestackers wiederfanden. Orte machen Leute.

„S/He Is Still Her/e“, der Galiläa-Abend ist zugleich die Deutschlandpremiere des Films, trägt zurecht den Untertitel „The Official Genesis P-Orridge Documentary“. Ein Mensch, der sichtlich gelebt und einiges zu erzählen hat, sitzt einer Malerin Portrait und braucht Flüssigsauerstoff. Rückblenden, Kindheitsfotos, Mitschnitte von Aktionen und Konzerten, Erinnerungen von Weggefährtinnen und Zeitgenossen machen den Weg plausibel, der von einem frühen Interesse an Kunst und Okkultem zu Rock und elektronischer Musik führen.

P-Orridges Partnerschaft mit Cosey Fanny Tutti wie die Schlafzimmerpolitik von Throbbing Gristle und der Loge Thee Temple ov Psychick Youth kommen zur Sprache; Paula P-Orridge, Genesis P-Orridges Ehefrau bis in die frühen Neunzigerjahre, kommt zu Wort. Irgendwann fragt man sich, wo die inoffizielle Story bleibt. Übrigens wäre es für Throbbing Gristle das Schlimmste, was ihnen passieren könnte, sollten sie kommode Zeitgeistikonen werden. Das nonbinäre Pandrogynie-Projekt Breyer-P-Orridge wird ausführlich vorgestellt. Der Film zeigt, wie P-Orridge und seine zweite Ehefrau Lady Jaye nicht nur ein Herz und eine Seele sein, sondern sich auch körperlich ähneln wollen und sich dafür unter das Messer legen. Ihre Züge gleichen sich an und Genesis P-Orridge bekommt Brüste. Auf Lady Jayes Begräbnis sieht Genesis P-Orridge aus wie Brian Jones. Das ist berührend.

Dann ist es fünf vor Zwölf und das Kino im Kirchenschiff schließt. Draußen vor der Tür geht es rechts zum Viehhof, links zur Bahn, die die Kinder zum Tanz auf den Vulkan bringt. Am Bersarinplatz erhält der Berichterstatter zufällig die Nachricht, dass Laibach, im Plattenregal neben Throbbing Gristle, an einer Adaption von Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ mitwirken. Auch das muss nach Berlin.

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