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das portraitDie Türkei diskutiert über die Freilassung von PKK-Chef Abdullah Öcalan

Foto: Christoph Hardt/picture alliance

Jahrelang hatte man kaum noch etwas von ihm gehört. Nun entreißt ausgerechnet Devlet Bahçeli, Chef der rechtsradikalen und antikurdischen Partei MPH, Abdullah Öcalan der Vergessenheit. Öcalan, so Bahçeli, solle im Parlament dem Terror abschwören und erklären, dass die PKK aufgelöst werde, dann könne man ihn freilassen. Bahnt sich da womöglich eine Sensation an?

Öcalan gilt seit Jahrzehnten in der Türkei als Staatsfeind Nummer eins. 1978 gründete er die „Arbeiterpartei Kurdistans“, abgekürzt PKK, die mit Waffengewalt einen kurdischen Staat erkämpfen wollte und einen Guerillakrieg gegen die Türkei anführte. Als der türkische Staat die PKK in den 1990er Jahren mit großer Härte bekämpfte, starben Tausende, und viele kurdische Dörfer im Osten des Landes wurden entvölkert. Seit Öcalan 1999 in einer spektakulären Aktion in Kenia verhaftet wurde, sitzt der heute 75-Jährige in der Türkei auf der Gefängnisinsel İmralı eine lebenslange Freiheitsstrafe ab. Zeitweilig war er völlig isoliert. Mittlerweile darf er andere Häftlinge treffen, seit einigen Jahren auch seine Anwälte und Familienangehörige. Als historischer Führer der PKK wird Öcalan von vielen Kurden aber immer noch geradezu kultisch verehrt. Der heutige Präsident Recep Tayyip Erdoğan forderte in den Jahren von 2013 bis 2015 den inhaftierten Öcalan dazu auf, die PKK solle ihre Waffen niederlegen und dem Terror abschwören. Es gab damals Verhandlungen, und Vertretern der kurdischen Partei BDP (Vorgänger der heutigen DEM) wurde erlaubt, Öcalan auf İmralı zu besuchen. Damals schien Öcalan für die Aussicht auf eine Freilassung aus dem Gefängnis bereit, Erdoğan sehr weit entgegenzukommen. Letztlich scheiterte ein Deal aber an der massiven Ablehnung in der türkischen Gesellschaft, die bei den Wahlen im Juni 2015 zu massiven Stimmenverlusten für Erdoğan führte, weshalb er die Verhandlungen abbrechen ließ.

Jetzt wurden die Gespräche mit Öcalan offenbar wieder aufgenommen. Dahinter steht der dringende Wunsch des 70-jährigen Erdoğan, bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen 2028 eine neue Verfassung durchzuboxen. Erdoğan könnte dann womöglich lebenslang Präsident bleiben. Nach der aktuellen Verfassung dürfte er 2028 nicht noch einmal antreten, was er gerne ändern würde. Eine neue Verfassung könnte die Türkei außerdem von einem säkularen Staat in eine islamische Republik verwandeln.

Mit den rund 60 Stimmen der kurdischen DEM-Partei hätte Erdoğan genug Stimmen, um den Wählern eine neue Verfassung zu einem Referendum vorzulegen. Ob Abdullah Öcalan bereit ist, bei diesen taktischen Manövern mitzumachen, ist unklar. Niemand außerhalb eines sehr kleinen Kreises weiß, ob Öcalan – seit nunmehr 25 Jahren in quasi Isola­tionshaft – noch einen freien Willen hat oder nicht längst vom türkischen Geheimdienst beeinflusst wird. Vor nicht allzu langer Zeit hat er sogar einmal zur Wahl Erdoğans aufgerufen.

Würde Öcalan freigelassen und im Parlament reden, wie das Erdoğans Koalitionspartner Bahçeli jetzt anregte, dürfte das viele in der Türkei entrüsten. Würden beide den Kurden in einer neuen Verfassung zu sehr entgegenkommen, könnte das auch dazu führen, dass ein Referendum scheitert. Dennoch haben die beiden Co-Vorsitzenden der DEM-Partei erst einmal signalisiert, dass sie mitzuspielen bereit sind. Tülay Hatimoğulları, eine der beiden derzeitigen DEM-Vorsitzenden, forderte: „Hebt die Isolation auf, lasst Herrn Öcalan heraus und sprechen. Lasst uns sehen, was er zu sagen hat.“

Jürgen Gottschlich, Istanbul

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