Roman über Leben auf dem Dorf: Nicht da, aber dageblieben
Wie steht es um die westdeutsche Provinz? Nach den Autoren der Baseballschlägerjahre im Osten gibt nun Markus Thielemann Einblick ins Heideland.
Die Grenze ist wieder da. Diesen Eindruck gewinnt man zumindest, wenn man die Berichterstattung über die jüngsten Wahlen in Ostdeutschland verfolgt. Blau, blau, blau sind Sachsen, Thüringen, Brandenburg. Viel wurde geschrieben auch über die Jungwähler:innen und ihre Beziehung zu rechts außen.
Doch womöglich sind es gerade die Jüngeren, die mit ihrem Wahlverhalten die alte Mauer zwischen Ost und West zum Schwanken bringen. Noch im April kam die (durchaus kritikwürdige) Studie „Jugend in Deutschland“ zu dem Ergebnis, dass eine Mehrzahl der 14- bis 29-Jährigen in ganz Deutschland die AfD wählt – oder wählen würde, so sie schon dürfte.
Statt den größten Gegensatz in Ost- und Westdeutschland auszumachen, kam der diesjährige Kinder- und Jugendbericht zu einem anderen, wenig überraschenden Ergebnis: Die AfD ist besonders bei jungen Menschen mit niedrigem Bildungsstand und in ländlichen Gebieten beliebt.
Auch der Politologe Lukas Haffert warnt: Der Stadt-Land-Konflikt werde zum prägendsten Konflikt werden. In seinem Buch „Stadt, Land, Frust“ von 2022 belegt er, dass sich politische Einstellungen bei jungen Menschen in Stadt und Land stärker unterscheiden als noch bei früheren Generationen.
Markus Thielemann: „Von Norden rollt ein Donner“. C. H. Beck Verlag, München 2024, 287 Seiten, 23 Euro
Wie denkt also die Jugend auf dem Land? Eine Ahnung bekommt man davon im neuen Roman von Markus Thielemann. Der stellt in „Von Norden rollt ein Donner“ einen 19-jährigen Nachwuchsschäfer vor, der bei seinen Eltern auf einem Hof in der Lüneburger Heide lebt.
Typisch deutsches Stillleben
In nur wenigen Sätzen schafft es Thielemann ein so typisch deutsches Stillleben zu zeichnen, dass man die Schritte des Cellesche Zeitung lesenden Großvaters ganz deutlich auf dem Vinylfußboden quietschen hört.
Wie Jannes sein Mittagessen in einem der hölzernen Unterstände für Wandernde, im Herbst, im Regen, einnimmt, hat was Hoffnungsloses; während die Urlauber:innen längst wieder weg sind, hockt Jannes immer weiter im kargen Land.
Doch es gibt sie auch, die romantischen Momente, auf der sturmumtösten Heide Theodor Storms; wo brauende Nebel geistern umher, schwarz ist das Kraut und der Himmel so leer. Einsamkeit kennt der wortkarge Jannes nicht, doch die Sorge ist seit einiger Zeit sein ständiger Begleiter. Sorge wegen des Vaters, der immer häufiger Wichtiges vergisst – und wegen des Wolfs, der auch in der Heide wieder heimisch wird.
Jannes und seine Umgebung befinden sich zunehmend im (Kultur-)Kampfmodus. Auf einmal nehmen „die da oben“ Einfluss auf sein Leben. Es gibt keine Skinheads in der Südheide, keine „Wendeverlierer“, aber Angst gibt es, die sich langsam in Wut übersetzt. Denn der Wolf, den die Städter so gerne schützen wollen, da sind sich alle zwischen Unterlüß und Fassberg einig, gehört einfach nicht in die deutsche Kulturlandschaft.
Wolfsangel als Handyhintergrund
Auch der neue Nachbar Karl Röder findet im Diskurs schnell seinen Platz. Immerhin hat der die Wolfsangel bereits als Handyhintergrund eingestellt. Von Jannes darauf angesprochen, spielt er deren Bedeutung herunter. „Ein altes Zeichen für Widerstand und Kampf gegen die Bedrohung, Heimatschutz“, sagt Röder. „Passt aber ja auch heute sehr gut in die Zeit, wenn man sich mal umschaut in diesem Land.“ Er sei übrigens wegen des „Urwüchsigen“ in die Heidegegend gezogen.
Hier sieht alles ungewohnt aus? Stimmt, seit Dienstag, 15.10.2024, hat die taz im Netz einen rundum erneuerten Auftritt. Damit stärken wir, was die taz seit Jahrzehnten auszeichnet: Themen setzen und laut sein. Alles zum Relaunch von taz.de, der Idee dahinter und der Umsetzung konkret lesen Sie hier.
Man denkt jetzt an Björn Höcke, an Götz Kubitschek, die das Urdeutsche nur noch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR finden konnten. Doch die Südheide ist nicht Thüringen; irgendwer attackiert Röders Haus regelmäßig mit Farbe und von rechtem Gedankengut ist bei Jannes’ Freunden auch wenig zu merken.
Kein Vergleich also mit den literarischen Bestandsaufnahmen, die etwa Lukas Rietzschel, Daniel Schulz oder zuletzt Domenico Müllensiefen über das Aufwachsen in der ostdeutschen Provinz anstellten, wo rechtsradikal längst keine Protesthaltung mehr bezeichnet, sondern scheinbar alternativlos geworden ist.
Was die westdeutsche Provinz betrifft, steht Thielemanns Roman ziemlich allein da. Haben in der Vergangenheit Autoren wie Peter Kurzeck das Leben in Dorf und Kleinstadt minutiös vermessen, scheint das Landleben in den sogenannten alten Bundesländern heute nur noch auf wenig Interesse zu stoßen.
Ostdeutsches Dorfleben häufiger in der Literatur
Dabei fand das ostdeutsche Dorfleben in der Literatur zuletzt eher überproportional häufig statt. Juli Zeh, Saša Stanišić oder Lola Randl liefern quasi die Folgeerzählung zu den Romanen über die Baseballschlägerjahre. Oft hat darin eine Berlinerin genug vom Trubel der großen Stadt und sucht ihr Heil in Brandenburg. Das sie meist auch findet; neben rechtem Gedankengut zuhauf.
Es ist wohl eher diese Ausgangslage, die Interesse weckt; der Osten und seine Probleme, nicht unbedingt das Dorf an sich. Denn die Provinz taugt meist lediglich als Kontrastfolie zur Großstadt. Es braucht scheinbar den Städter, um vom Dorf polyphon im Bachtin’schen Sinne zu erzählen – oder denken hier nicht alle insgeheim das Gleiche?
Was Jannes denkt, ist nicht immer ganz klar. Das ganze Gerede um den Wolf jedenfalls geht ihm zunehmend auf die Nerven. Thielemann stellt es gut an, dass der Diskursraum, in den der Wolf und die Diskrepanz zwischen Stadt und Land eingebettet sind, nur im Kopf der Leserin aufgeschlossen wird und sich im Roman kaum politisch ausbuchstabiert.
Doch bloß, weil in der Südheide keine Flüchtlingsheime, sondern Osterfeuer brennen, ist die Region nicht frei von rechtem Gedankengut, das sich jedoch statt in scharfe Rhetorik eher in Tradition kleidet. So lässt Jannes’ Großvater auf den antisemitischen Heidedichter Hermann Löns nichts kommen, obwohl der in seinen Romanen – wie ihn eine Kamerafrau aus Hamburg belehrt – von „urdeutschen Heidebauern, die ausländisches Gesindel abschlachten“, schreibt.
NS-Bestseller neben dem Waffenschrank
Jenen Roman, den „Wehrwolf“ von 1910, der während der NS-Zeit zum Bestseller avancierte, hat auch Jannes’ Onkel im Keller, neben seinem Waffenschrank. Gelesen habe er den nicht, aber er „kenne eine Menge Leute, die würden unschöne Sachen machen für so Zeug aus der alten Zeit“. Der Onkel ist Bundeswehrsoldat.
Die Region, in der Jannes wohnt, ist politisch denkbar aufgeladen. Auf dem NS-Truppenübungsplatz sind heute Bundeswehrbataillone stationiert. Detonationen schallen vom benachbarten Rheinmetall-Gelände regelmäßig herüber. Auch ein KZ-Außenlager befand sich einst dort. Doch darüber, und auch über die Zwangsarbeiter:innen, die auf den Höfen schuften mussten, redet man heute nicht so gern.
Dabei hängt an einer der Zwangsarbeiterinnen ein Familiengeheimnis, dem Jannes durch Visionen auf die Spur kommt. Er trifft im Wald auf eine Heidehexe, die allerdings nichts Unheimliches tut, außer ihn anzustarren. Was soll sie auch sonst machen? Hexen gibt es nur im Märchen und bekanntlich fressen sie ausschließlich Kinder. Doch Jannes ist kein Kind mehr und vielleicht liegt hier auch das Problem.
Nicht nur sind seine Freunde entweder weggezogen oder ihm entfremdet. Auf einmal ist Jannes nicht bloß da, sondern dageblieben. Gemäß der Einteilung des britischen Autors David Goodhart, der zwischen „Anywheres“ und „Somewheres“ unterscheidet, also zwischen gebildeten, mobilen Kosmopoliten und den oft unfreiwillig an einem Ort Verbliebenen, gehört Jannes eindeutig zum zweiten Lager.
Es stimmt zwar, durch das Internet hat sich in jedem noch so kleinen Dorf ein Fenster zur Welt geöffnet. Doch die Sicht verschwimmt, das Fensterglas ist meistens schmutzig. Es sind auch die sozialen Medien, die den Jungen rechtes Gedankengut über Jahre in leicht konsumierbaren Häppchen gefüttert haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört