Nato-Chef Mark Rutte: Ölmännchen mit Teflonqualität

Mark Rutte wird Nato-Chef und hinterlässt in den Niederlanden einen Scherbenhaufen. Seinen Ruf hat er sich bei über 100 EU-Gipfeln erarbeitet.

Mark Rutte verlässt auf dem Fahrrad seinen ehemaligen Amtssitz

Mark Rutte auf dem Weg nach Brüssel: Radelnd verlässt er seinen alten Amtssitz in Den Haag Anfang Juli Foto: Remko de Waal/imago

AMSTERDAM taz | Fröhlich winkend trat Mark Rutte auf dem Fahrrad vor seinem bisherigen Amtssitz, der nun nicht mehr seiner ist, in die Pedale. In der Tür stand sein Nachfolger als niederländischer Premier, Dick Schoof, ebenfalls winkend. Natürlich hatte Rutte wieder dieses gewinnende Grinsen im Gesicht. Doch er hinterlässt einen Scherbenhaufen.

Natürlich erschienen zu seinem Abschied nach 14 Jahren an der Spitze der niederländischen Regierung auch Kommentare, die besagten, man würde ihn durchaus vermissen. Das hat schlicht damit zu tun, dass in Den Haag nun die rechtspopulistische Partei für die Freiheit (PVV) des Anti-Islam-Agitators Geert Wilders das Zepter schwingt. Doch an ihrem Erfolg trägt Rutte eine gehörige Mitschuld, und zu dem Unmut, der sie jetzt an die Macht brachte, trug er entscheidend bei.

Zum Ende seiner Amtszeit vertrauten Rutte laut Umfragen nur noch rund 20 Prozent der Bevölkerung. Früher schienen die Skandale an Rutte einfach abzuprallen, was ihm den Spitznamen „Teflon-Mark“ einbrachte. Doch in den letzten Jahren wurde er zur Personifizierung grassierender Politikverdrossenheit. Sein Grinsen überstand freilich auch dies.

Die nächste Bestimmung auf seiner Karriereroute ist nun, wie schon länger erwartet, Brüssel. Nato-Generalsekretär, dieser Posten liegt nicht unbedingt auf der Hand, wenn man die erheblichen Kürzungen im Verteidigungsetat der Niederlande zu Beginn der Rutte-Ära betrachtet. Oder die Nato-Vorgabe von mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die erst an Ruttes Ende ein konkretes Haushaltsziel und pünktlich zu seinem Abtreten erstmals erreicht wurde. Auch machte sich Rutte vor seiner Zeit als Premier keinen Namen auf außen- oder verteidigungspolitischem Terrain.

Rutte nahm an 111 EU-Gipfeln teil

Was den 57-Jährigen in der turbulenten aktuellen Situation für die Nato interessant macht, sind seine Erfahrung auf internationalem Parkett sowie die Reputation, die er sich im Lauf von unter anderem 111 EU-Gipfeln erarbeitet hat. Rutte gilt als Brückenbauer und Vermittler. Als „wesentlicher Bestandteil des Europäischen Rats und der EU-Entscheidungsfindung seit 2010“ rühmte ihn der ebenfalls scheidende Ratspräsident Charles Michel unlängst nach seinem letzten Gipfel.

Auf Niederländsch nennt man die Rolle, die Rutte in den letzten Jahren in Brüssel spielte, „oliemannetje´“ Ein „Ölmännchen“ hat in seinem Werkzeugkoffer Schmiermittel für Beziehungen, die ansonsten rostig werden und eintrocknen, ist pragmatisch, kompromissorientiert und zugänglich.

Ruttes unkomplizierte Jovialität kennen Regierungschefs ebenso wie Jour­na­lis­t*in­nen oder Menschen, die er auf der Straße oder bei Arbeitsbesuchen trifft. In all den Jahren als Premier unterrichtete er wöchentlich eine Stunde Gemeinschaftskunde an einer weiterführenden Schule in Den Haag.

Rutte in Den Haag und Rutte in Brüssel, der Bruchpilot und der Brückenbauer, das scheinen auf den ersten Blick zwei verschiedene Welten zu sein. Selbst die Wochenzeitung EW, die seiner liberal-rechten Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) in der Regel zugeneigt ist, nannte seine Art des Auftretens zum Abschied „ambivalent“ und schrieb: „Die wahre Art von Rutte ist selbst nach seiner langjährigen Amtszeit als Rekord-Premier nicht deutlich.“ Ist er am Ende eine Art von Prophet, der im eigenen Land nichts gilt?

Unbeliebt machten Rutte in den Niederlanden vor allem zwei Skandale: erstens die „Kindergeld-Affäre“, bei der Tausende Be­zie­he­r*in­nen von Leistungen zu Unrecht des Missbrauchs beschuldigt und mit horrenden Rückzahlungsforderungen in existenzielle Probleme getrieben wurden, und zweitens die fortgesetzte Erdgasförderung in der Pr1ovinz Groningen.

Obwohl sie zu zahlreichen Erdbeben führte, setzten sich Rutte-Kabinette über die Ängste der lokalen Bevölkerung hinweg und erhöhten gar die Fördermenge, bevor das Gasfeld schließlich geschlossen wurde.

Tiraden auch gegen Brüssel

Hinzu kommt Ruttes „kreatives Verhältnis“ zur Wahrheit. Mehrfach behauptete er, an die fragliche Situation „keine aktive Erinnerung“ mehr zu haben. Ambivalent war Rutte, der in einem reformiert-protestantischen Haushalt als jüngstes von sieben Geschwistern aufwuchs und vor seiner politischen Kar­riere als Manager beim Nahrungsmittel- und Kosmetik-Konzern Unilever tätig war, auch gegenüber dem Rechtspopulismus in seinem Land.

Einerseits ließ er sich 2010 zunächst von Geert Wilders’ Freiheitspartei (PVV) tolerieren, als er mit einer Minderheitsregierung erstmals Ministerpräsident wurde – und er Wilders erstmals salonfähig machte.

Andererseits hielt der Pakt keine zwei Jahre, und Rutte galt Wilders seither vielfach als Lieblingsfeind und Vertreter des Establishments. Nicht selten versuchte Rutte auch, Wilders mit markigen populistischen Ausfällen das Wasser abzugraben und sich als Mann des Volkes in Stellung zu bringen. Mit diesen unbeholfenen Versuchen erinnerte er zuweilen ein wenig an die junge Angela Merkel, die wie Rutte anfangs gerne unterschätzt wurde und sich die Hausmacht in der eigenen Partei erst erarbeiten musste.

Rutte richtete seine Tiraden gelegentlich auch gegen „Brüssel“ und die politische Integration Europas. In der Eurokrise war er ein knallharter Verfechter von Austerität gegenüber Griechenland, forderte strikte Haushaltsdisziplin von südeuropäischen Mitgliedsstaaten und sperrte sich lange gegen den Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens.

Noch während der Covid-Krise gehörte Rutte zu den „Sparsamen vier“, und verwehrte sich gemeinsam mit Österreich, Dänemark und Schweden dagegen, zum Wiederaufbau der EU-Volkswirtschaften Schulden aufzunehmen.

Beste Freunde: Rutte und Selenskyj

In Südeuropa wurde er deshalb oft als bockiger, geiziger Neinsager gesehen. Dabei hatte er dieses Image längst abgelegt. 2014, nach dem Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 über der Ostukraine, lernte er den Wert europäischer und internationaler Zusammenarbeit schätzen.

Als niederländischem ­Regierungschef fehlte ihm schlicht das Druckmittel, um gegenüber Moskau die Aufklärung zu fordern. Viele Be­ob­ach­te­r*in­nen sehen „MH17“ daher als Wendepunkt in Ruttes Auftreten auf internationalem Parkett. Während seiner live im Fernsehen ausgestrahlten Abschiedsrede nannte er den Abschuss das „einschneidendste und emotionalste Er­eignis“ seiner vier Amtszeiten.

In den Niederlanden, von wo 193 der 289 Opfer stammten, machte dies den politischen Diskurs zugleich besonders sensibel, was das russische Vorgehen in der Ukraine betraf. Auch deshalb beschlossen die Niederlande bereits im Frühjahr 2022 Panzerfahrzeuge an Kyjiw zu liefern. Inzwischen zählen sie zu den stärksten europäischen Befürwortern, der Ukraine auch F16-Kampfflugzeuge zur Verfügung zu stellen.

Das wiederum stärkte Ruttes Position in Osteuropa, als er sich für seinen neuen Posten an der Spitze der Nato in Stellung brachte. Kurz vor seinem Abschied aus Den Haag telefonierte er ein letztes Mal mit Kyjiw. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj machte später bekannt, er habe „seinem Freund Mark Rutte für alles gedankt, was er, seine Regierung und das niederländische Volk für die Ukraine getan haben“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.

Ihren Kommentar hier eingeben