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In der Not ganz ohne Beistand

Bei der Altersfeststellung haben junge Geflüchtete Anspruch auf wirksame rechtliche Hilfe. Sie wird ihnen jedoch meist vorenthalten. Durchs Oberverwaltungsgericht sieht sich Bremen jetzt veranlasst die menschenrechtswidrige Praxis zu ändern

Von Benno Schirrmeister

Bremen hat allein aus dem Ausland in der Stadt ankommenden Jugendlichen einen wirksamen Rechtsschutz verweigert – und das mindestens seit 2015. Das geht aus einem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 15. April hervor. Ausgangspunkt war eine vom Jugendamt veranlasste Altersfeststellung.

Bei dieser war dem jungen Mann, der angegeben hatte, im Frühjahr 2007 in Somalia geboren zu sein, weder eine Vertrauensperson noch eine rechtliche Vertretung gestellt worden. Möglicherweise hatte das Jugendamt ihm sogar mitgeteilt, dass ein Amtsvormund mit seiner rechtlichen Notversorgung betraut sei. Bloß der wurde darüber nicht informiert und konnte folglich nicht tätig werden.

Also begutachteten zwei Ju­gend­amts­mit­ar­bei­te­r*in­nen den von schwerer Krankheit und heftigen Nebenwirkungen eines verordneten Medikaments gezeichneten jungen Mann mit dessen tätiger Mitwirkung munter drauflos. Nach dieser „qualifizierten Inaugenscheinnahme“ war er dann 19 Jahre alt, also nicht mehr minderjährig für die deutschen Behörden.

Der Verfahrensfehler, befand dann der zweite OVG-Senat, sei in diesem Fall jedoch dadurch geheilt, dass der Ex-16-Jährige dem Bescheid förmlich hatte widersprechen können. In diesem Verfahren aber habe er dann ja einen Rechtsbeistand gehabt. Und was dessen frühere Einbindung „an echtem substanziellem Mehrwert“ hätte ergeben können, sei „nicht ersichtlich“. Eine Niederlage also für den Mandanten von Thorsten Müller. Zugleich, so der Anwalt, dürfte in Anbetracht dieses Beschlusses „in Bremen so ziemlich jede Altersfeststellung seit 2015 rechtswidrig gewesen sein.“

Das hat der Flüchtlingsrat noch zugespitzt: „Bremens Altersfestsetzungsverfahren gegenüber jungen Geflüchteten ist laut OVG Bremen menschenrechtswidrig“ lautet die Überschrift einer Pressemitteilung, und das hört man im Sozialressort ungern: „Die Darstellung ist ja offenkundig gegenstandslos“, so eine Sprecherin.

Tatsächlich hatte das OVG die Zweifel an der Alterszuschreibung an sich ja zurückgewiesen. Als unzureichend hatte es jedoch moniert, dass die rechtliche Notvertretung der Betroffenen in Bremen „nur auf dem Papier besteht“. Heißt: Zwar hat das Amt immer einen Zuständigen benannt und das angeblich auch den Schutzbefohlenen mitgeteilt. Nicht aber hat es die Vormunde darüber informiert, sodass die von sich aus schon mal nicht im Interesse ihrer Mündel aktiv werden konnten. „Und wenn sich ein Geflüchteter an die Amtsvormundschaft gewandt hat, dann war er da unbekannt und ist weggeschickt worden“, so Holger Dieckmann vom Flüchtlingsrat.

Insofern seien auch Jugendliche betroffen, deren Altersangaben nicht in Frage gestellt werden. Konflikte gibt’s genug: So hatte das Bremer Jugendamt in der Vergangenheit rechtswidrig das Taschengeld der Betroffenen gekürzt, mitunter waren Umverteilungen mithilfe von körperlichem Zwang wie der Fesselung per Handschellen durchgesetzt worden. „Ohne Notvertretung“, so Dieckmann, „sind die Jugendlichen den repressiven Maßnahmen des Jugendamts ausgeliefert“.

Zumindest gewesen. Denn auch in der Behörde hat man den Beschluss gar nicht so anders gedeutet als der Flüchtlingsrat. Keine zehn Tage nach Verkündung habe das Jugendamt „seine Verfahren angepasst“, so die Sprecherin der Senatorin. In einem Schreiben der Amtsleitung vom 24. April werden behördenintern „verbindliche Regelungen“ darüber verkündet, wie künftig das Referat Erstversorgung im Breitenweg das Referat Amtsvormundschaft auf der anderen Straßenseite im Rembertiring über dessen neue Fälle zu informieren hat.

So sollen Unbegleitete Minderjährige Ausländer (UMA), wie sie im Bremer Amtsjargon genannt werden, die Möglichkeit bekommen, sich am Verfahren zu beteiligen. Der OVG-Beschluss beziehe sich „zwar nur auf die Verfahren zur behördlichen Altersfeststellung“, er sei jedoch „analog auf alle Verfahren anzuwenden“, in denen es zur Kollision zwischen den Interessen des Jugendlichen und des Jugendamts kommen kann.

Auch in Hamburg besteht hier Regelungsbedarf. Ein standardisiertes Verfahren, wie UMA rechtzeitig vor der Altersfeststellung oder anderen Konflikten mit dem Jugendamt einen Rechtsbeistand bekommen, gibt es dort nicht. „Den Begriff Notvertretung“ – der juristisch einschlägig und alternativlos ist – „verwenden wir nicht“, so eine Sprecherin der Sozialsenatorin: Es spricht alles dafür, dass auch die Sache nicht existiert. So wie die Behörde es schildert, verwaltet alle Angelegenheiten allein der Fachdienst Flüchtlinge: Im Zweifel müsste er Maßnahmen gegen seine Klienten verhängen und zugleich, als dessen Rechtsbeistand, bekämpfen, weil sie dem persönlichen Interesse zuwiderlaufen.

Das geht natürlich nicht. Also fehlt der Beistand. Dabei hatte zuletzt 2022 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Anspruch auf einen „legal representative or guardian“ gerade in den Altersfeststellungsverfahren bestätigt. Die Mindestanforderung an den ist die einer „personellen und organisatorischen Trennung zwischen der Aufgabe der Notvertretung und der Aufgabe der vorläufigen Inobhutnahme“. In Hamburg, das geht aus der Antwort der Sozialbehörde auf die taz-Anfrage hervor, gibt es sie nicht.

„Damit dürfte in Bremen so ziemlich jede Altersfeststellung seit 2015 rechtswidrig gewesen sein“

Thorsten Müller, Rechtsanwalt

Viele junge Geflüchtete zieht es in die Stadtstaaten. Bremen und Hamburg fanden das 2015 zu teuer und haben deshalb via Bundesrat dafür gesorgt, dass auch Kinder und Jugendliche, bis dahin davor geschützt, nach Länderproporz umverteilt werden. Das hat sich nicht ausgezahlt: Zwar ist infolge der Neuregelung die Rechtsgrundlage dafür weggefallen, dass die übrigen Länder die überproportionale finanzielle Belastung der Stadtstaaten ausgleichen. Trotzdem kommen noch immer rund doppelt so viele junge Geflüchtete, wie der Länderschlüssel vorsieht, in die Freien Hansestädte, die sich durch Repression unattraktiv machen wollen.

Umso wichtiger ist ein wirksamer Rechtsschutz für die Betroffenen. Die Behörde habe „erkannt, dass sie etwas ändern muss“, lobt deshalb Dieckmann vom Bremer Flüchtlingsrat die Reaktion der Sozialbehörde: „Das ist gut.“ Allerdings misstraut er dem Rundschreiben. „Es ist sehr fraglich ob sich dadurch auch die Praxis ändern wird.“ Verbindlich mitgeteilt würden darin ja vor allem Termine, und ungeregelt bleibe, wie der Betroffene seine Notvertretung kennenlernt. „Um das zu gewährleisten, müsste eine konkrete Person benannt werden“, so Dieckmann. „Außerdem müsste es ein persönliches Treffen geben.“ Vorgesehen ist das nicht.

Bislang, so auch die Beobachtung von Anwalt Müller, „lässt sich keine Veränderung in der Verwaltungspraxis feststellen“. Gerade erst habe er einen neuen Fall reinbekommen – und im Bescheid, um den es geht, weise nichts darauf hin, dass die Notvertretung aktiv geworden sei. Der stammt vom 29. April, zwei Werktage, nachdem das Zirkular versandt wurde. Aber manchmal ist die Post in Bremen auch einfach länger unterwegs.

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