Zukunft der Freien Radios: Wer hört noch zu?
Schleswig-Holstein will die Radiofrequenzen digitalisieren. Das Freie Radio Fratz in Flensburg fürchtet, dadurch Hörer zu verlieren.
R adio ist ein unsichtbares Medium. Unsichtbar fliegt das Signal durch die Luft, vom Studio über Sendeantennen in die Empfangsgeräte in Küchen, Autos oder auf Baustellen. Und im Gegensatz zum Fernsehen kann man nicht sehen, wer ins Mikro spricht. Die Sendenden sind für die Hörer*innen unsichtbar – und andersrum.
Es gab aber diesen einen Moment, als sie bei Radio Fratz mitbekamen, dass die Leute sie hören. Wenn Chiara Boy, 33, und Stephan Peters, 36, aus dem Kernteam von Fratz davon erzählen, klingen sie ein bisschen wie stolze Eltern. „Plötzlich war Radio Fratz Stadtgespräch“, sagt Boy und zeigt auf Peters. Der zeigt zurück, lacht und kratzt sich am Kopf. „Das war richtig shitty, aber hat alles geklappt.“
Anfang 2021 gelingt ihnen ein Coup. Fratz berichtete live von der Räumung des besetzten Bahnhofswalds und war als einziges Medium die meiste Zeit vor Ort. „Live Demoberichterstattung machen in Flensburg nicht viele“, sagt Boy. Eigentlich sei es sogar ein Alleinstellungsmerkmal. Die Hörer*innenzahlen gingen durch die Decke, CDU und FDP warfen Fratz vor, sich mit der Sache der Besetzer*innen gemein gemacht zu haben, wollten dem Radio Geld entziehen – und scheiterten. „Das war die beste Werbung“, sagt Boy, „die Sternstunde von Fratz.“
Das Freie Radio Fratz sitzt mitten in der Flensburger Innenstadt, erster Stock, hohe Decken, ein paar Plakate, ein paar Sofas. Ein bisschen sieht Fratz so aus, als wäre es noch nicht ganz in seine Räume reingewachsen. Ein Regal ist nur zur Hälfte eingeräumt, in den Ecken stehen nicht aufgebaute Tische und Kisten mit Kabeln. Kein Wunder – es gibt Wichtigeres, und das läuft: die Studios stehen und Fratz ist auf Sendung, 24 Stunden, 7 Tage die Woche, seit Mai 2019 zuerst online im Livestream und wenige Monate später seit 18. Dezember des Jahres auf UKW.
Jetzt haben die Radiomacher*innen Angst um ihr junges Projekt, denn sie müssen sich auf einmal mit der Digitalisierung ihrer Sendefrequenz herumschlagen. Noch dieses Jahr sollen sie technisch aufrüsten, auf Digitalradio. Schleswig-Holstein will digitale „Hörfunkvorreiterregion“ werden, so steht es im Koalitionsvertrag. Das heißt: Die Verbreitung über die analoge Ultrakurzwelle (UKW) soll mittelfristig durch das „Digitale Audio Broadcasting“ (DAB+) abgelöst werden. Damit ist Schleswig-Holstein nicht alleine. Seit dem Jahr 2000 wird in Deutschland die Einführung von DAB+ vorangetrieben, das UKW irgendwann ersetzen soll. Noch läuft meist beides parallel.
Radio Fratz wird wohl spätestens 2027 auf UKW nicht mehr zu hören sein. Das Problem: Die meisten Hörer*innen schalten Fratz über UKW ein. „Alle, die ich kenne, hören so“, sagt Peters. „Wir sind nicht gegen DAB+, aber wir haben schlichtweg Angst, durch die Umstellung Hörer*innen zu verlieren.“
Noch zu früh für Abschaltung
So ganz unberechtigt ist diese Sorge nicht. Eine Studie aus dem vergangenen Jahr hat im Auftrag der bayerischen Landesregierung die Umstellung von UKW auf DAB+ in dem Bundesland untersucht. Sie kommt zu dem Schluss: um UKW abzuschalten, ist es noch zu früh.
Um Radio über DAB+ zu hören, braucht man ein Gerät, dass das kann. Obwohl Bayern in Sachen DAB+ Vorreiter ist – gut die Hälfte aller Haushalte hat dort ein DAB+-Gerät, in Schleswig-Holstein sind es 2023 erst 34,4 Prozent – hören immer noch ziemlich viele Menschen Radio über UKW. In 90 Prozent der Haushalte in Bayern gibt es mindestens ein UKW-Radio.
Seit Dezember 2020 wird DAB+ zwar in allen neu gebauten Autos verbaut, die Verkaufszahlen für DAB+-Radios steigen aber nur langsam. Das, sagt Bertold Heil, dessen Beratungsunternehmen die Studie über den bayerischen Radiomarkt erstellt hat, könnte auch daran liegen, dass sich vielen der Mehrwert eines DAB+-Radios nicht erschließt. „Warum soll ich für ein monofunktionales Gerät Geld ausgeben, wo ich mit meinem Smartphone etwas habe, womit ich alle Radioprogramme, die mich interessieren, streamen kann?“
Laut der Studie ist nicht davon auszugehen, dass alle Hörer*innen im Falle einer Abschaltung von UKW bewusst auf den Live-Stream ihres Senders schalten – den fast alle Radios mittlerweile anbieten – oder sich extra DAB+-Geräte anschaffen werden. Eine zu schnelle Abschaltung ist also ein Problem, weil das Radio dadurch Hörer*innen für immer verlieren kann. Bayern hat daher die Abschaltung von UKW erst mal ausgesetzt und setzt auf eine Parallelversorgung mit DAB+. Auch Sachsen-Anhalt diskutiert gerade eine Gesetzesänderung, die das für Ende 2025 geplante Auslaufen aller UKW-Lizenzen nochmal verschiebt.
Radio Fratz bezahlt die zuständige Landesmedienanstalt nur einen Ausspielweg. Das heißt, Radio Fratz muss sich entscheiden. Wenn sie jetzt ein Angebot für eine DAB+-Lizenz ausschlagen und an UKW festhalten, könne es sein, dass sie abseits des Livestreams irgendwann gar nicht mehr zu hören sind. Könnte es nicht für Radio Fratz die Lösung sein, ganz auf den Livestream zu setzen? Nicht wirklich, sagt Stephan Peters, der Stream von Fratz werde kaum genutzt. Das liegt vielleicht auch daran, dass Fratz die Mittel fehlen, um ihn stabil und benutzer*innenfreundlich zu programmieren. „So richtig Spielmöglichkeiten haben wir nicht“, sagt Chiara Boy.
Bei Radio Fratz haut die Diskussion über die Umstellung ganz schön rein. Seit Ende 2022 nehmen sie regelmäßig an Gesprächsrunden teil. Mit der Landesmedienanstalt, der Betreiberfirma Media Broadcast und den anderen Radios, den „Big Playern“, wie Stephan Peters sagt, diskutieren sie, wie der Umstieg aussehen kann. Außer Fratz gibt es in Schleswig-Holstein nur noch in Neumünster ein weiteres Freies Radio.
Basisdemokratisch und ehrenamtlich
Bei Fratz gibt es keine*n Chef*in. Alles wird basisdemokratisch entschieden, und zwar komplett ehrenamtlich. Das heißt Abrechnungen, Programmkoordination, Studios betreuen, Technik – alles. Dazu kommt jetzt die Umstellung, das sei eine ganze Stange Arbeit, sagt Boy. „Jetzt diskutieren wir in Plena zwei Stunden abends, ob wir DAB+ sinnvoll finden. Ich musste erst mal lernen: was zur Hölle ist DAB+?“
DAB+ ist ein digitales terrestrisches Radiosignal. Das heißt, wie bei UKW wird es in einem geographisch begrenzten Raum ausgestrahlt. Im Gegensatz zum Internetradio, über das man Sender aus der ganzen Welt zur Verfügung hat, egal, wo man sich befindet, hört man über DAB+ also nur Sender, die regional verfügbar sind. Während beim analogen UKW elektromagnetische Wellen durch die Luft fliegen, sind das beim digitalen DAB+ Einsen und Nullen.
Öffentlich-Rechtlich
Ob UKW oder DAB+: der Zugang zu terrestrischen Radiofrequenzen ist in Deutschland penibel geregelt. Lange war das Senden den öffentlich-rechtlichen Sendern vorbehalten. Vor 40 Jahren war dann Schluss mit diesem Monopol. Seit 1984 gibt es nach einer Gesetzesänderung auch den privaten Rundfunk in Deutschland.
Piraten
Wer vorher Abseitiges (oder Linksradikales) ins Radio bringen wollte, musste das illegal machen, als Piratensender. In den 1970ern und Anfang der 80er gab es davon in der BRD etliche. Viele entstanden aus dem Anspruch, eine linke Gegenöffentlichkeit zu bilden, Stimmen Gehör zu verschaffen, die sonst keins bekommen, unabhängig zu sein von Staat und Kapital.
Freie Radios
Als einziges linkes Piratenradio hat Radio Dreyeckland aus Freiburg bis heute überlebt. 1988 wurde es als erstes Freies Radio legalisiert. Nach dem Mauerfall gab es auch noch in der DDR Freie Radios. In den 1990ern sind dann viele weitere in Deutschland dazugekommen. Heute sind 33 im Bundesverband Freier Radios organisiert.
So richtig kann man nicht sehen, was sich im Falle der Umstellung auf DAB+ bei Radio Fratz ändern würde. Am nächsten kommt man der Sache vielleicht im Serverraum. Graublauer Teppichboden auf höchstens einem Quadratmeter, kein Fenster, viel Kabelsalat. Dazwischen steht auf dem Boden ein Computer, als hätte ihn gerade erst jemand so hingestellt, dahinter der Server. Es blinkt und brummt.
„Eigentlich müsste hier jetzt…“, sagt Chiara Boy, schiebt ein Kabel mit dem Fuß beiseite und verfolgt ein anderes mit den Fingern, bis sie beim Kopfhörer am anderen Ende rauskommt. „Ah ja, hier hört man, was on air ist“, sagt die 33-Jährige. Aus dem Kopfhörer kommt leise Techno. Das ist gerade live auf Fratz. Von hier wird das Audiosignal an die Sendeantenne geschickt.
Die steht im Westen der Stadt in einem Industriegebiet. Von da aus erreicht Fratz über UKW ungefähr hunderttausend Menschen. „Wir sind im Flensburger Stadtgebiet zu hören und 'n bisschen drüber hinaus, im Südosten bis Tastrup, im Südwesten bis Weiche, Richtung Süden bisschen weiter, aber Glücksburg im Norden wird nicht mehr erwischt“, sagt Stephan Peters. Manchmal würden dänische Sender ihre Frequenz überlappen oder andersrum. Das kommt vor bei UKW, solche Interferenzen führen dazu, dass das Signal kurz unterbrochen wird.
Mit DAB+ wäre dieses Problem Geschichte. Mit dem digitalen Signal können nämlich mehr Sender im gleichen Gebiet ausgestrahlt werden, ohne sich in die Quere zu kommen. Nicht der einzige Vorteil vom Digitalradio: DAB+-Sender verbrauchen weniger Energie, der Empfang ist besser und das Empfangsgebiet viel größer. Für Fratz hieße das: ungefähr 250.000 potentielle Hörer*innen mehr, runter nach Schleswig und hoch bis Sylt, mindestens.
„Klar, das ist schon cool“, sagt Stephan Peters, „aber wir sind ja kein Regional-, sondern ein Lokalradio. Hier stolpern die Leute rein, die wissen, wo wir sind.“ Es gehe beim Freien Radio nicht darum, möglichst viele Hörer*innen erreichen zu können. Fratz lebt eher von Leuten, die vorbeikommen und das Programm machen, und von der Verankerung in der Stadt. „Ich will gar nicht 30.000 an der Westküste erreichen, ich will Leute hier in Flensburg erreichen – und das ist schon schwer genug“, sagt Chiara Boy.
In der Tradition der Piratenradios
Freie Radios funktionieren anders. Anders als die Öffentlich-Rechtlichen, die möglichst breit informieren wollen, und auch anders als die Privaten, die sich über Werbung finanzieren.
Freie Radios senden heute legal auf eigenen Frequenzen, werden von den Landesmedienanstalten finanziert und sehen sich doch irgendwie in der Tradition illegaler linker Piratenradios der 1970er. Dazu gehört auch die Idee, das Machtverhältnis von Sender*in und Empfänger*in auf den Kopf zu stellen. Jede*r sollte Inhalte senden und empfangen können. Da kommt die Technik ins Spiel, denn über UKW geht das. Es ist gar nicht so schwer, sich selber einen Sender und Empfänger zu basteln. Ein DAB+-Radio kann man dagegen nicht einfach selber bauen. „Deswegen ist dieses DAB+-Ding für mich so befremdlich“, sagt Chiara Boy. Freies Radio sei für sie auch DIY-Kultur. Die Leute bei Fratz haben das Gefühl, dass die Diskussion um DAB+ an ihnen vorbeigeht. „Ich verstehe die Argumente, aber es sind nicht meine“, sagt Boy. „Du bist halt nicht Future“, sagt Stephan Peters, Boy lacht.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Aber ist DAB+ wirkliche Future? Das lineare Radio erreicht, Stand 2022, zwar noch gut 75 Prozent der über 14-Jährigen täglich und hat damit ein viel stabileres Publikum als das Fernsehen. Trotzdem geht es auch nicht am Radio vorbei, dass der Medienkonsum sich wandelt. Die Einschaltquoten sinken seit Jahren. Leute wollen zunehmend selber entscheiden, was sie wann hören, nicht mittendrin irgendwo reinschalten. Das Stichwort ist „On Demand“, der Trend ist längst beim Podcast angekommen.
Vielleicht ist es in Zukunft ein bisschen egal, auf welcher Welle das Programm zu den Hörer*innen kommt, und wichtiger, den neuen Hörbedürfnissen gerecht zu werden – eine Menge Aufgaben für ein junges Freies Radio.
Radio Fratz hat im Moment nur an Donnerstagen auf. Mehr können sie nicht leisten, weil alle Aktiven noch nebenbei arbeiten müssen. „Wir werden ausgebremst, weil wir nicht die Mittel haben“, sagt Peters. Ein von ihnen beauftragtes Gutachten der Universität Augsburg von 2022 kommt zu dem Schluss, dass Fratz eine Vollzeitstelle bezahlt werden muss, um langfristig den Sendebetrieb aufrecht erhalten zu können.
In der Zwischenzeit würden sie bei Radio Fratz versuchen, ein Auge darauf zu haben, dass Einzelne nicht zu viel arbeiten, sagt Chiara Boy. „Beim Ehrenamt ist die Gefahr, dass man sich verraucht“, sagt sie. „Wenn jemand überlastet ist, macht es irgendwann knartsch“, sagt Peters. Manchmal kämen sie aber auch in einen kollektiven Workflow. „Dann“, sagt Chiara Boy, „drehen wir alle zusammen frei, für Fratz.“
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