Ostdeutsche Friedensbewegung: Ein Pazifist war ich nie
Unser Autor wuchs in der DDR auf und wollte als Kind Offizier werden. Die Nato war der Feind. Hier erzählt er, wie sich das änderte.
Es kam selten vor, aber solche Momente gab es: Im November 1986 stimmten wohl fast alle DDR-Menschen einer Äußerung von Parteichef Erich Honecker zu. Er meinte, es müssten Wege gefunden werden, um taktische Raketen mit einer Reichweite unter 1.000 Kilometern von DDR-Territorium zu verbannen. Honecker tat nichts weniger, als Atomwaffen unterschiedslos als „Teufelszeug“ zu brandmarken.
Das war ein neuer Ton. Bislang hatte die SED-Propaganda strikt darauf geachtet, westliche Waffen als Angriffswaffen und östliche Waffen als Verteidigungswaffen zu kennzeichnen. Das lernte jedes Schulkind so: „Der Friede muss bewaffnet sein“, tönte es tagein, tagaus. Wer sich dagegen stellte oder auch nur den Unterschied zwischen sowjetischen und amerikanischen Waffen nivellierte, wurde schnell in die Ecke eines Staatsfeindes gerückt.
Ich muss immer wieder an dieses „Der Frieden muss bewaffnet sein“ denken, denn schon länger erscheint es mir unsinnig, dass der reichste Kontinent – Europa – und die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt – Deutschland – ihre Verteidigung fast vollständig in die Hände der USA gelegt haben. Ja, ich verstehe alle die US-Präsidenten, wenn sie ein größeres, auch finanzielles Engagement von Deutschland und Europa fordern.
Und mir wird schummrig vor Augen, wenn ich Demos in Deutschland sehe, auf denen die Nato als „Kriegstreiber“ verunglimpft wird. Für mich gehören solche Parolen zum Kampfarsenal des Kreml, nicht erst seit dem Februar 2022. Aber das war auch bei mir nicht immer so.
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Schrittweise Entfremdung vom System
Als Kind meldete ich mich, um Berufsoffizier in der DDR zu werden. Mit 14, 15 Jahren widerrief ich. Ich war damals kein Gegner des SED-Sozialismus. Nur mit der Armee hatte ich es nicht so. Jeder, der mich auch nur einigermaßen kannte, glaubte mir, dass es mit dem Gehorchen und Befehlen bei mir nicht so richtig klappen würde. Also nahm ich meinen Berufswunsch zurück.
Der Staat, die Schule, die Armee, die Stasi, die Partei, mein Vater entließen mich aber nicht so einfach, wie sie mich bereitwillig in den Kreis der Auserwählten für die Staatsverteidigung aufgenommen hatten.
Es dauerte etwa 18 Monate, bis man mir bescheinigte zu sein, was ich gar nicht sein wollte: Staatsfeind, weil ich mich mit der Sicherheits-, Militär- und Friedenspolitik der SED nicht mehr identifizierte. Nicht einmal das stimmte. Aber wo sollte ich mich in der Diktatur beschweren, als die ich die DDR nun mit 14, 15, 16 kennenlernte?
Im Beisein meiner Mutter erklärten mir Vertreter von Staat und Partei im Wehrkreiskommando Berlin-Köpenick Anfang 1983, dass meine Zukunft vorbei sei und ich über kurz oder lang wohl in Verwahranstalten des sozialistischen Vaterlandes landen würde. Meine Mutter war monatelang sprachlos. Mein Vater erstaunt über sein System. Und ich war wütend – viele Jahre lang.
Ich wollte die DDR Wolf Biermanns
Neue Freunde fingen mich auf und gaben mir Halt. Das waren fast alles junge Christinnen und Christen, die die DDR ohnehin längst anders erlebt hatten als ich bislang. Und es waren alles Pazifistinnen und Pazifisten. Ein solcher war ich nie, wurde ich nie. Meinem Vater sagte ich ins Gesicht, Revolutionen scheitern meist daran, dass Söhne nicht bereit sind, ihre Väter zu erschießen.
Ich aber wollte eine siegreiche Revolution gegen diesen Staat. Ich muss verrückt gewesen sein. Zu gern würde ich diesen Satz zurücknehmen. Allein: Er war in der Welt und bestimmte fortan mein Denken.
Aber ich war nicht gegen die DDR, ich wollte eine bessere DDR, eine, die die Menschenrechte achtet. Ich wollte eine DDR, von der Wolf Biermann träumte: „Die DDR auf Dauer, braucht weder Knast noch Mauer.“
Was für ein grandioser Irrtum, ein faszinierender, denn er ließ Leute wie mich weiterträumen. Ich hasste die Mauer, ich hasste die SED-Führung, ich hasste die SED-Geschichtspropaganda, ich hasste die Lügen, ich hasste fast alles. Aber ich hasste nicht genug, um die DDR komplett abzulehnen.
Ich war kein Held
Daher wollte ich auch nicht weg, daher ging ich Kompromisse ein, war kein Held. Ich war ein Feigling, der nicht radikal brach. In meiner Nische lebte ich und träumte davon, die Biermann-DDR zu erleben. Dafür ging ich Kompromisse ein, die ich mir heute nicht einmal selbst erklären kann.
Die existierende DDR bot mir etwas, das ich trotz meines Hasses auf den hochmilitarisierten Staat, die hochmilitarisierte Gesellschaft, den durchmilitarisierten Alltag, trotz meines Hasses auf den Krieg der SED gegen die eigene Gesellschaft nie infrage stellte: Die SED-Führung war ein Friedensgarant, ihre Außenpolitik Friedenspolitik. Daran zweifelte ich trotz aller Zweifel keinen Augenblick.
Als 1977 durchsickerte, dass die Sowjetunion Atomraketen in Reichweite der Nato-Staaten stationierte, kam es zum Nato-Doppelraketenbeschluss, den Bundeskanzler Helmut Schmidt selbst gegen die eigene Partei durchsetzte. Auch auf DDR-Gebiet stationierte Moskau SS-20-Raketen.
Ohne Kenntnis der Öffentlichkeit befanden sich dabei bereits seit 1959 Atomwaffen in der DDR. Das kleine Land war der wichtigste geopolitische Vorposten des Kreml. Es bildete eine militärstrategische Pufferzone und sollte bei einem möglichen Nato-Angriff als kurzzeitiger Rammbock dienen, bis sich das gewaltige Heer im Osten formiert hätte.
Unterwandert von Moskau
Viele junge Rekruten waren in der NVA erstaunt, als sie Angriffe auf West-Berlin, Bonn, München, Rotterdam oder andere westliche Städte üben mussten. War das die berühmte Nach-Vorne-Verteidigung? Warum übten die Warschauer-Pakt-Staaten Angriffe?
Es war kein Zufall. Seit 1972 arbeitete ein ranghoher polnischer Offizier, Oberst Ryszard Kukliński, für die CIA. Er übermittelte über 40.000 geheime Dokumente aus dem Führungsgremium des Warschauer Pakts. Die westlichen Analysten trauten ihren Augen nicht: Es waren Angriffspläne. All das blieb geheim bis 1989/90. So konnte auch im Westen, nicht zuletzt durch die unabhängige Friedensbewegung, weiter an der Mär gebastelt werden, die Nato sei ein Angriffsbündnis, der Warschauer Pakt hingegen lediglich ein Verteidigungsbündnis.
Wie schwer es Aktivisten aus der DDR hatten, die in der dortigen oppositionellen Friedens- und Menschenrechtsbewegung bis zu ihrer Ausbürgerung oder Ausreise engagiert waren, auf bundesdeutschen „Friedensdemos“ überhaupt gehört zu werden, um auch auf das Problem der sowjetischen Raketen hinzuweisen, ist hinlänglich bekannt – noch heute muss man das peinlich berührt zur Kenntnis nehmen. Ein Teil der Friedensbewegung im Westen war von Moskau und Ost-Berlin unterwandert – erfolgreich, sehr erfolgreich.
Denn die SED-Friedenspropaganda konnte in der DDR nur so erfolgreich sein, weil ein Großteil im Westen sie mittrug und so die Anerkennung der SED-Friedenspolitik über den Umweg bundesdeutsche Friedensbewegung und Medien in den Osten zurückkam. Wenn die Alternativen im Westen das so sehen, warum sollte ich das dann eigentlich anders sehen?
Alle waren sich einig: Abrüstung
Es ging nicht nur mir so. Fast allen steckte die Angst vor einem Atomkrieg Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre noch in den Knochen.
Am 19. Februar 1990 kam es am Zentralen Runden Tisch, wo DDR-Regierung, Altparteien und Opposition über die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit stritten und den Weg zu den ersten demokratischen Wahlen bahnten, zu einem ganz unspektakulären Mehrheitsbeschluss. Das vereinte Deutschland solle keinesfalls Mitglied der Nato werden.
Alle politischen Kräfte von Ost-CDU über Ost-SPD bis hin zum Neuen Forum waren sich im Frühjahr 1990 einig: Frieden könne nur durch Abrüstung, Entmilitarisierung, Auflösung der Militärblöcke einschließlich Auflösung der Nato garantiert werden. Auch der Koalitionsvertrag der ersten freien Regierung im April 1990 bekannte sich zur Auflösung der Militärblöcke.
Es kam anders. Das Weiße Haus dachte gar nicht daran, die Bundesrepublik aus der Nato zu entlassen – in der Kohl-Regierung dachte daran auch niemand ernsthaft. Noch lange jedoch lebte im Osten die Annahme fort, die Nato sei ein Angriffs-, kein Verteidigungsbündnis. Diejenigen im Osten, die sich wie ich im Laufe der frühen 1990er Jahre von dieser Annahme lösten, waren im Osten nicht gerade mit vielen Freunden in dieser Frage umgeben.
Ich wechselte die Fronten
Was dazu beitrug? Noch Anfang Januar 1991 gehörte ich zu den Demonstranten, die gegen den UNO-Einsatz im zweiten Irak-Krieg waren. Ich hatte keine Angst. Aber ich sah in den USA nun genau jenen Welt-Gendarm, vor dem immer alle gewarnt hatten. Doch dann wurde mir gewahr, nicht zuletzt durch den berühmten Essay von Wolf Biermann, dass der Irak die Existenz des Staates Israel direkt bedrohte. Also wechselte ich „die Fronten“.
Vor allem die Kriege um das zerfallene Jugoslawien ließen mich zum Befürworter aktiver Kampfmaßnahmen der Nato und Deutschlands werden. Diese Forderung unterstützte ich ab 1994 und war damit 1999, als es zu diesen Einsätzen kam, auch in meiner engsten Freundesblase nicht gerade in der Mehrheit.
Als Mensch mit ukrainischen Wurzeln zählte ich nicht nur ab 2008 zu den Unterstützern der Forderung, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Ich war ab dieser Zeit auch dafür, sie massiv mit militärischen Mitteln gegen den Aggressor Russland auszustatten, dessen mörderisches Tun an gleich mehreren Stellen mit Schrecken zu beobachten war.
Bis heute hält sich selbst in unverdächtigen Kreisen die Annahme, die DDR wäre ein Friedensstaat gewesen und die Nato sei ein Angriffsbündnis gewesen. Im Osten dürfte diese Annahme weiterhin mehrheitsfähig sein. Das hat nichts mit Fakten zu tun. Das sind Gefühlslagen. Und die sind irrational, also nicht wirklich erklärbar.
Ich jedenfalls bin froh, dass der Osten 1990 in der Frage der Nato einfach zur Seite gedrückt wurde mit seinen „Gefühlen“. Die Nato-Osterweiterung war die wichtigste Maßnahme, um Polen oder dem Baltikum Sicherheit zu garantieren. Die Forderung, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, scheiterte 2008 unter anderem an einer Ostdeutschen.
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