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Der Unwille zur MachtMehr Aggressivität wagen?

Es ist sicher gut, zu hinterfragen, wer wo wie und warum das Sagen hat. Aber heißt das umgekehrt, dass Machtpositionen grundsätzlich zu meiden sind?

Revolutionsangelegenheiten im Jahr 2000 auf dem Marktplatz in Göttingen Foto: Rainer Jensen/dpa/picture alliance

V or ziemlich genau 25 Jahren traf mich in einem Pub am Rand der Göttinger Fußgängerzone eine folgenschwere Erkenntnis. Ich war damals noch knietief in Adoleszenzangelegenheiten verstrickt, und vielleicht kennen Sie diesen Moment sogar: kurz vor der Pubertätshochwassermarke, wo es gerade am allerschlimmsten ist, die Welle aber bald brechen wird und sich alles beruhigt? Genau da spielt jedenfalls diese Geschichte, im Kreis meiner Freunde und ein paar Pints irischen Exportbiers.

Wir Dorfkids waren den Tag über mit großen Augen durch die linksradikale Unistadt geschlendert, hatten die Taschen voller Raubdrucke anarchistischer Literaturklassiker aus dem legendären Buchladen Rote Straße. Wir sprachen über die Zukunft, Weltschmerz und Krawallmusik, wir tranken auch ein bisschen zu viel. Und irgendwo in meinem so improvisierten wie unverlangten (und ehrlich gesagt auch kenntnisarmen) Monolog über Bakunin und Nestor Machno müssen mir wohl Zweifel erwacht sein darüber, ob das hier überhaupt irgendwen interessiere. Außer mir.

Heute würd­e man sagen, ich hätte mir Feedback erbeten. Treffender ist wohl, dass ich einfach kurz die Klappe gehalten und gefragt habe, ob ich die anderen gerade seit 20 Minuten volllabere, während sie eigentlich – so für sich – ganz andere Sorgen hätten. Die Antwort hieß einstimmig: „Ja.“

Kritik tut eben weh

Das war ein kleiner Schock für mich, aber es ging noch weiter, und ungefähr zwei Stunden später lag eine Generalabrechnung auf dem Tisch: darüber, wie ich mein Umfeld dominiere, Themen setze und Menschen einbestelle, wenn ich sie gerade für irgendein Projekt brauche, das wenig später auch wieder verpuffe, weil mir die Lust darauf vergangen sei.

Wenige Monate später gab es diesen Freundeskreis nicht mehr

Getroffen hat mich das nicht nur, weil Kritik ja immer ein bisschen schmerzt, sondern weil ja nicht grundlos diese billig kopierten Heftchen voller Herrschaftsfreiheit und Gewaltlosigkeit in meinen Parkataschen steckten. So wollte ich nicht sein, und ich beschloss noch in dieser Kneipe, kurz vor Zapfenstreich, jetzt sofort für immer damit aufzuhören.

Wenige Monate später gab es diesen Freundeskreis nicht mehr. Vielleicht weil nun eben gar keiner mehr wen „einbestellte“ oder Projekte anstieß – vielleicht aber auch, weil niemand mehr ständig Terror schob und endlich alle Luft hatten, sich um Dinge zu kümmern, an denen sie mehr Freude hatten. Ich weiß es wirklich nicht.

Vielleicht mache ich heute ein paar Sachen besser, ich versuche es jedenfalls. Wichtiger ist aber, dass ich seit damals vermieden habe, überhaupt wieder Teil irgendeiner Clique zu werden, und mir da, wo Strukturen dann doch nötig waren (ob auf Arbeit, im Hobby oder in Revolutionsangelegenheiten), Hintertüren offenzuhalten. Mir sind die Machtstrukturen – gerade in Jungsgruppen – bis heute zuwider, und wahrscheinlich habe ich auch ein bisschen Angst vor mir selbst. Zumindest traue ich mir nicht so recht über den Weg, was das angeht.

Und weiter?

Es macht nichts, dass diese Geschichte kein Happy End hat. Schlimm ist hingegen, dass es überhaupt kein Ende gibt. Ich kam zum Beispiel gerade wieder auf dieses Erlebnis, weil ich letzte Woche zwei besoffene Fußballidioten vor der Regionalexpresstür entschieden wegmackern musste, um dem Kind an meiner Hand zu zeigen, dass aggressive Arschlöcher eben nicht automatisch als Sieger vom Platz gehen.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Seitdem frage ich mich, ob ich selbst eins war – und was überhaupt die Alternative ist im Streit mit Autoritären, die ja auch in anderen Kontexten nicht verschwinden, nur weil einer nicht mehr mitspielen will. Nicht nur im Vorbeilaufen an der Bahntür, sondern eben auch langfristig in Arbeit, Hobby und Revolutionsangelegenheiten.

Vielleicht ist das ja die sich annahende Pointe dieser noch offenen Geschichte: der Versuch, grundsätzlich und mit Fingerspitzengefühl wieder mehr Aggressivität zu wagen? So ganz richtig fühlt sich das allerdings auch noch nicht an.

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Redakteur und CvD
Jahrgang 1982, schreibt aus dem Bremer Hinterland über Kultur und Gesellschaft mit Schwerpunkten auf Theater, Pop & schlechter Laune.
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4 Kommentare

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  • Es gehört wohl zum älter werden, zu erkennen, dass in der Jugend nicht Alles, das man getan hat, besonders schlau war. In manchen Zusammenhängen wog der Unsinn vielleicht noch schwerer.



    Neben der Selbsterkenntnis sind so auch unreflektierte und unsinnige Ideen von Menschen im heute heranwachsenden Alter mit Nachsicht bewertbar geworden.



    "Aggressivität wagen" ist allerdings ein Irrweg.



    Egal ob Russland, Ukraine, Israel, Gaza - Aggressivität ist bei Allen Akteuren vorhanden, doch es ist bereits jetzt absehbar, dass Keiner der Beteiligten sein Ziel erreichen wird.



    Einzig die Bauern gewinnen in Brüssel durch Einsatz von Aggressivität und Frau von der Leyen hat sich, nach Ihrem Kniefall, heute zur Wiederwahl entschlossen.

  • Spannender Artikel. Gruppendynamiken bei Jugendlichen sind oft anstrengend.

  • Vielen lieben Dank für diese ehrlichen Gedanken. Wenn ich nur nach meinem Empfinden gehe, ist das die Nachdenklichkeit, die angemessen ist - weil so vieles unklar ist und trotzdem nicht alles egal ist.

  • Danke für den Text! Ich finde es sehr mutig und nötigt mir erheblichen Respekt ab.



    Du beschreibst sehr reflektiert und ehrlich deinen Ursprung, ohne den du sicher nicht diesen Text geschrieben hättest.



    Ich glaube wir sind ungefähr gleich alt, und die Geschichte kommt mir bekannt vor.

    Hinter mir im Bücherregal stehen immer noch die alten Bücher und haben Staub angesetzt. Mühsam, Souchy, Stirner, Ret Marut, Kropotkin usw und so fort. Manchmal blätter ich noch gern drin rum und erinner mich wie ich nach Spanien gefahren bin oder nach St.Imir. Naja und wie ich jung war. Und wild, und manchmal ein Arschloch. Zugegeben.

    Jetzt argumentiere ich hier auf der Seite gern in den Kommentaren für Demokratie, Achtung von Andersdenkenden und Gewaltlosigkeit. Und das militante Arschloch, dass gibts nicht mehr. Wegrefklektiert oder einfach rausgewaschsen, wer weiß. Auch die Staatsanwälte kennen mich nicht mehr mit Vornamen. Aber trotzdem glaube ich noch an die Eigen-Macht der Menschen. Und das es unfassbar wichtig ist sie zu erhalten und zu verteidigen. (Und manchmal sogar erst zu entfachen) Auch wenn dann Konflikte unvermeidlich werden.

    Ich würde lieber sehen, dass wir die Menschen zur Stärke im Konflikt "ermuntern". Ja zum Konflikt selbst, damit eben nicht immer die Stärkeren ihren Willen bekommen.



    Nur müssen wir dabei darauf achten, das die Eigen-Macht nicht missbraucht wird.



    Sozusagen den Menschen befreien, ohne ihn zu entfesseln.



    Naja und weil die Bücher da über mir stehen und ich sie alle geliebt hab, glaub ich immer noch daran das eine Welt azs zum Mensch sein ermächtigter Wesen nicht zur Dystopie führen muss.

    Ich glaube man kann vieles sein, und vieles gleichzeitig. Nur Machtlos sollte er niemals sein.

    Danke für den Beitrag!